IMI-Analyse 2007/018 - in: Fantomas Nr. 11

„Geburtswehen des Mittleren Ostens“: Die US-Strategie zur Transformation der Region


von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 28. April 2007

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US-Außenministerin Condoleezza Rice fasste Washingtons Strategie für den Mittleren Osten, gefragt nach ihrer Haltung zur israelischen Offensive im Libanon Mitte 2006, folgendermaßen zusammen: „Was wir hier sehen, ist in gewissem Sinne das Entstehen – die Geburtswehen – eines neuen Mittleren Ostens, und was immer wir tun, wir müssen sicher sein, dass wir auf einen neuen Mittleren Osten drängen, nicht zu dem alten zurückzukehren.“ (Globalresearch.ca, 28.07.06) Schon im Vorfeld des israelischen Angriffs war aus Washingtoner Kreisen offen zu hören, ein Ausschalten der Hisbollah sei die Vorbedingung, um gegen den Iran vorgehen zu können.

Obwohl es zahlreiche Anzeichen dafür gibt, dass Washington tatsächlich einen Angriff auf den Iran beabsichtigt, stößt dieser nächste Schritt zur gewaltsamen Unterwerfung der Region aufgrund der desaströsen Situation im Irak auch in den eigenen Reihen auf zunehmenden Widersand. Kritiker der Regierungspolitik schlagen stattdessen vor, auf indirektere Kontrollstrategien zu setzen. Zwar ist gegenwärtig unklar welche dieser beiden Positionen sich kurzfristig durchsetzen wird, langfristig dürfte aber zur direkten militärischen Unterwerfung kaum eine ernsthafte Alternative bestehen, sofern weiterhin an dem Ziel festgehalten wird, die dortigen Ölvorkommen zu kontrollieren. Hiervon ist aber nicht, insbesondere, weil die Bedeutung der Region in den kommenden Jahren weiter zunehmen wird.

Die Bedeutung des Öls und die drohende Versorgungskrise

Die Bedeutung des Öls für moderne Industriegesellschaften wurde von Daniel Yergin (Der Preis, Frankfurt 1991, S. 964) bündig zusammengefasst: „Die Kontrolle des Öls oder zumindest der Zugang zu ihm, war immer ein großes strategisches Ziel. Das Öl erlaubt den Nationen Besitz anzusammeln, ihre Wirtschaft anzutreiben, Güter zu produzieren und zu verkaufen, Waffen zu kaufen oder herzustellen, Kriege zu gewinnen.“ Verschiedene Faktoren tragen dazu bei, dass sich die Auseinandersetzungen um das Schwarze Gold in den kommenden Jahren verschärfen werden.
Erstens wird der Weltölverbrauch bis zum Jahr 2020 um 50% ansteigen. Zweitens neigen sich die Vorräte der USA und der Europäischen Union dem Ende zu, was zu einer dramatisch wachsenden Importabhängigkeit führt. Dies wird zusätzlich dadurch verschärft, dass drittens die Weltvorkommen rapide abnehmen. Obwohl sich die Geologen darüber uneinig sind, wie lange genau das Schwarze Gold noch fließen wird, klar ist heute bereits, dass es in absehbarer Zeit zu Versorgungsengpässen kommen wird.

Aus diesen Gründen rückt die militärische Kontrolle von Energievorkommen immer weiter ins Zentrum der Strategieplanung, schon allein auch deswegen, weil hiermit einem potenziellen Gegner buchstäblich der Saft abgedreht werden kann – man denke an die wachsenden Auseinandersetzungen zwischen China und den USA. Die Kontrolle des Mittleren Ostens stellt diesbezüglich den Hauptpreis dar, denn dort lagern etwa 2/3 der verbliebenen Vorkommen. Darüber hinaus gilt es auch jegliche Versuche der dortigen Länder, ihre wachsende Macht für eine eigenständige Politik zu nutzten, im Keim zu ersticken.

Der Wiederaufstieg der OPEC

Die primär aus Staaten der Golfregion zusammengesetzte Organisation Erdölexportierender Länder (OPEC) versucht über zwei Mechanismen ihre Position gegenüber den Konsumenten zu stärken. Neben der Drohung mit einem Embargo, also dem völligen Lieferstopp, ist dies vor allem die vom Kartell ausgegebene Förderquote. Sie schreibt jedem Mitglied verbindlich vor, wieviel Öl es dem Weltmarkt zuführen darf. Entschließt sich das Kartell zu einer Reduzierung, hat dies, da der globale Ölmarkt den Gesetzen von Angebot und Nachfrage gehorcht, eine Verknappung und damit einen Preisanstieg zur Folge – zumindest in der Theorie. Allerdings scheiterte dieser Versuch in den 70er und frühen 80er Jahren, da der Westen hierauf – und auf die beiden Embargos in den 70ern – mit der raschen Entwicklung von Nicht-OPEC-Quellen reagierte. Dies führte dazu, dass die OPEC zunehmend Marktanteile einbüßte und 1986 die Mengenbegrenzung aufgeben musste. Der Ölpreis blieb in der Folge mit durchschnittlich 17$ pro Barrel extrem niedrig. Nun scheint sich aber das Blatt zu wenden. Friedemann Müller von der SPD-nahen Stiftung Wissenschaft und Politik weist auf die Folgen für den Ölpreis hin: „Im März 1999 wurde sich die OPEC bewusst, dass die Nicht-OPEC-Produzenten über keine Produktionsreserven verfügten, eine Mengenbegrenzung der OPEC daher nicht durch die Übernahme von Marktanteilen durch andere aufgefangen würde. Das Instrument der Mengenbegrenzung griff wieder. Der Preis stieg im Jahr 2000 auf über 30 $ … Die in den 80er und 90er Jahren verlorene Herrschaft über die Ölpreissteuerung hat die OPEC 1999 im Prinzip zurückgewonnen.“

Da allein die OPEC-Staaten den steigenden Öldurst stillen können, besteht die Gefahr, dass das Kartell künftig den Ölpreis nahezu beliebig diktieren kann, was fundamental mit dem Interesse der Industriestaaten nach billigem Öl kollidiert, wie die unter der Ägide von US-Vizepräsident Dick Cheney verfasste „Nationale Energiepolitik“ verdeutlicht: „Steigende Ölpreise wirken wie eine Steuer durch ausländische Ölexporteure. Sich ändernde Energiepreise verursachen ökonomische Kosten … Diese Kosten können letztlich das ökonomische Wachstum beeinträchtigen.“ Noch gefährlicher wird es, wenn sich die OPEC-Staaten darauf einigen sollten, über ein Embargo ihr Öl als Waffe gegen die US-Politik einzusetzen. Da heute kaum Alternativen bereitstehen, wären die ökonomischen Folgen fatal. Regierungsmitglieder aus dem Irak, Iran, Libyen und Saudi-Arabien haben einen solchen Schritt bereits angedroht und befürwortet (auf den ebenfalls wichtigen Zusammenhang zwischen US-Kriegspolitik, Ölfakturierung und Dollarhegemonie kann hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden. Vgl. hierzu Wagner, Jürgen: USA – Erlassjahr 2015?, IMI-Studie 2006/05).

Die Pläne zur Balkanisierung des Mittleren Ostens

Im Wesentlichen gibt es zwei Strategien zur „Disziplinierung“ der OPEC-Staaten, eine Neokonservative und eine Neoliberale, die sich aber nur auf den ersten Blick unterscheiden. Die derzeit dominierende neokonservative Variante setzt auf „kreative Zerstörung“, wie es der Vordenker Michael Ledeen formulierte und damit auf die direkte militärische Kontrolle und Zerstückelung der Region. Sie wurde mit dem Irak-Krieg in die Praxis umgesetzt und ist auch maßgebliche für die Überlegungen, jegliches Land in der Region, das sich US-Interessen widersetzt, zu überfallen. Neben Syrien steht hier vor allem der Iran buchstäblich auf der Abschussliste.

Diese Strategie setzt darauf die Region in kleine Einheiten zu zerlegen, von denen keine US-amerikanischen Interessen im Wege stehen kann. So fordern namhafte US-Politiker, wie Leslie Gelb vom Council on Foreign Relations oder der demokratische Senator Joseph Biden schon lange die Aufspaltung des Irak anhand ethnischer Linien, also in einen kurdischen, einen sunnitischen und einen schiitisch Teil. Am bisher weitest reichenden sind die Pläne des den Neokonservativen nahe stehenden pensionierten US-Militärs Ralph Peters (Armed Forces Journal, Juni 2006). Er tritt für die groß angelegte Balkanisierung der Gesamtregion und deren vollständige ethnische Parzellierung ein. Ginge es nach seinen Vorstellungen, würden US-Klienten beträchtliche territoriale Zugewinne verzeichnen, während renitente Länder wie der Iran und Saudi Arabien große Teile ihrer Gebiete abgeben müssten (siehe Karte nur im PDF). Gerade dem saudischen Königshaus, das in jüngster Zeit verschiedentlich „aus dem Ruder“ gelaufen war, wurde schon seit längerem offen gedroht. So beschrieb ein Briefing vor dem Pentagon-Beratungsgremium Defense Policy Board, „Saudi Arabien als einen Feind der Vereinigten Staaten und empfahl, dass US-Offizielle ein Ultimatum stellen, die Unterstützung des Terrorismus einzustellen oder sich der Besetzung seiner Ölfelder gegenüberzusehen.“ (Herald Tribune, 07.08.02)

Deutsche Rolle

Nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch für die Europäische Union und insbesondere in Deutschland rückt die militärische Versorgungssicherung immer mehr in den Mittelpunkt, wie ein Kommentar der Welt (12.05.06) zum Weißbuch der Bundeswehr zeigt: „Die Feststellung, die Bundesregierung werde zur Wahrung ihrer Interessen auch militärische Mittel einsetzen, ist nur konsequent. Und mit der Formulierung, dass sich die Regierung besonders jenen Regionen zuwenden werde, in denen Rohstoffe und Energieträger gefördert werden, begibt sich Deutschland endlich auf gleiche Augenhöhe mit anderen Ländern, in denen dieses Verhalten eine Selbstverständlichkeit ist.“

In einem Interview mit German Foreign Policy (08.09.2006), die auch die Peters-Pläne zur ethnischen Parzellierung des Mittleren Ostens erstmals in Deutschland öffentlich gemacht hatten, äußerte sich der französische Historiker Pierre Hillard über die diesbezügliche deutsche Rolle folgendermaßen: „Die deutsche Politik spielt bei der Propagierung dieser Ideen eine große Rolle – nehmen Sie zum Beispiel die Bertelsmann-Stiftung, die im Rahmen der Kronberger Gespräche ganze Maßnahmenbündel ausarbeitet, um den Mittleren Osten umzugestalten. Der davon ausgehende Einfluss ist bedeutend, und zwar unabhängig davon, welche Regierungsmannschaft in Berlin gerade an der Macht ist. Die Berichte der Stiftung aus den Jahren 2002 und 2003 sind sehr lesenswert. [Sie lassen] erkennen, dass man eine vollständige Umgestaltung der politischen, wirtschaftlichen und religiösen Institutionen der Länder des ‚Großen Mittleren Ostens‘ will, um sie fest an die euro-atlantische Achse zu schweißen.“ Während für die Neokonservativen aber hierfür die direkte militärische Unterwerfung das bevorzugte Mittel darstellt, bevorzugt man hierzulande wenn irgend möglich indirektere Kontrollstrategien, eine Position, die auch in den USA derzeit an Einfluss gewinnt.

Intelligenterer Kolonialismus?

Zwei Protagonisten der „anderen“ Variante, die US-Demokraten Ronald Asmus und Jonathan Pollack, benannten schon vor mehreren Jahren in der Washington Post (22.07.03) die beiden aus ihrer Sicht unterschiedlichen US-Kontrollstrategien. Dabei geht es offensichtlich nicht darum ob die gesamte Region restrukturiert wird, sondern lediglich auf welche Weise dies geschehen soll: „Es hat sich in Washington ein Konsens herausgebildet, dass der Mittlere Osten die vorrangige strategische Herausforderung unserer Zeit darstellt […] Die Frage ist nun, wie man den Mittleren Osten am besten umgestalten kann. […] In der Tat findet die Auseinadersetzung zwischen der neokonservativen Strategie einer Zwangsdemokratisierung und dem, was man als neoliberale Alternative bezeichnen könnte.“

Die Kriegspolitik der Neokonservativen scheitere am Widerstand vor Ort und übersteige die Kapazitäten der Vereinigten Staaten, weshalb man versuchen solle, die Staaten der Region über die Integration in die Weltwirtschaft subtiler in die „richtige“ Richtung zu drängen und dabei auch die westlichen Verbündeten ins Boot zu hohlen. Was darunter genau zu verstehen ist, formulierten Asmus und Pollack in einem Grundsatzartikel im Policy Review (September/October 2002). In ihm forderten sie die NATO-Staaten dazu auf sich einem neuen „Transatlantischen Projekt“ zu widmen, nämlich der „Transformation des Mittleren Ostens“, die fortan die zentrale Aufgabe des Bündnisses werden solle. Das Projekt solle „auf eine neue Form der Demokratie hinauslaufen, auf ein neues Wirtschaftssystem, das den Menschen in der Region zu Arbeit und Würde verhilft.“ Dies sei die einzige Möglichkeit, „die dem Terrorismus zugrunde liegenden Ursachen“ zu bekämpfen, und beinhalte aber „zweifellos auch eine militärische Komponente“, da die gesamte Region unter „einer Krise der Regierbarkeit leidet, die mit der Unfähigkeit seiner Staaten einhergeht, die Herausforderungen der Moderne und der Globalisierung zu bewältigen.“ Auch in Europa finden diese Vorschläge zahlreiche Befürworter. Dies spiegelt sich in einem Manifest namhafter transatlantischer Sicherheitspolitiker unter dem Titel „Das nächste transatlantische Projekt: Demokratieförderung von Nordafrika bis Afghanistan“ wider (Internationale Politik 4/2004). Bemerkenswert an diesem Manifest ist insbesondere der Vorschlag, das NATO-Programm „Partnerschaft für den Frieden“ auf den Großraum des Mittleren Ostens auszudehnen und die Allianz so direkt in die Region zu involvieren.

Groß sind die Unterschiede zwischen der Neoliberalen und Neokonservativen Variante offensichtlich nicht. Letztere wird zwar derzeit aufgrund des heftigen Widerstands in der Region kritisiert, ob innerhalb der herrschenden Logik hierzu aber überhaupt eine Alternative besteht ist zweifelhaft. Was werden wohl die Neoliberalen machen, falls die Staaten des Mittleren Ostens trotzdem fortfahren sollten, sich gegen die Interessen der USA zu stellen? Wie sagte der geopolitische Altmeister Henry Kissinger schon vor Jahrzehnten: „Das Öl ist zu wichtig, um es den Arabern zu überlassen!“