IMI-Standpunkt 2016/019 - in: AUSDRUCK (Juni 2016)

Die ewige Konstruktion der russischen Gefahr

Rezension des Buches „Feindbild Russland“ von Hannes Hofbauer

von: Mirko Petersen | Veröffentlicht am: 9. Mai 2016

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Eckdaten zum Buch
Autor: Hannes Hofbauer
Titel: Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung
Umfang: 304 Seiten
Verlag und Erscheinungsjahr: Promedia Verlag (Wien), 2016.

Im Zuge der Ukraine-Krise ab Ende 2013 und dem anschließenden Krieg im Osten des Landes wurden die Abstände zwischen den Schuldzuweisungen und Beschimpfungen Russlands vonseiten der europäischen und nordamerikanischen Politiker_innen, Wissenschaftler_innen und Presseorgane immer kürzer. Es schien außer Frage zu stehen, wer für die Gewalteskalation in der Ukraine verantwortlich war: Moskau, der Kreml, Putin…  also die Namen, mit denen das größte Land der Welt in Verbindung gebracht wird.

Die Konstruktion des Feindbildes Russland war jedoch keineswegs ein neues Phänomen, das in Zeiten der Ukraine-Krise und dem damit verbunden geopolitischen Konflikt zwischen Russland und dem Westen entstanden war. Dies zu zeigen, ist das Anliegen des Buches „Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung“ des Journalisten und Historikers Hannes Hofbauer, das vor kurzem im Wiener Promedia Verlag erschienen ist. Der Autor verfolgt das Phänomen europäischer Russophobie und strategischer Abwertung Russlands bis ins 15. Jahrhundert (als das Moskowiter Großreich entstand) zurück und zeigt Kontinuitäten und Brüche der westlich-russischen Beziehungen auf. Hofbauer stützt sich dabei v.a. auf eine große Bandbreite von Sekundärliteratur sowie auf diverse Interviews mit Expert_innen in Russland.

Vom 15. Jahrhundert bis zum Kalten Krieg

Im ersten Kapitel des Buches geht es um die Ursprünge des „im Westen des [europäischen] Kontinents verbreitete[n] Bild[es] vom ‚asiatischen, barbarischen Russland‘“ (S.13). Hofbauer siedelt die Ursprünge in den sechs Kriegen an, die das Moskauer Fürstentum und Polen-Litauen bzw. Livland zwischen 1492 und 1582 führten. Die in Kriegen übliche Feindbildkonstruktion entstand in diesem Fall in Polen und griff dann durch Ideentransfers in den deutschen Sprachraum über. Während hier viele Stimmen noch von der Verteidigung des „wahren“ Christentums gegenüber dem orthodoxen Christentum des Moskowiter Reiches sprachen, wandelte sich dies teilweise in den darauffolgenden Jahrhunderten. Verschiedene westeuropäische Strategen wogen die russische Gefahr gegen die osmanische Gefahr ab und kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Eine interessante Parallele zu dem Ende des 20. Jahrhunderts wies das späte 17. und 18. Jahrhundert auf: Wenn ein westlich gesinnter Modernisierer wie Peter der Große die Macht in Russland übernahm (ähnlich wie später, auf verschiedene Art und Weise, Michail Gorbatschow und Boris Jelzin) so veränderte sich auch das Russlandbild in Westeuropa zum Positiven.

Im nächsten Kapitel liefert der Autor eine Analyse des Blicks aufs Russland im langen 19. Jahrhundert, speziell im Deutschen Bund bzw. Deutschen Reich, wo  „die libertäre Öffentlichkeit […] anti-russisch [und] die dynastische Reaktion prorussisch gesinnt“ (S.32) war. Die Verschärfung der russischen Feindbildkonstruktion über politische Gesinnungen hinweg ereignete sich dann im Ersten Weltkrieg, was Hofbauer zu Beginn des darauffolgenden Kapitels behandelt, welches den Zeitraum der beiden Weltkriege umfasst. In diesem Kapitel finden zwei Aspekte Erwähnung, die für das Verständnis der heutigen Situation zentral sind. Zum einen ist dies die geopolitische Denkschule, die durch die viel beachteten Theorien des britischen Geografen Halford Mackinder einen Schub erfuhren. Macckinder sah die Kontrolle Russlands und der eurasischen Landmasse (das sog. Herzland) als Schlüssel zur globalen Vorherrschaft – ein Argumentationsmuster, das sich bis in die Gegenwart finden lässt, am prominentesten wohl in den Schriften des US-Strategen Zbigniew Brzezinski. Zum anderen hebt Hofbauer hervor, dass im Ersten Weltkrieg die Idee der Destabilisierung eines bestimmten Teils der russischen Peripherie zu einem wichtigen Muster der deutschen Kriegsführung gegen Russland wurde: „das Herauslösen der Ukraine aus dem Russischen Reich“ (S.45). Das Aufzeigen dieser Denkkontinuitäten bis in die Gegenwart kann als eine der Stärken dieses Buches bezeichnet werden.

Nach der Analyse der Zeit des Ersten Weltkriegs betrachtet Hofbauer einige der schlimmsten Vernichtungs- und Unterwerfungsfantasien des Nationalsozialismus in Bezug auf die Sowjetunion, in denen sich Imperialismus, Rassismus, Antisemitismus und Antikommunismus vermischten. Ihren Höhepunkt erreichte die Feindbildkonstruktion der Nazis nach dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941, also nach dem Ende des Hitler-Stalin-Paktes. Im darauffolgenden Kapitel, das die verschiedenen Phasen des Kalten Krieges behandelt, findet dann ein Bruch statt. Das Kapitel zum Kalten Krieg thematisiert fast nur noch die US-amerikanische Sichtweise auf die Sowjetunion und Washingtons Politik gegenüber der UdSSR, wobei die Politik der Regierung Ronald Reagans besonders viel Aufmerksamkeit erfährt. Dies begründet der Autor mit der dominanten Rolle der USA im Nachkriegseuropa. Trotzdem ist diese Vernachlässigung der europäischen Betrachtung der UdSSR in dieser Phase analytisch nicht ganz nachzuvollziehen, da sich hier z.B. ein Blick auf den deutschen Anti-Kommunismus unter Konrad Adenauer als auch auf die  spätere Entspannungspolitik unter Willy Brandt sich gut an die vorherigen Kapitel hätte anfügen lassen können.

Von der Jelzin-Ära bis zum Krieg in der Ukraine

Im Anschluss an das Kapitel zum Kalten Krieg geht es um die Jelzin-Ära in Russland, die auf den Zusammenbruch der Sowjetunion folgte. Hier werden innenpolitische Entwicklungen in Russland, die ökonomische Schocktherapie im größten Land der Erde sowie die ersten Schritte zur NATO-Osterweiterung thematisiert. Hofbauer verdeutlicht, dass die westliche Formel des Demokraten Boris Jelzin im Kontrast zum Autokraten Wladimir Putin nicht funktioniert. Die autokratische Politik in Russland wurde von den meisten westlichen Politiker_innen unter Jelzin noch für unproblematisch befunden. Erst als sich die Regierung unter Wladimir Putin der westlichen Politik entgegenstellte, wurde die Moskauer Autokratie problematisiert. Das Russland seit der Machtübernahme Putins wird anschließend genauer geschildert. Die Analyse dieser Phase ist ausgewogen gestaltet. Hofbauer erwähnt sowohl die Verbesserungen in Russland im Vergleich zu den Jelzin-Jahren, prangert aber auch Autokratie und Missstände an. Nur an wenigen Stellen kommt das russische Regime etwas zu verharmlost davon. Zu nennen ist hier die Beschreibung des Vorgehens Moskaus gegen ausländische NGOS, das per se als nachvollziehbar dargestellt wird (als Reaktion auf westliche Destabilisierung), ohne vollkommen fadenscheinig begründete (Generalverdacht: „ausländischer Agent“)  politische Unterdrückungen zu erwähnen, wie z.B. die gegen die Organisation „Memorial“, die sich für die Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen einsetzt.

Die aktuellen Entwicklungen, besonders mit Blick auf die Ukraine, rücken im weiteren Verlauf des Buches in den Vordergrund. Dies beginnt mit einer Analyse der vom Westen unterstützten „Farbrevolutionen“, u.a. der sog. Orangenen Revolution in der Ukraine im Jahr 2004 und setzt sich in den Kapiteln zum Ringen um die Ukraine und der westlichen Sanktionspolitik gegen Russland fort. All diese Themen werden detail- und kenntnisreich geschildert. In erster Linie behandelt Hofbauer das Engagement der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union in Osteuropa, welches häufig zum Ziel hatte und hat, den politischen Einfluss Russlands in der Region zu minimieren. Hierzu ist jedes Mittel Recht, bis hin zur Zusammenarbeit mit offen rechtsradikalen Gruppierungen. In Bezug auf die Ukraine hält der Autor aber ebenfalls fest: „Moskau wusste – und weiß – die wirtschaftliche Abhängigkeit der Ukraine für seine eigenen wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen zu nutzen (S.178).“

Besonders das Kapitel zu den Sanktionen gegen Moskau wartet mit vielen wenig beachteten Fakten auf, z.B. dass sich die westlichen Sanktionen nicht nur gegen Politik- und Wirtschaftseliten, sondern auch gegen „eurasische“ Intellektuelle aus Russland richtet (also diejenigen, die sich gegen einen europafreundlichen Kurs der russischen Regierung aussprechen). Dazu Hofbauer: „Insbesondere die eurasische Idee gilt den Vertretern einer liberalen Demokratie aus dem Westen als großes Feindbild. Deshalb darf der führende Kopf der Eurasier, Aleksander Dugin, nicht nach EU-Europa und in die USA einreisen, und deshalb wird die Eurasische Jugendunion als Ganzes vom Austausch mit der westlichen Welt ferngehalten (S. 234).“

Im letzten Kapitel widmet sich Hofbauer dann expliziter der westlichen Feindbildkonstruktion und deren Konjunkturen seit 1999, also kurz vor dem Ende der Jelzin-Ära. Dabei stellt er fest: „Im Fünfjahresrhythmus verschlechterten sich die Beziehungen des Westens zu Russland. Den jeweiligen Zäsuren 1999 (NATO-Krieg gegen Jugoslawien), 2003 (Festnahme von Michail Chodorkowski), 2008 (Georgien-Krieg) und 2013/14 (Ukraine-Krise) folgte eine politische und medial aufgeladene Stimmung, die Schritt für Schritt in Hetze umschlug (S. 272).“ Genau dies ist es, was die Feindbildkonstruktion ausmacht. Deshalb ist es etwas verwunderlich, dass ein Buch, das das Wort „Feindbild“ im Titel trägt, sich relativ wenig der eigentlichen Konstruktion dieser Bilder widmet (am stärksten, wie erwähnt, im letzten Kapitel des Buches).

Kritik und Fazit

Die Nicht-Erfüllung dessen, was der Titel zumindest andeutet, stellt auch die größte Kritik an einem ansonsten gut recherchierten, informativen und angenehm lesbaren Buch dar. Auf den Begriff des Feindbildes geht der Autor nur ganz kurz im Vorwort ein und im folgenden Text kann sich der/die Leser_in häufiger fragen: Wer konstruiert jetzt eigentlich das Feindbild bzw. um wessen Feindbild handelt es sich genau? Wie wird es konstruiert? Worin besteht das Feindbild genau? Diese Fragen tauchen u.a. deshalb auf, weil die geografische Analyseeinheit (Deutschland, deutschsprachiger Raum, Westeuropa, EU, USA, der Westen) und die analysierten Akteure (Intellektuelle, Politiker_innen, Diplomat_innen, Propagandaapparate, Presse) häufig wechseln ohne dies ausreichend zu reflektieren. Eine bessere Gestaltung dieser Erklärungen hätte das bereits gut gelungene Aufzeigen von  Kontinuitäten und Brüche in der Geschichte der Dämonisierung Russlands noch weiter verbessern können. Eine gelungene historische und zeitgeschichtliche Fundierung für bedeutende aktuelle Debatten hat Hannes Hofbauer mit seinem Buch aber allemal geliefert.

Als Fazit des Buches gibt uns der Autor für die Betrachtung der geopolitischen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen das folgende mit auf den Weg: „Wie auch immer unzulänglich und fehlerhaft Moskaus Integrationsversuche ausfallen sollten, ob sie auf nationaler, etatistischer oder eurasischer Grundlage stehen, im Westen werden sie mehrheitlich unter der Brille der Feindwahrnehmung betrachtet, abgelehnt, lächerlich gemacht oder als Gefahr für die eigenen Interessen dargestellt (S.295).“