IMI-Studie 2008/05 - in: AUSDRUCK (April 2008)

Der NATO-Gipfel in Bukarest: Runderneuerung zum Kriegs- und Besatzungsbündnis


von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 10. April 2008

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Das Nordatlantische Kriegsbündnis steht vor den größten Herausforderungen seiner Geschichte. Einerseits droht der Krieg in Afghanistan verloren zu gehen – von anderen heiklen Themen wie Kosovo oder dem Verhältnis zu Russland ganz zu schweigen; andererseits ist man sich darüber einig, dass das Strategische Konzept aus dem Jahr 1999 einer Generalüberholung bedarf, um künftig globale Kriegs- und Besatzungseinsätze deutlich effektiver durchführen zu können.

Vor diesem Hintergrund werden innerhalb der Allianz derzeit intensiv verschiedene Vorschläge zur Runderneuerung des Bündnisses diskutiert. Den Anfang machten im Januar 2008 fünf hochkarätige NATO-Strategen – unter ihnen der frühere Oberkommandierende der Allianz, John Shalikashvili und der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärkomitees, Klaus Naumann -, in einem 150seitigen Papier, mit dem das bislang ambitionierteste Konzept für eine aggressive Neuausrichtung des Bündnisses in die Debatte eingespeist wurde. Von der Forderung nach atomaren Präventivschlägen bis hin zu tief greifenden institutionellen Veränderungen lässt das Dokument, im Folgenden als Naumann-Papier zitiert, kaum einen Stein auf dem anderen.[1]

Neben der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang Februar war es darüber hinaus vor allem der NATO-Gipfel in Bukarest Anfang April 2008, auf dem wichtige Weichenstellungen getroffen wurden. So fiel dort die Entscheidung bis 2009 Kroatien und Albanien ins Bündnis aufzunehmen sowie der Ukraine und Georgien erstmals eine Beitrittszusage zu gegeben. Im Rahmen so genannter Stabilisierungseinsätze – vor allem in Afghanistan – soll künftig die Aufstandsbekämpfung zum Schwerpunkt der operativen Planung werden. Gleichzeitig wurde ein Aktionsplan verabschiedet, mit dem Maßnahmen zum Ausbau der NATO-Besatzungskapazitäten implementiert werden sollen. Auch die Pläne zum Aufbau einer flächendeckenden NATO-Raketenabwehr wurden in Bukarest konkretisiert, trotz der gegenwärtig kaum abschätzbaren politischen und ökonomischen Folgen dieser Entscheidung. Schließlich gaben die Staats- und Regierungschefs auf dem Gipfel in Bukarest die Erarbeitung eines Richtliniendokuments in Auftrag, das bis zum nächsten Gipfel im April 2009 fertig gestellt sein soll. Offensichtlich ist es das Ziel, die Runderneuerung der Allianz pünktlich bis zu ihrem 60jährigen Jubiläum in feste Formen zu gießen. Ob damit das aktuelle Strategische Konzept aus dem Jahr 1999 abgelöst wird, ist gegenwärtig noch unsicher, da der neuen US-Regierung, die erst Januar 2009 ins Amt kommt, nur eine sehr kurze Einarbeitungszeit zur Verfügung steht.[2] Die Richtung aber, in die sich das Bündnis mit allen gegenwärtig debattierten und bereits auf den Weg gebrachten Maßnahmen entwickelt, ist offensichtlich, geplant ist eine „grundsätzliche, langfristige und irreversible Neuausrichtung der NATO von einem Defensiv- zu einem Offensivbündnis.“[3]

1. Atomare Präventivschlagsstrategie

Obwohl der jüngste US-Geheimdienstbericht eindeutig hervorhob, der Iran habe spätestens seit 2003 sein Atomwaffenprogramm aufgegeben (selbst für die Existenz eines solchen Programms bis zu diesem Zeitpunkt wird keinerlei schlüssiger Beweis geliefert), erweist sich US-Präsident Bush, der den Iran weiterhin als ernste Gefahr bezeichnet, diesbezüglich als vollkommen beratungsresistent. Geradezu krampfhaft versuchten die US-Vertreter auf der Münchner Sicherheitskonferenz, die Eindeutigkeit des Berichts zu verwässern und für die Beibehaltung des aggressiven Kurses gegenüber Teheran zu werben.

Auch die fünf NATO-Strategen stehen der US-Regierung in nichts nach.
Sie geben an, eine iranische Atombewaffnung müsste aufgrund folgender Begründung mit buchstäblich allen Mitteln verhindert werden: „Eine iranische Nuklearwaffenkapazität wäre eine außerordentliche strategische Gefahr. [Das Land] würde damit eine Region dominieren, die über die größten Öl- und Gasreserven der Welt verfügt.“ (Naumann-Papier: S. 45) Da tief verbunkerte ABC-Waffen mit konventionellen Mitteln nicht zerstört werden können, ist deren Vernichtung über einen atomaren Ersteinsatz schon länger fester Bestandteil der US-Planungen – gerade hinsichtlich des Irans wird dies von Washington offenbar ernsthaft erwogen.[4] Die dahinter stehende groteske Logik, die Verbreitung von Atomwaffen durch deren Ersteinsatz verhindern zu wollen, haben sich nun auch besagte NATO-Strategen zu Eigen gemacht: „[D]ie Gefahr einer weiteren Verbreitung von Atomwaffen ist akut. […] Diese Entwicklung muss unter allen Umständen verhindert werden. […] Der Ersteinsatz von Nuklearwaffen muss im Arsenal der Eskalation das ultimative Instrument bleiben, um den Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu verhindern.“ (Naumann-Papier: S. 95ff) Offensichtlich trifft dieser Vorschlag nicht nur in den USA, sondern auch bei hohen EU-Offiziellen, wie dem Büroleiter des EU-Außenbeauftragten Javier Solana, Robert Cooper, auf Zustimmung: „Vielleicht werden wir eher als alle anderen Atomwaffen einsetzen, aber ich würde mich hüten, das laut zu sagen.“[5] Viel sagend ist in diesem Zusammenhang auch, dass Solana sich auf direkte Nachfrage explizit weigerte, sich von den Aussagen seines Büroleiters deutlich zu distanzieren.[6]

Um den absurden – und wissenschaftlich widerlegten[7] – Versuch zu unternehmen, die Folgen eines Atomwaffeneinsatzes auf ein „erträgliches“ Maß zu reduzieren, planen die USA schon länger „kleine“ Atomwaffen (mini nukes) mit verringerter Sprengkraft zu entwickeln. Offensichtlich gewinnt diese Idee nun auch bei den NATO-Verbündeten an Attraktivität: „Neben den offiziellen Themen wird der NATO-Gipfel in Bukarest nach Informationen der Pariser Zeitung ‚Le Canard enchainé‘ hinter den Kulissen auch über den Einsatz miniaturisierter Atombomben debattieren. […] Mit den präventiven Atomschlägen solle die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen in Zeiten des Terrorismus verhindert werden. Die Idee werde von mehreren NATO-Militärführern unterstützt. Dabei werde ein Einsatz gegen einen als gefährlich eingeschätzten Staat nicht ausgeschlossen. Die USA haben ‚Mini-Nukes‘ entwickelt. Frankreich hatte einst darauf verzichtet. Präsident Nicolas Sarkozy hatte am 21. März bei einer Rede zur Atomdoktrin seines Landes erklärt, Kernwaffen erlaubten, einem Aggressor ‚eine Warnung’ zu schicken.“[8]

2. NATO-Raketenabwehr: „40 Milliarden und mehr“

Die US-amerikanische Nuklearpolitik, aber auch die der NATO, hat in Moskau die Alarmglocken angehen lassen, umso mehr, da sich die NATO-Russland-Beziehungen seit einiger Zeit im freien Fall befinden. Aus diesem Grund sieht Russland in jeglicher Rüstungsanstrengung eine direkte Bedrohung. Schon bei der Sicherheitskonferenz Anfang 2007 war die schwere Krise im beiderseitigen Verhältnis unübersehbar geworden, nachdem Wladimir Putin in einer seit dem Kalten Krieg nicht mehr vorgekommenen Schärfe den Westen für seine Kriegspolitik attackiert hatte.

Damals waren die US-amerikanischen Pläne, Teile ihres Raketenabwehrsystems in Polen und der Tschechischen Republik aufbauen zu wollen, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Der Grund hierfür ist, dass es mittlerweile zahlreiche Hinweise gibt, die den Verdacht erhärten, dass die geplanten Installationen, entgegen den offiziellen Verlautbarungen, zur Abwehr iranischer Raketen wenig Sinn machen. Da die Einrichtungen in Osteuropa jedoch die Kapazitäten des US-Abwehrschilds zur Ausspionierung und Zerstörung russischer Raketen erheblich verbessern, ja die Architektur genau hierauf angelegt zu sein scheint, wertet Moskau das Vorhaben Washingtons richtigerweise als einen weiteren Versuch, die atomare Oberhoheit zu erlangen.[9]

Obwohl Moskau mit ernsten Konsequenzen droht, sollten diese Raketenabwehrvorrichtungen in Osteuropa aufgebaut werden, haben sich die Bündnismitglieder auf dem April-Gipfel in Bukarest darauf verständigt, das US-Projekt zu befürworten. Noch problematischer ist, dass mittlerweile auch die europäischen NATO-Staaten den Aufbau eines NATO-Raketenabwehrschildes – wohlgemerkt zusätzlich zu den US-Installationen – befürworten. Schon auf dem NATO-Gipfel in Prag im Jahr 2002 hatte das Bündnis eine Raketenabwehr-Machbarkeitsstudie („Missile Defense Feasibility Study“) in Auftrag gegeben. Da mit der Anfertigung ausgerechnet ein Konsortium aus an einem solchen Schild naturgemäß hochinteressierten Rüstungsfirmen betraut wurde[10], verwundert es nicht, dass die 10.000seitige und bis heute geheim gehaltene Studie zu dem Ergebnis gelangte, eine NATO-Raketenabwehr sei prinzipiell technisch realisierbar. Dabei wurden drei Varianten ins Spiel gebracht. Eine „Low-Cost“ Version, die allerdings lediglich die Vernetzung bestehender, primär taktischer Fähigkeiten umfasst und keine Stationierung irgendwelcher Abwehrraketen vorsieht. Während die Kosten hierfür mit mehreren hundert Millionen noch vergleichsweise moderat veranschlagt wurden, taxiert die Studie bereits die mittlere Variante mit einer Abschussanlage und begrenzten Abfangkapazitäten auf 6-8 Mrd. Euro. Die Kosten für die „High-End Lösung“, mit der ein kompletter Schutz des Territoriums anvisiert wird, schätzen die Rüstungsunternehmen auf 20 Mrd. Euro.[11]

In der Abschlusserklärung zum Gipfel in Bukarest (Ziffer 37) wurde nun bekräftigt, ein System am oberen Ende des in der Machbarkeitsstudie beschriebenen Spektrums aufbauen zu wollen: „Die Verbreitung ballistischer Raketensysteme stellt eine wachsende Gefahr für die Truppen, das Territorium und die Bevölkerung der Alliierten dar. Eine Raketenabwehr bildet einen Teil einer breiten Antwort, um diesen Gefahren zu begegnen. […] Wir beauftragen den Ständigen NATO-Rat, Optionen für eine umfassende Raketenabweharchitektur auszuarbeiten, um das gesamte Territorium und die Bevölkerung der Allianz, die nicht vom US-Schild erfasst werden, abzudecken. Sie sollen auf unserem Gipfel im Jahr 2009 überprüft werden, um jede künftige politische Entscheidung zu fundieren.“ Nachdem aber die Rüstungsindustrie in ihren Kalkulationen erfahrungsgemäß immer einen zu niedrigen Betrag ansetzt, verwundert es nicht, dass die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik in einer Studie zu dem Ergebnis gelangt, ein umfassendes NATO-Raketenabwehrsystem werde „40 Milliarden Euro oder mehr“ kosten.[12] Berechnet man die bisherigen Umlagekosten, wie sie für kleinere Projekte in diesem Bereich bislang praktiziert wurden, könnte sich allein der deutsche Beitrag auf gigantische 7.2 Mrd. Euro belaufen.[13]

Hiermit wurde also die Entscheidung auf den Weg gebracht, auch im NATO-Rahmen enorme Summen in ein nicht nur technisch fragwürdiges, sondern zudem auch politisch hochgradig destabilisierendes Projekt zu investieren. Denn sehenden Auges riskieren die NATO-Staaten, dass es zu einem neuerlichen atomaren Wettrüsten kommt und bestehende Rüstungskontrollverträge in dieser Auseinandersetzung endgültig zerrieben werden. Schon länger hat Moskau angekündigt, auf die Raketenabwehrpläne mit der Aufrüstung seines Raketenarsenals (v.a. die Topol-M) zu reagieren und wichtige Rüstungskontrollverträge (sowohl den INF- als auch den KSE-Vertrag) auszusetzen. Die weiteren Entscheidungen des Bukarester Gipfels dürften hier alles andere als eine vertrauensbildende Maßnahme gewesen sein.

3. NATO-Erweiterung in den postsowjetischen Raum

Auch was die Frage einer Aufnahme weiterer Mitglieder in das Bündnis anbelangt, entzündete sich ein heftiger Streit. Weit gehend unproblematisch war die Erweiterung der NATO um Kroatien und Albanien, die auf dem Bukarester Gipfel beschlossen wurde (Mazedoniens Beitritt scheiterte aufgrund des Namensstreits am griechischen Veto). Vor allem die von George W. Bush im Vorfeld des Gipfels vehement eingeforderte Aufnahme der Ukraine und Georgiens stieß aber auf heftigen russischen Widerstand. Wladimir Kotenew, der russische Botschafter in Deutschland, gab diesbezüglich an: „Es ist das Problem des Heranrückens eines militärischen Blocks. Und da brauchen wir nicht miteinander zu tricksen, sondern müssen klar sehen, es geht nicht um eine Kirche oder friedensstiftende Glaubensgemeinschaft, sondern um eine militärische Allianz.“[14] Ähnlich deutlich äußerte sich der russische Außenminister Sergej Lawrow, als er sich beklagte, die Ukraine und Georgien würden „schamlos in die NATO gezerrt.“ Die USA versuchten immer energischer, „das postsowjetische Territorium zu infiltrieren.“[15]

Zwar konnte sich Washington mit seiner Maximalforderung, die Ukraine und Georgien schon 2009 aufzunehmen, auf dem Gipfel in Bukarest nicht durchsetzen, allerdings wurde der Beitritt beider Länder dort erstmals offiziell beschlossen: „Wir haben uns gestern darauf geeinigt, dass diese Länder Mitglieder der NATO werden“, heißt es lapidar in der Gipfelerklärung (Ziffer 22). Somit dürfte das weitere Heranrücken des Militärbündnisses an Russlands Grenzen nur noch eine Frage der Zeit sein.

Da die NATO in kaum einem Punkt bereit ist, russische Bedenken ernsthaft zu berücksichtigen, wird das Misstrauen Moskaus gegenüber der Militärallianz immer größer. So äußerte sich Wladimir Putin schon im unmittelbaren Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz folgendermaßen: „Es wurde bereits ein neues Wettrüsten entfesselt. Und wir waren nicht diejenigen, die angefangen haben“, so Putin. „Die Nato expandiert. Wir gaben unsere Stützpunkte auf Kuba und in Vietnam auf. Und was bekamen wir dafür? Neue amerikanische Stützpunkte in Rumänien und Bulgarien. […] Wir sind zu Vergeltungsmaßnahmen gezwungen. In den nächsten Jahren soll die Produktion neuer Waffensysteme aufgenommen werden, die den Verteidigungsmöglichkeiten anderer Staaten in nichts nachstehen und in einigen Fällen sogar noch besser sind.“[16]

Auf diese Drohung mit einem Wettrüsten reagierte der designierte republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain postwendend, indem er unverblümt forderte, Russland aus der G8 hinauszuwerfen: „Wir brauchen eine gemeinsame Linie des Westens gegen ein revanchistisches Russland, dessen Führer offenbar eher einen alten Konfliktkurs einschlagen wollen, als sich dem demokratischen Frieden des Westens anzuschließen. Wir sollten dafür sorgen, dass die G 8 wieder ein Klub führender Marktdemokratien wird: Er sollte Indien und Brasilien aufnehmen, aber Russland ausschließen.“[17]

4. Kosovo – die unparteiische Zerschlagung Serbiens
Eine Abspaltung des Kosovo wird in Serbien sowohl von der Bevölkerung als auch dem kompletten politischen Spektrum kategorisch abgelehnt. Selbst der pro-EU-Mann Boris Tadic, den Brüssel kurz vor den serbischen Wahlen Anfang Februar 2008 erfolgreich gegen seinen pro-russischen Herausforderer Tomislav Nikolic unterstützte, warnte in seiner Auftaktrede auf der Münchner Sicherheitskonferenz nachdrücklich vor einem solchen Schritt: „Wir können die Zerstückelung unseres Landes nicht akzeptieren. In dieser Frage unterscheiden wir uns von keinem anderen international anerkannten Staat. […] Hierbei handelt es sich um ein Kernprinzip, die Grundlage unseres nationalen Interesses. Und dies wird sich auch nicht ändern. […] Der Präzedenzfall, der durch eine Teilung Serbiens gegen seinen Willen geschaffen würde – und genau dies bedeutet eine aufgezwungene Unabhängigkeit des Kosovo in Wahrheit – könnte wiederum zur Eskalation vieler Konflikte, zum Wiederaufflammen bislang eingefrorener Konflikte und zur Anfachung wer weiß wie viel neuer Konflikte führen. […] Lassen sie mich hier einige deutliche Worte finden. Der einzige Weg, Streitigkeiten im Europa des 21. Jahrhundert zu schlichten, ist durch Verhandlungen. […] Sollte es in den nächsten Wochen nicht zu ernsthaften Verhandlungen kommen, so befürchte ich, dass alle Parteien hierfür schlussendlich einen schrecklich hohen Preis zahlen werden.“[18] Einzig Russland unterstützt die serbische Haltung, wie Wladimir Putin auf dem Bukarester NATO-Gipfel unterstrich: „Russland nimmt wie bislang eine feste Position in Bezug auf den Schutz der Grundlagen des Völkerrechtes ein. Wir waren wiederholt mit einer Situation konfrontiert, da ein Schlag gegen das Völkerrecht geführt wurde, so beim Bombardement von Jugoslawien und bei der einseitigen Anerkennung des Kosovo.“[19]

Da man also fest mit schweren Unruhen rechnete, die dann ja auch eintraten, erhöhte die KFOR bereits vor der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo vom 17. Februar ihr Kontingent und probte in mehreren Manövern eine bewaffnete Auseinandersetzung mit Serbien. Vor diesem Hintergrund ist es geradezu zynisch, wenn die Abschlusserklärung des NATO-Gipfels in Bukarest (Ziffer 7) die KFOR, deren Aufgabe es explizit ist, die völkerrechtswidrige Abspaltung des Kosovo militärisch abzusichern, mit folgenden Worten bedacht wird: „Wir loben die schnelle, unparteiliche und effektive Perfomance der KFOR angesichts der Gewalt.“ Noch zynischer wird es, wenn die NATO in ihrer Gipfelerklärung (Ziffer 43) einerseits die Zerschlagung Serbiens begrüßt, andererseits im Fall der pro-russischen Sezessionsbewegungen, v.a. in Georgien (Abchasien und Südossetien) und Moldawien (Transnistrien), das Prinzip der territorialen Integrität hochhält, das sie im Fall des Kosovo gerade mit Füßen getreten hat: „Wir sind besorgt über die anhaltenden regionalen Konflikte im Südkaukasus und Moldawien. Unsere Länder unterstützen die territoriale Integrität, Unabhängigkeit und Souveränität von Armenien, Aserbaidschan, Georgien und Moldawien.“

5. Afghanistan: „Operationsschwerpunkt Aufstandsbekämpfung“

„In Afghanistan steht die Glaubwürdigkeit der Nato auf dem Spiel“, so einer der Co-Autoren des Naumann-Papiers, der frühere niederländische Oberkommandierende Henk van den Bremen: „Die Nato steht am Scheideweg und läuft Gefahr zu scheitern.“[20] In der Tat, verdreifachten sich die militärischen Zusammenstöße von 2005 auf 2006 und erhöhten sich im vergangenen Jahr nochmals um etwa 30%.[21] Die NATO selbst räumte in einem Bericht ein, die Auseinandersetzungen hätten 2007 noch einmal zugenommen, allein die Vorfälle mit Sprengfallen hätten sich im Vergleich zum Vorjahr nahezu verdoppelt (von 1331 auf 2615).[22]

Angesichts dieser Eskalation schlug der Senlis Council, ein kanadischer Think Tank, in einem neuen Bericht Ende 2007 Alarm, da die Widerstandsgruppen weiter auf dem Vormarsch seien und die „Sicherheitslage mittlerweile die Dimension einer echten Krise angenommen hat.“[23] Der Think Tank kommt dabei zu dem Ergebnis, der große Zulauf für die Aufständischen hänge maßgeblich damit zusammenhängt, dass die „internationalen Entwicklungs- und Wiederaufbaubemühungen unterfinanziert und ohne signifikante Auswirkungen auf die lokalen Lebensbedingungen waren.“[24] Tatsächlich ist das Urteil eines aktuellen Afghanistan-Berichts des UNDP vernichtend. Die humanitäre Situation habe sich seit 2002 verschlechtert, 61% der Bevölkerung sei weiterhin unterernährt und 68% hätten keinen Zugang zu Trinkwasser. Auch die Situation der Frauen habe sich in den letzten Jahren nicht relevant verbessert.[25] Dies ist umso relevanter, da der Senlis Council angibt, der Großteil des Widerstands setze sich nicht aus islamistischen Fundamentalisten zusammen, sondern aus „armutsgetriebenen ‚Graswurzelgruppen'“.[26]

Angesichts der massiven Eskalation hatte das Bündnis schon im Vorfeld des NATO-Gipfels in Bukarest das ISAF-Kontingent von 31.000 (November 2007) auf 47.000 Soldaten (März 2008) drastisch erhöht. Auf dem NATO-Gipfel wurde nun eine gesonderte Afghanistan-Erklärung verabschiedet, in der sich die Bündnisstaaten auf eine weitere Intensivierung ihres Kriegsengagements am Hindukusch verständigten.[27] Obwohl die detaillierten Afghanistan-Absprachen geheim gehalten werden, deutet vieles darauf hin, dass die NATO die US-Strategie im Irak übernommen hat, die der Aufstandsbekämpfung höchste Priorität einräumt: „Erst werden die Bemühungen verstärkt, die Aufständischen militärisch zu schlagen und die Sicherheitskräfte Afghanistans zu stärken. Dann soll der Wiederaufbau gestärkt werden, damit man gehen kann. Damit würde es auch in Afghanistan auf absehbare Zeit keinen Vorrang für den zivilen Wiederaufbau oder auch nur ein Gleichgewicht von Militäreinsatz und zivilem Aufbau geben.“[28] Hierfür spricht auch, dass die USA sich dafür einsetzen, den derzeitigen NATO-Kommandeur im Irak, David Petraeus, Autor des US-Handbuchs zur Aufstandsbekämpfung (Field Manual 3-24), zum neuen NATO-Oberbefehlshaber zu machen.[29] Damit entspricht die gegenwärtige Entwicklung ziemlich genau den Forderungen einer im Januar 2008 erschienenen Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik. Sie plädierte dafür, die US-Kriegsstrategie im Irak zu übernehmen und damit den „Operationsschwerpunkt Aufstandsbekämpfung“ in den Mittelpunkt der Kriegsplanungen der NATO, aber auch Deutschlands zu rücken.[30] Hierfür bedarf es aber weiterer Truppenerhöhungen, weshalb v.a. Deutschland erfolgreich unter Druck gesetzt wurde, sowohl Qualität als auch Quantität seiner Beteiligung am ISAF-Einsatz zu erhöhen.

Deutschland wird vor allem für seine Ablehnung scharf kritisiert, sich nicht an der Kriegsführung im heftig umkämpften Süden beteiligen zu wollen (der Tornado-Kompromiss reichte offenbar nicht aus, um die Verbündeten zufrieden zu stellen). Diese Sondervorbehalte (sog. caveats), so die Kritik, führten zu einer extrem ungerechten Lastenverteilung im Bündnis. „Es ist an der Zeit für Deutschland zu entscheiden, ob es ein verlässlicher Partner sein will“, kritisierte Klaus Naumann. Indem sie auf Sonderregeln bestehe, leiste die Bundesregierung einen Beitrag zur „Auflösung der Nato.“[31] Auch US-Verteidigungsminister Robert Gates kritisierte Deutschland auf der Münchner Sicherheitskonferenz recht unverblümt: „In der Nato sollten nicht einige Verbündete den Luxus haben, sich nur für stabilisierende und zivile Operationen zu entscheiden und damit andere Verbündete zu zwingen, eine unangemessen große Last beim Kämpfen und Sterben zu tragen.“[32]

Selbst in Nordafghanistan, wo Deutschland die Führungsrolle innehat, überließ man den Norwegern und ihrer Quick Reaction Force (QRF) den Großteil der hochintensiven Kampfhandlungen. Um den Verbündeten nun entgegenzukommen, plädierte der Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, schon im November 2007 dafür, Deutschland solle die QRF bis Mitte 2008 von Norwegen übernehmen.[33] Zum Aufgabenspektrum dieser Schnellen Eingreiftruppe gehört laut Bundeswehr nicht nur der „Einsatz gegen militante Kräfte im Einsatzgebiet, die die Sicherheitslage gefährden“, sondern auch „gewaltbereite Menschenmengen mit nichtletalen Mitteln unter Kontrolle zu bringen.“[34] Bei der QRF, deren Übernahme durch Deutschland mittlerweile beschlossen ist, handelt es sich also um eine Art „Feuerwehrtruppe“, die dann ausrückt, wenn sich die militärische Lage zuzuspitzen droht, was mittlerweile auch in Nordafghanistan immer häufiger der Fall ist. So fand unter deutscher Führung und logistischer Beteiligung der Bundeswehr im Herbst 2007 der QRF-Einsatz Harekate Yolo statt, bei dem die Kampfhandlungen am Boden von norwegischen Soldaten übernommen wurden. Die Tragweite des Einsatzes besteht darin, dass er symbolhaft für den Richtungswandel hin zur offensiven Kriegführung steht, woran sich in Kürze auch Bundeswehrsoldaten an vorderster Front beteiligen werden: „Harekate Yolo II markiert einen Wendepunkt in der militärischen Operationsführung der ISAF im Norden Afghanistans. Militärische Kräfte hatten sich bis dahin vorrangig auf die Durchführung von Patrouillen beschränkt. […] Künftig wird der Fokus mehr auf gemeinsamen, gezielten Offensivoperationen mit den afghanischen Sicherheitskräften liegen.“[35]

Neben dieser qualitativen Veränderung des deutschen Einsatzes scheint auch die Aufstockung des Truppenkontingentes beschlossene Sache zu sein: „Die Bundeswehrmission in Afghanistan soll nach Plänen im Verteidigungsministerium deutlich ausgeweitet werden. Nach dpa-Informationen in München sollte aus militärischer Sicht die Obergrenze von jetzt 3500 auf 5000 bis 6000 Soldaten aufgestockt werden. Dies sei aber vermutlich politisch in Deutschland nicht durchsetzbar. Eine Anhebung auf 4500 sei aber dringend nötig, um Handlungsspielraum zu haben, hieß es. Ferner wolle das Ministerium das Einsatzgebiet um eine Provinz im Westen Afghanistans ausdehnen.“[36] Damit wird das Mandat jedoch lediglich an die Realität vor Ort angepasst, denn die QRF operierte im Rahmen von Harekate Yolo bereits in Westafghanistan. Entgegen den ursprünglichen Meldungen, die Ausweitung des Einsatzes werde noch im Frühsommer erfolgen, scheint es nun darauf hinauszulaufen, dass dies erst im Zuge der turnusgemäßen Mandatsverlängerung im Herbst erfolgen wird. Gleichzeitig soll das Mandat nicht wie bisher für 12 sondern für 18 oder gar 24 Monate erteilt werden, um so zu verhindern, dass dieses Thema in den Wahlkampf 2009 hineinspielt.

Mit einer klassischen Salamitaktik verschiebt sich damit der deutsche Einsatz immer weiter von der ursprünglich angepriesenen Stabilisierungs- und Wiederaufbaumission in Richtung eines offensiven Kampfeinsatzes. Auch Verteidigungsminister Franz Josef Jung unterstrich diese Entwicklung in seiner Rede bei der Kommandeurstagung Mitte März 2008: „Aber auch der Charakter unserer Einsätze wird sich den Herausforderungen anpassen müssen! Neben den Schwerpunkten der Stabilisierung und militärischen Absicherung von Wiederaufbaumaßnahmen werden künftig mit der Aufgabe ‚Herstellen von Sicherheit‘ robustere Maßnahmen ins Zentrum rücken. Gerade in Afghanistan müssen wir uns auf ein schwieriges Umfeld einstellen.“[37]

6. Zivil-militärisches Besatzungskonzept

Offensichtlich liegt der derzeitige NATO-Operationsschwerpunkt auf der militärischen Aufstandsbekämpfung im Rahmen so genannter Stabilisierungs- bzw. Besatzungsmissionen, die künftig die Kernaufgabe des Bündnisses darstellen sollen.[38] Jedoch hat sich innerhalb des Bündnisses ein Konsens herausgebildet, dass für deren Gelingen militärische Fähigkeiten allein nicht ausreichen. Deshalb ist es erforderlich, zivile Fähigkeiten (Verwalter, humanitäre Helfer, Juristen, etc.) für das reibungslose Funktionieren dieser quasi-kolonialen Besatzungsmissionen nutzbar zu machen. Hiermit sollen zivile Kapazitäten dauerhaft dem Kommando und der Oberhoheit des Militärs unterstellt und für eine militärische Interessensdurchsetzung instrumentalisiert werden, wie aus der NATO-Definition der Zivil-militärischen Zusammenarbeit (MC 411/1) eindeutig hervorgeht.[39]

Im Naumann-Papier (S. 131) wird dieser Überlegung unter dem Stichwort des „integrierten Ansatzes“ Rechnung getragen. „Wir glauben fest daran, dass man einen bewaffneten Konflikt nicht mehr länger ausschließlich dadurch gewinnen kann, dass man so viel wie möglich Feinde tötet oder gefangen nimmt oder indem man seine Machtbasis zerstört. Die NATO benötigt mehr nicht-militärische Fähigkeiten, […] die Teil einer integrierten Strategie sein müssen: eine in der nicht-militärische Mittel mit maximaler Präzision, Exaktheit und Integration koordiniert und disloziert werden.“ Das NATO-Schwergewicht Hans Binnendijk fasste die diesbezüglichen Diskussionen innerhalb der NATO folgendermaßen zusammen: „Die Erfahrung zeigt, dass Konfliktbeilegung die Anwendung aller Elemente nationaler und internationaler Macht erfordert – politischer, diplomatischer, ökonomischer, finanzieller, informeller, sozialer, kommerzieller wie auch militärischer. Um Krisen zu bewältigen, sollte die NATO einen Umfassenden Ansatz (Comprehensive Approach) übernehmen, der den gleichzeitigen Einsatz aller zur Verfügung stehenden zivilen und militärischen Elmentente vorsieht, um Feindseligkeiten zu beenden [und] die Ordnung wiederherzustellen.“[40]

Schon auf dem Gipfel in Istanbul im Jahr 2004 hatte man sich darauf verständigt, die Ausarbeitung eines solchen Besatzungskonzeptes ganz oben auf die Prioritätenliste zu setzen (seinerzeit noch unter dem Namen „Concerted Planning and Action“). Zwei Jahre später auf dem Treffen in Riga wurde schließlich die Ausarbeitung eines „Aktionsplans“ beschlossen, mit dem das Zivil-militärische Besatzungskonzept – nun „Comprehensive Approach“ genannt – konkretisiert werden sollte. Dieser Aktionsplan wurde nun mit der Erklärung zum Gipfel in Bukarest (Ziffer 11) offiziell verabschiedet: „Wir haben einen Aktionsplan verabschiedet, der eine Reihe pragmatischer Vorschläge beinhaltet, den Beitrag der NATO zu einem Umfassenden Ansatz auszuarbeiten und zu implementieren. Diese Vorschläge beinhalten das Ziel, die kohärente Anwendung der NATO-eigenen Instrumente zum Krisenmanagement zu verbessern und die praktische Zusammenarbeit mit allen Akteuren auf allen Ebenen auszubauen, wo immer dies nötig ist, einschließlich Maßnahmen zur Unterstützung von Stabilisierungs- und Wiederaufbauoperationen. Die Vorschläge beinhalten Bereiche wie die Planung und Durchführung von Operationen; Training und Ausbildung; und die verbesserte Kooperation mit externen Akteuren. Wir beauftragen den Ständigen NATO-Rat damit, diesen Aktionsplan als eine Angelegenheit höchster Priorität zu implementieren.“

Zwar sind die konkreten Inhalte des Aktionsplans geheim, allerdings kursieren verschiedene Vorschläge, die Rückschlüsse zulassen, worin seine zentralen Komponenten bestehen könnten. So schlägt das Naumann-Papier (S. 132) vor, dass die Europäische Union der NATO ihre „zivilen“, sprich paramilitärischen Polizeieinheiten (European Gendarmerie Force) für „Stabilisierungsoperationen“ zur Verfügung stellt. Noch weiter geht der Vorschlag von Peter van Hamm im Hausblatt der Allianz, dem NATO-Review. Er plädiert für ein neues Grundsatzarrangement zwischen der NATO und der EU, mit dem zivile EU-Kapazitäten grundsätzlich für NATO-Besatzungs- und Kriegseinsätze nutzbar gemacht werden können: „Das Berlin-Plus-Abkommen beinhaltete, dass die EU auf NATO-Ressourcen zurückgreifen kann. Jetzt ist es Zeit für ein so genanntes umgekehrtes Berlin-Plus-Abkommen, da die NATO möglicherweise auf Instrumente der Europäischen Union wie die European Gendarmerie Force (EGF) ebenso wie auf zivile Krisenmanagementkapazitäten der EU zurückgreifen möchte.“[41] Darüber hinaus schlug ein anderes NATO-Schwergewicht, Ronald Asmus, unlängst die Bildung eines stehenden Zivilkorps für Krisenreaktionseinsätze vor, das sowohl von der NATO als auch der Europäischen Union genutzt werden können soll.[42]

Auch wenn die konkreten Inhalte des Aktionsplans also geheim sind, scheint sicher, dass die NATO derzeit massiv den Ausbau und die Effektivierung seiner Besatzungskapazitäten vorantreibt. Ähnlich weit reichend und grundsätzlich sind die Vorschläge zur „Reform“ der bündnisinternen Entscheidungsprozesse.

7. Institutionelle Runderneuerung

Das Naumann-Papier mahnt eine tief greifende Reform der Bündnisstrukturen an. Vier Vorschläge stechen dabei besonders hervor:

a) Abschaffung nationaler Einschränkungen der Kriegsführung

Unmissverständlich fordert das Naumann-Papier (S. 126) die Einzelstaaten dazu auf, sämtliche caveats „soweit wie möglich abzuschaffen.“ Dies würde bspws. für Deutschland bedeuten, den Einsatz in Afghanistan komplett abzulehnen oder sich auch an der Kriegsführung im Süden zu beteiligen. Unterstützung findet dieser Vorschlag u.a. von US-amerikanischer Seite, aber auch von NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer.[43]

b) Abschaffung des Konsensprinzips

Ein zweites großes Manko sieht das Naumann-Papier (S. 125) darin, dass sämtliche Entscheidungen innerhalb der NATO im Konsens getroffen werden müssen[44], was die rasche und vor allem widerspruchsfreie Kriegsführung extrem behindert. „Deshalb schlagen wir […] vor, dass die NATO das Konsensprinzip auf allen Ebenen unterhalb des NATO-Rates aufgibt und auf Komitee- und Arbeitsgruppenebene Mehrheitsentscheidungen einführt.“ Diese Forderung wurde unlängst bspws. auch von James Jones, von 2003 bis 2006 der oberste Kommandierende des Allianz-Militärs, erhoben. Gleichzeitig plädierte Jones dafür, aus der informellen Vereinbarung des Prager-Gipfels (2002), 2% des Bruttoinlandsproduktes für Rüstungsausgaben aufzuwenden, eine formale Verpflichtung zu machen und das Prinzip abzuschaffen, dass nur die Mitgliedsländer die Kosten für NATO-Kriegseinsätze bezahlen müssen, die sich auch an ihnen beteiligen.[45]

c) Nur wer Krieg führt, darf mitbestimmen

Zwar kann kein Mitgliedstaat dazu gezwungen werden, sich an militärischen Aktionen der NATO zu beteiligen. Wer dies jedoch ablehnt, soll künftig auch jeglicher Mitspracherechte verlustig gehen: „Es oblag schon immer den einzelnen Staaten, welche Kapazitäten und Truppen sie beitragen wollen. Aber Länder, die keine Truppen beitragen, sollten auch kein Mitspracherecht hinsichtlich militärischer Operationen erhalten. Aus diesem Grund schlagen wir […] vor, dass nur die Staaten, die zu einer Mission beitragen – das bedeutet militärische Kräfte in einer Militäroperation – ein Mitspracherecht bezüglich dieser Operation erhalten.“ (Naumann-Papier: S. 125)

d) NATO-Kriege ohne UN-Mandat

Als letztem Punkt plädieren die NATO-Planer dafür, den Rahmen für die völkerrechtlich legale Anwendung militärischer Gewalt um das Instrument der humanitären Intervention (Responsibility to Protect) zu erweitern und derartige Interventionen – wie 1999 am Beispiel des Angriffskriegs gegen Jugoslawien vorexerziert – auch ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrates durchzuführen: „Zusätzlich zum offensichtlichen Fall der Selbstverteidigung erachten wir die Anwendung von Gewalt auch bei Abwesenheit einer Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat als legitim, wenn die Zeit nicht ausreicht, ihn zu involvieren oder sich der Sicherheitsrat als unfähig erweist, zeitnah eine Entscheidung zu treffen, sollten Maßnahmen nötig sein, eine große Anzahl von Menschen zu schützen.“ (Naumann-Papier: S. 121f.)

Zusammengenommen schlagen die NATO-Planer damit nicht weniger als einen fundamentalen Formwandel der NATO vor. Hierfür sollen die internen Bündnisprozesse so deformiert werden, dass sie künftig eine effektive Kriegsführung möglichst wenig behindern. Dies könnte jedoch zu der absurden Situation führen, dass ein Mitgliedsland, das einen völkerrechtswidrigen, nicht UN-mandatierten Angriffskrieg ablehnt, jeglicher Mitspracherechte beraubt werden könnte und am Ende auch noch die Kosten hierfür teilweise mittragen müsste.

8. Fazit: April 2009 – Auf nach Straßburg und Kehl

Ob tatsächlich sämtliche der hier beschrieben Vorschläge zur Neuausrichtung der NATO umgesetzt werden, bleibt abzuwarten. Jedenfalls wurde auf dem Gipfel in Bukarest die Ausarbeitung eines Dokumentes in Auftrag gegeben, das bis zum nächsten Gipfeltreffen im April 2009 pünktlich zum 60jährigen Geburtstag des Bündnisses verabschiedet werden soll. Dass dieses Dokument das bisherige Strategische Konzept von 1999 ablösen wird, ist gegenwärtig, wie eingangs erwähnt, noch unsicher. Klar ist jedoch, dass die NATO derzeit grundlegende Veränderungen auf den Weg bringt, die die Aggressivität des Bündnisses noch weiter steigern werden. Grund genug, gerade hier in Deutschland für das nächste Gipfeltreffen im April 2009, das in Kehl und Straßburg stattfinden wird, umfangreiche Proteste zu organisieren.

Anmerkungen:

[1] Naumann, Klaus/Shalikashvili, John/Lord Inge/Lanxade, Jacques/Breemen, Henk van den: Towards a Grand Strategy for an Uncertain World: Renewing Transatlantic Partnership, URL: http://www.worldsecuritynetwork.com/documents/3eproefGrandStrat(b).pdf (21.01.2008).

[2] So könnte das Ergebnis auch ein Planungsdokument, ähnlich der 2006 verabschiedeten Comprehensive Political Guidance (CPG) sein, das den Rahmen für die Neufassung der NATO-Strategie absteckt.

[3] Neuber, Harald: Die NATO im Kampf um die Welt, Telepolis, 28.03.2008.

[4] Sherwell, Philip: Bush ‚is planning nuclear strikes on Iran’s secret sites‘, The Telegraph, 11.04.2006.

[5] Traynor, Ian: Pre-emptive nuclear strike a key option, Nato told in Brussels, The Guardian, 22.01.2008.

[6] Pflüger, Tobias: Die NATO ist und wird immer mehr ein Kriegsführungsbündnis, IMI-Standpunkt 2008/022.

[7] Nelson, Robert W.: Exploding the Myth About Low-Yield, Earth Penetrating Nuclear Weapons, Council for a Liveable World, FAS Issue Brief, Vol. 5, No. 7 (April 2001).

[8] «Canard»: Gipfel spricht auch über Mini-Atombomben, DPA, 02.04.2008.

[9] Lewis, George N./Postol, Theodore A.: European Missile Defense: The Technological Basis of Russian Concerns, Arms Control Today, Oktober 2007.

[10] Als Konsortiumführer wurde Science Applications International Corporation (SAIC/USA) beauftragt. Weiter dabei: Boeing (US), Diehl (GE), EADS ST (FR), IABG (GE), TNO (NL), Raytheon (US), Alenia Spazio (IT) und Thales (FR).

[11] Vgl. Raketenabwehr: beschlossen, Geopowers.com, 05.03.2007.

[12] Bitter, Alexander: Die Nato und die Raketenabwehr. Implikationen für Deutschland vor dem Gipfel in Bukarest 2008, SWP-Studie, Oktober 2007, S. 25.

[13] Bitter 2007, S. 18.
[14] Russland droht mit „militärischen Überlegungen“, rp-online, 03.04.2008.
[15] Scharfe Kritik aus Moskau vor NATO-Gipfel in Bukarest, AFP, 31.03.2008.

[16] Putin wirft dem Westen Rüstungswettlauf vor, DPA, 09.02.2008.

[17] McCain, John: Vor der Sicherheitskonferenz: In alter Freundschaft, Süddeutsche Zeitung, 07.02.2008.

[18] Rede von Boris Tadic auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2008, zu finden unter www.securityconference.de
[19] Putin appelliert an Nato-Staaten zur Einhaltung des Völkerrechtes, RIA Novosti, 04.04.2008.

[20] Traynor 2008.

[21] Cordesman, Anthony H.: Armed Nation Building: The Real Challenge in Afghanistan, CSIS, November 2007, S. 28.

[22] NATO: Progress in Afghanistan, Bucharest Summit 2-4 April 2008, URL: http://www.nato.int/isaf/docu/epub/pdf/progress_afghanistan.pdf (06.04.2008).

[23] Senlis Council: Stumbling into Chaos: Afghanistan on the brink, November 2007, S. 7.

[24] Senlis 2007.

[25] Hamidzada, Humayun (Project Coordinator): Afghanistan Human development Report 2007, UNDP 2007, Kapitel 1.

[26] Senlis 2007.
[27] ISAF’s Strategic Vision, NATO PR/CP(2008)052, URL: http://www.nato.int/docu/pr/2008/p08-052e.html (06.04.3008).
[28] Bush hat sich durchgesetzt, nicht Merkel, Interview mit Otfried Nassauer, Neues Deutschland, 05.04.2008.
[29] Nassauer, Otfried: Vor dem Nato-Gipfel in Bukarest, Streitkräfte und Strategien, 22.03.2008.

[30] Noetzel, Timo/Schreer, Benjamin: Strategien zur Aufstandsbekämpfung, SWP-Aktuell, Januar 2008.

[31] Traynor 2008.

[32] Rede von Robert Gates auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2008, zu finden unter www.securityconference.de
[33] Der Bundeswehr drohen mehr Kampfeinsätze, FAZ.net, 22.11.2007.
[34] Quick Reaction Force – Eine Schnelle Eingreiftruppe der ISAF, bundeswehr.de, 18.01.2008.

[35] Noetzel/Schreer 2008, S. 3.

[36] Ministerium plant erhebliche Ausweitung des Afghanistan-Einsatzes, DPA, 09.02.2008.

[37] Jung, Franz Josef, Rede bei der Kommandeurtagung, 14.03.2008, URL:

http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Bundeswehr/kommandeur3.html (06.04.2008).

[38] Vgl. Milkoreit, Manjana: Die zivile Dimension der Sicherheit ernst nehmen: die NATO als die Organisation für den Wiederaufbau nach einem Konflikt, in: NATO Review (Herbst 2007); Bertram, Christoph: Abschied vom Krieg, in: NATO Review (Frühjahr 2006).

[39] Vgl. MC 411/1, 18.01.2002, insb. Abschnitt 2, Absatz 4.

[40] Binnedijk, Hans/Petersen, Friis: The Comprehensive Approach Initiative, Defense Horitzons (September 2007), S. 1. Ähnlich äußerte sich US-Verteidigungsminister Robert Gates auf der Münchner Sicherheitskonferenz, wo er angab, dass der „Krieg im 21. Jahrhundert nicht mehr länger die strikte Trennung zwischen zivilen und militärischen Komponenten aufweist. Es gibt ein Kontinuum, das von Kampfoperationen über ökonomische Entwicklung, Regierungsführung bis hin zum Wiederaufbau reicht – häufig alles zur selben Zeit.“

[41] Hamm, Peter van: NATO and the Madonna Curve: why a new Strategic Concept is vital, in: NATO Review (März 2008).

[42] Asmus, Ronald: Rethinking NATO Partnerships for the 21st Century, in: NATO Review (März 2008).

[43] de Hoop Scheffer betonte auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Notwendigkeit, „Limitierungen der Truppen, die so genannten caveats, aufzuheben.“

[44] Allerdings ist schon heute die so genannte konstruktive Enthaltung möglich, mit der sogar ein Dissens ohne Veto artikuliert werden kann.

[45] An interview with General James L. Jones, USMC, Retired, Supreme Allied Commander Europe (SACEUR), 2003-2006, NATO Defense College, Research Paper, Januar 2008.