IMI-Standpunkt 2021/047

Externer Staatsaufbau

In Afghanistan gescheitert, in Mali auch nicht vielversprechend

von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 19. August 2021

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Lehren aus Afghanistan?

Nachdem der panikartige Abzug aus Afghanistan und die unter Taliban-Herrschaft stattfindende Evakuierung westlichen Personals über den Flughafen von Kabul das völlige Scheitern der NATO-Intervention in Afghanistan offengelegt haben, wird allerorten über die „Lehren“ gesprochen. Die Bundesregierung kommt nicht mehr umhin, zumindest für die letzten Monate eine völlige Fehleinschätzung der Lage einzuräumen. Kritiker*innen weisen jedoch darauf hin, dass diese Fehleinschätzung zumindest auch Ergebnis einer zwei Jahrzehnte anhaltenden Schönfärberei der Lage im Einsatzgebiet war. Der rasche Vormarsch der Taliban dokumentiert demgegenüber, dass diese durch die NATO-Präsenz keineswegs militärisch geschwächt waren und die afghanischen „Sicherheitskräfte“, die zur Verteidigung der Republik aufgebaut worden waren, ebenso wie diese Republik selbst nicht viel mehr als ein Potemkinsches Dorf. Als Lehre aus dem Debakel in Afghanistan sollte man also versuchen, zu einem realistischeren Bild der Lage in den Einsatzgebieten und den Möglichkeiten eines militärisch gestützten externen Staatsaufbaus zu kommen. Diese Lehre sollte man v.a. im Hinblick auf den nun größten Auslandseinsatz der Bundeswehr in Mali ziehen, wo das von der EU unterstützte Militär in den vergangenen zwölf Monaten zwei Mal gegen die ebenfalls international unterstützte Regierung geputscht hatte. Selbst aus den Reihen der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik werden Parallelen zwischen beiden Interventionen gezogen. Deren Experte für Sicherheitspolitik, Markus Kaim, nennt als Ursache für das Scheitern in Afghanistan: „Da waren keine Partner vor Ort, auf die der Westen setzen konnte“. Und er fügt hinzu: „Das erkennen wir bei anderen Militärinterventionen auch anderswo, etwa in Mali“.(1) Selbst der Politologe Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität in Hamburg, der ansonsten nicht eben für sicherheitspolitische Zurückhaltung bekannt ist, warnt in Bezug auf Mali: „Die Frage ist jetzt: Bekommen wir ein realistisches Bild über das, was wir dort überhaupt leisten können oder nicht? Oder machen wir das Gleiche wie in Afghanistan: Dass wir uns selbst in die Tasche lügen und nur sagen, wie gut wir doch dabei sind, malische Spezialkräfte auszubilden?“(2)

Warnsignale gibt es aus Mali – ebenso wie jahrzehntelang aus Afghanistan – genug. Das soll hier beispielhaft an einem Bericht(3) des Leiters der (formal) zivilen EU-Mission zum Kapazitätsaufbau (EUCAP Sahel MALI), Hervé Flahaut, vom Juli 2021 aufgezeigt werden, der eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist – ihr aber eigentlich zugänglich gemacht werden sollte, um diesmal zu einer realitätsnäheren Einschätzung der Lage zu kommen.

Staatsaufbau in der Planung

Im Mittelpunkt dieses Berichtes steht die sog. Mobile Unit der EUCAP-Mission, die sich seit Dezember 2019 im Aufbau befindet und dem Police Operational Mentoring and Liaison Team (POMLT) der NATO in Afghanistan nachempfunden ist. Der räumliche Schwerpunkt des Berichts liegt auf dem Zentrum Malis, das zu Beginn der Intervention 2013 noch als relativ sicher galt, in dem sich die Sicherheitslage jedoch v.a. in den letzten Jahren rapide verschlechtert hat. (Die nördlich davon in Gao stationierte Bundeswehr hatte kurz vor dem verheerenden Anschlag mit zwölf verletzten Kräften der Bundeswehr im Juli 2021 angekündigt, zukünftig verstärkt in eben jener Region tätig zu werden.)

Die Mobile Unit besteht überwiegend aus 19 Angehörigen der französischen Gendarmerie und einem Angehörigen der spanischen Guardia Civil und enthält darüber hinaus fünf Planstellen für lokale Kräfte, von denen zum Zeitpunkt des Berichts jedoch nur eine besetzt war. Nachdem sie zunächst in einem Hotel in der Provinzhauptstadt Mopti untergebracht waren, bezogen sie dort im Februar 2021 einen eigenen Standort, der von 18 malischen Polizeikräften gesichert wird. Die Mobile Unit soll die generelle Arbeit der EUCAP unterstützten und dabei helfen, einen Plan zur Wiederherstellung staatlicher Präsenz im Zentrum des Landes (Plan de Sécurisation Intégrée des Régions du Centre, PSIRC) umzusetzen. Primär geht es dabei um die Organisation und Ausbildung von „Sicherheitskräften“, konkret der nationalen malischen Polizei, der Gendarmerie und der Nationalgarde. Zu den Aufgaben gehört aber auch der Aufbau von Vertrauen der Bevölkerung in diese „Sicherheitskräfte“ sowie die Bekämpfung von Straflosigkeit innerhalb dieser Strukturen, die immer wieder schwerer Menschenrechtsverletzungen beschuldigt und tw. auch überführt werden.

Zentral für die Umsetzung dieser Vorhaben ist entsprechend der aktuellen Planung die Errichtung gut 20 sog. „Gesicherter Zonen für Sicherheit und Verwaltung“ (Pôles de Sécurité, de Développement et de Gouvernance, PSDG). Diese sollen im Kern aus Verbänden der Gendarmerie oder der Nationalgarde (im Umfang von 60 bis 120 Kräften) bestehen und zugleich als Nukleus einer lokalen Verwaltung dienen. Der Plan der EUCAP bestand darin, in Gestalt der Mobile Unit regelmäßig diese Stützpunkte aufzusuchen, gemeinsame Übungen und Patrouillen durchzuführen, Vertreter*innen der lokalen Zivilgesellschaft und auch der im Entstehen begriffenen Verwaltung zu treffen und damit in der Fläche Wirksamkeit zu entfalten und sich auch ein Bild der Lage und der Bedürfnisse einiger Akteure vor Ort machen zu können. Es handelt sich also um die vermeintlich „zivile“ Seite eines militärisch gestützten, externen Staatsaufbaus. Die operationelle Planung und politische Führung erfolgt von Seiten der EU durch den Zivilen Planungs- und Durchführungsstab (Civilian Planning and Conduct Capability, CPCC), der ebenso wie sein militärisches Pendant (die Military Planning and Conduct Capability, MPCC) als Teil des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) dem Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee (PSC) sowie dem Hohen Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik (HRVP) untersteht. Das MPCC leitet u.a. die zeitgleich (ebenfalls seit 2013) in Mali stattfindende militärische Ausbildungsmission EUTM Mali, die zunächst auf einen Standort nahe Bamako konzentriert war und nun ebenfalls ein zunehmend dezentrales Konzept verfolgt, welches die Ausbildung der malischen Armee auch an anderen Standorten und seit 2020 auch deren Begleitung „bis zur taktischen Ebene“ vorsieht.(4)

Scheitern in der Realität

Doch die in Brüssel quasi am Reißbrett entworfenen Pläne scheinen auch in Mali an den Realitäten vor Ort zu scheitern. Das ist dem durchaus diplomatisch formulierten Bericht des EUCAP-Leiters klar zu entnehmen. Da ist einerseits die politische Ebene. Seit dem Putsch vom Oktober 2020 verfolge die Regierung in Bamako einen zunehmend militarisierten Ansatz zur Befriedung des Zentrums, so wird in dem Bericht mehrfach moniert. Die „zivilen Sicherheitskräfte“, welche EUCAP und die Mobile Unit aufbauen sollen, wurden demnach allesamt unter militärisches Kommando gestellt, was die Zusammenarbeit sicherlich erschwert. Außerdem wird angedeutet, dass das Putschregime kein Interesse mehr an dem von der Vorgänger-Regierung gemeinsam mit der EU verfolgten Plan (PSIRC) zeige und nicht genügend Kräfte zur Besetzung der dezentralen Stützpunkte PSDG bereitstelle. Von den geplanten gut 20 PSDGs sind laut einer dem Bericht beigefügten Karte acht einsatzfähig, die anderen befinden sich demnach wohl noch in der Planungsphase oder sind bereits wieder aufgegeben. Fünf davon wurden bereits einmal oder mehrfach von der Mobile Unit besucht, über anderen haben lediglich Aufklärungsflüge stattgefunden, um Lage und Zustand der Gebäude vom Hubschrauber aus einzuschätzen. Dieser Hubschrauber wird der Mobile Unit dauerhaft von einem privaten Unternehmen zur Verfügung gestellt.

Und das ist andererseits die praktische Ebene, auf der es ebenso entscheidende Hindernisse gibt, die überwiegend mit der Sicherheitslage zu tun haben. So sind die Besuche der Stützpunkte durch die Mobile Unit auf weniger als zwei Stunden begrenzt, da die Reaktionszeit der „bewaffneten terroristischen Gruppen“ auf etwa eine Stunde geschätzt wird und die Sicherheitslage deshalb keine längeren Aufenthalte zulässt. Trotzdem wurden bereits mehrere der geplanten Besuche abgesagt oder abgebrochen, u.a. weil die militärische Trainingsmission EUTM Mali für die entsprechenden Zeiträume keine luftgestützte medizinische Evakuierung bereitstellen konnte, was Voraussetzung dafür ist, dass die Mobile Unit überhaupt ausrückt. Selbst geplante Aufklärungsflüge wurden bereits mehrfach aus Sicherheitsgründen abgesagt. Grundsätzlich scheint die Mobile Unit die Stützpunkte der Gendarmerie bislang ausschließlich oder zumindest ganz überwiegend mit Helikoptern aufzusuchen. Ein Grund dafür wird sein, dass sie dem Bericht zufolge zwar über sieben gepanzerte Fahrzeuge verfügt, von denen bislang jedoch nur zwei mit Störsendern gegen Sprengfallen ausgestattet sind. Deshalb fordert der Leiter der Mission in seinem Bericht die Nachrüstung von drei weiteren Fahrzeugen mit Störsendern, wofür er Kosten von etwa 2 Mio. Euro veranschlagt.

Chance eines Umdenkens

Wie über jenen in Afghanistan, so wird auch über den Einsatz der Bundeswehr in Mali kaum gesprochen. Das war selbst Ende Juni 2021 so, als zwölf Soldaten der Bundeswehr dort bei einem Anschlag verletzt wurden, drei davon schwer. Zwar berichteten deutsche Medien einige Tage intensiv über den Rücktransport der Verwundeten nach Deutschland – hierzu warf ihnen das „Verteidigungsministerium“ auch die gut verdaulichen Informationshäppchen hin – zu den Hintergründen des Einsatzes hieß es aber meist nur kurz und knapp (hier etwa bei tagesschau.de vom 26.6.2021): „Der Einsatz soll den Friedensprozess in Mali unterstützen. In dem Land sind islamistische Terrorgruppen aktiv“.v Dass sich die Sicherheitslage allerdings kontinuierlich verschlechtert und selbst die „zivilen“ Einsatzkräfte ohne militärische Absicherung kaum einen Fuß vor die Türe setzen, ist eine Realität, die damit eher verschleiert wird. Wie ein Staatsaufbau gelingen soll, wenn Stützpunkte vom Helikopter aus geplant und Treffen mit der „Zivilgesellschaft“ auf 90 Minuten begrenzt sind und diese anschließend Gefahr laufen, Opfer von Angriffen zu werden, wird wohl das Geheimnis der Planer*innen in Brüssel bleiben. Es besteht jedenfalls die ernsthafte Gefahr, dass die Bilanz des Mali-Einsatzes eines Tages ebenso desaströs ausfallen wird, wie die der NATO in Afghanistan. Die aktuellen Warnungen selbst von Seiten einiger Hardliner der deutschen „Sicherheitspolitik“ vor diesem Hintergrund bieten immerhin die Chance eines Umdenkens. Statt sich weiter den Illusionen einer militärischen Befriedung anderer Ländern hinzugeben, sollte (wieder) das Handwerk einer zivilen Diplomatie und tatsächlichen Sicherheitspolitik erlernt werden. Ob die gegenwärtigen Strukturen der deutschen und EU-Außenpolitik dazu in der Lage sind und ob dies im Interesse der sie tragenden wirtschaftlichen Akteure liegt, steht auf einem anderen Blatt.

Anmerkungen

(2) Ann Guenter: Wieso hält die afghanische Armee die Taliban nicht auf?, msn.com vom 11.8.2021.

(2) „Das ist verlogen und scheinheilig“ – Experte fordert nach Afghanistan eine Wende in der deutschen Sicherheitspolitik, Sebastian Heinrich im Interview mit Carlo Masala, watson.de vom 17.8.2021.

(3) EUCAP SAHEL Mali Special Report on the Mission engagement in central Mali including its Mobile Unit, EEAS(2021)763. Auf dem Deckblatt wird die Klassifizierung des Dokuments mit folgenden Worten begründet: „This document contains information classified RESTREINT UE/EU RESTRICTED whose unauthorised disclosure could be disadvantageous to the interests of the European Union or of one or more of its Member States. All addressees are therefore requested to handle this document with the particular care required by the Council’s Security Rules.“

(4) Siehe: Christoph Marischka: EU-Mandat ausgeweitet, Zweck unklar, IMI-Analyse 2020/16 (25.3.2020).

(5) „Erste Verwundete in Köln gelandet“, tagesschau.de vom 26.6.2021.