IMI-Analyse 2018/18

Das Cyber Valley in Tübingen und die Transformation zum Rüstungsstandort

von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 5. Juli 2018

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Am 14. Dezember 2016 fiel im Stuttgarter Neuen Schloss der Startschuss für das sog. „Cyber Valley“, ein gemeinsames Projekt der Max-Planck-Gesellschaft, der Universitäten Stuttgart und Tübingen, des Landes und der Industrie, darunter die Unternehmen Facebook, Bosch, Daimler, Porsche, BMW und das traditionsreiche Rüstungsunternehmen ZF Friedrichshafen. Ziel ist es, die Region zwischen Stuttgart und Tübingen zu einem „Ökosystem“ für die Forschung zu Künstlicher Intelligenz zu entwickeln.1 Das Land Baden-Württemberg hat 50 Mio. Euro Unterstützung in den ersten Jahren zugesagt, eine vergleichbare Summe will die Industrie beisteuern. Gemeinsam finanzieren Land und Industrie zunächst neun Forschungsgruppen und mehrere Professuren, die Universitäten wollen ihrerseits „Brückenprofessuren“ zu den Max-Planck-Instituten einrichten, das heißt, deren Forscher*innen Lehrstühle zur Verfügung stellen.2 Politik und Wirtschaft greifen damit tief in die Ausrichtung von Forschung und Lehre ein. In einem zweiten Ausbauschritt will die Landesregierung „mit einer Sonderfinanzierung ein gemeinsames Neubauvorhaben als physisches Zentrum von Cyber Valley unterstützen.“ Zuvor wurde bereits der Neubau des Max-Planck-Institutes für Intelligente Systeme in Tübingen mit 41 Mio. vom Land unterstützt.

Ökosystem für die Entwicklung Künstlicher Intelligenz

In der Pressemitteilung des Staatsministeriums zur Gründung des Cyber Valleys heißt es, dieses solle „gleichzeitig als internationales Zentrum für Grundlagenforschung und als Gründerplattform für marktfähige Anwendungen aufgesetzt werden“. Auch die Max-Planck-Gesellschaft erklärte aus diesem Anlass, man wolle „Unternehmensgründungen in diesem Bereich fördern, um von der Grundlagenforschung möglichst rasch zu marktfähigen Anwendungen zu kommen“.3 Auf der Homepage des Cyber Valley heißt es ergänzend: „… bei der Entwicklung intelligenter Systeme ist der Weg von der Grundlagenforschung bis zur Kommerzialisierung oft sehr kurz: Start-ups, die im Umfeld der Forschung entstehen, sind Motoren dieser Entwicklung. Cyber Valley bildet durch eine enge Verzahnung von Wissenschaft und Wirtschaft die ideale Umgebung zur Förderung von Start-ups“. Einen ersten großen Coup landete das Projekt im Oktober 2017, als der Großkonzern Amazon bekanntgab, dass er ebenfalls in das Cyber Valley einsteigen will (Facebook hingegen wird aktuell nicht mehr als Mitglied genannt). Erste Mitarbeiter*innen von Amazon sind bereits nach Tübingen gezogen und noch in diesem Jahr will der Konzern neben den Max-Planck-Instituten auf der Oberen Viehweide mit dem Bau eines Entwicklungszentrums für Künstliche Intelligenz beginnen, das im Erdgeschoss u.a. ein Café und einen „öffentlich zugänglichen Co-Working-Bereich“ umfassen soll.4

Neben den Unternehmen, die unmittelbar ins Cyber Valley-Projekt eingebunden sind, ist bereits jetzt eine verstärkte Ansiedelung von IT-Unternehmen in Tübingen zu bemerken. So hat im Zentrum der Stadt an der sog. „Blauen Brücke“ das Unternehmen ITDesign ein mehrstöckiges Gebäude errichtet, wo für Unternehmen Kundendaten verwaltet werden. Neben dem Neubaugebiet am alten Güterbahnhof entstand ein neuer Sitz der Firma Syss, die für Penetrationstests (simulierte Hackerangriffe, durch die Schwachstellen in IT-Systemen aufgedeckt und behoben werden können) bekannt ist und diese nach eigenen Angaben auch für die Bundeswehr durchführt. Durch die Übernahme des Tübinger Unternehmens Science + Computing im Juli 2016 hat sich auch der Großkonzern Atos einen Standort in der Stadt erschlossen. Zu den von hier aus angebotenen Produkten zählen u.a. High-Performance Computing und Messdatenmanagement. Darüber hinaus ist das Unternehmen aber auch in der Rüstung aktiv und bietet u.a. elektronische Grenzüberwachungssysteme und Checkpoints an, die Personen und Objekte auf der Basis von Mustererkennung eigenständig detektieren und ggf. als „Bedrohung“ oder „Ziel“ klassifizieren.5

Nach Angaben des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft wird das Projekt Cyber Valley bereits seit etwa zehn Jahren vorbereitet. Tatsächlich sind in den vergangenen Jahren umfangreich Gelder von Bund und Land in die Universität Tübingen geflossen und haben dazu beigetragen, dass die zuvor eher für ihren geisteswissenschaftlichen Schwerpunkt bekannte Hochschule sich verstärkt auf die Informatik und Kognitionswissenschaften ausrichtete. Daneben wurden auch kommunalpolitische und bauliche Voraussetzungen geschaffen. Bereits 1999 hatten die Städte Reutlingen und Tübingen gemeinsam die Technologieförderung Reutlingen-Tübingen GmbH gegründet und einen Kooperationsvertrag mit der L-Bank zum Aufbau des Technologieparks Reutlingen Tübingen (TTR) abgeschlossen, der seit 2001 existiert und an den Standorten Reutlingen West und „Obere Viehweide“ in Tübingen Räumlichkeiten explizit für Start-Up Unternehmen bereitstellt. Die Obere Viehweide ist zugleich der Standort der Max-Planck-Institute, wo nun auch Amazon sein Entwicklungszentrum errichten will. Nach eigener Darstellung sei der Technologiepark „Deutschlands größtes Gründerzentrum für Biotechnologie“ und „durch seine unmittelbare Nähe zu Forschung und Wirtschaft eine bevorzugte Plattform für die Entwicklung neuer Technologien und Produkte. In Tübingen mit dem Schwerpunkt Biotechnologie, in Reutlingen in der Sensorik sowie Mikro- und Nanotechnologie“.6 Tatsächlich ist es in der Vergangenheit mehrfach gelungen, dass sich Start-up Unternehmen hier zunächst eingemietet und nach wenigen Jahren eigene Standorte gebaut haben – oder wieder verschwunden sind. Damit bietet der Technologiepark eben jene Bedingungen, um zukünftig auch in der KI-Forschung wie gewünscht „möglichst rasch von der Grundlagenforschung zu marktfähigen Anwendungen zu kommen“.

Schnittstelle zur Rüstungsindustrie

Dass die KI-Forschung v.a. für die Rüstungsindustrie relevant ist, scheint auch in der Technologieförderung Reutlingen-Tübingen bekannt zu sein. Gemeinsam mit der Europäischen Weltraumagentur ESA weihte die TTR im April 2018 an seinem Reutlinger Standort einen „Business Incubation Centre“ (BIC) ein, der als „Nährboden für Gründerideen“ wirken und „jungen Startups bei der Verwirklichung innovativer Geschäftsideen im Bereich Weltraumtechnologie, Materialforschung, Navigations- oder auch Kommunikationstechnik helfen“ soll. Das Landesministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau fördert das BIC mit 750.000 Euro. Geplant ist, „ausgewählten Startups“ Räume zur Verfügung zu stellen sowie „eine Starthilfe von insgesamt 50.000 Euro“ wobei je 25.000 vom Land und der ESA bzw. dem Deutschen Zentrum Luft- und Raumfahrt (DLR) bereitgestellt werden.7

Am BIC beteiligt sind neben der TTR GmbH, der ESA und dem DLR u.a. Bosch und Airbus Defence & Space. Das DLR ist eine der tragenden Säulen der deutschen Rüstungsforschung und betreibt gemeinsam mit Airbus Defence & Space die Aufklärungs- und Kommunikationssatelliten der Bundeswehr. Airbus Defence & Space stellt außerdem u.a. in Afghanistan und Mali die Heron-1 Drohnen für die Bundeswehr zur Verfügung und wird zukünftig auch die erste bewaffnungsfähigen Drohnen der Bundeswehr – fünf unbemannte Flugzeuge vom Typ Heron-TP – von Israel aus für Einsätze der Bundeswehr bereitstellen. Gerade für die rasant zunehmende Zahl von Drohnen ist Forschung zu Künstlicher Intelligenz und maschinellem Sehen, wie sie im Cyber Valley den Schwerpunkt bilden soll, von zentraler Bedeutung. Das Cyber Valley wird also auch in militärischer Hinsicht ermöglichen, dass neue Forschungsergebnisse rasch in die Praxis umgesetzt werden. Gründer*innen, die Starthilfe und Räume im TTR erhalten wollen, kommen quasi automatisch mit Airbus Defence & Space bzw. dem DLR und damit den wichtigsten deutschen Betreibern militärischer Luft- und Raumfahrt in Kontakt.

Deutsch-französische Rüstungs- und Forschungskooperation

Gemeinsam mit dem französischen Rüstungskonzern Dassault Aviation arbeitet Airbus aktuell an der Entwicklung einer „europäischen“ bewaffnungsfähigen Drohne „European MALE RPAS“.8 Das Projekt gilt damit neben der Fusion des deutschen Panzerbauers Krauss-Maffei Wegmann (KMW) und seines französischen Pendants Nexter als Beispiel einer politisch vorangetriebenen Zusammenführung der deutschen und französischen Rüstungsindustrie. Analog hierzu haben sich Angela Merkel und der französische Präsident Macron bereits im vergangenen Jahr auf eine enge Forschungskooperation auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz geeinigt, die auch von der SPD unterstützt wird. Im Koalitionsvertrag vom März 2018 wurde festgehalten: „Deutschland und Frankreich müssen insbesondere auch Innovationsmotor sein und werden dies in Vorhaben wie der Erforschung von künstlicher Intelligenz unter Beweis stellen“. Hierzu wolle man „gemeinsam mit unseren französischen Partnern ein Zentrum für künstliche Intelligenz errichten“.9 Zumindest wenn es nach der Baden-Württembergischen Landesregierung geht, soll dieses Zentrum in Baden-Württemberg entstehen. Dies begründet Wissenschaftsministerin Theresia Bauer v.a. mit der Existenz des Cyber Valley: „Baden-Württemberg ist durch seine Forschungslandschaft ein idealer Ankerplatz für das neue Zentrum. Mit unserem Cyber Valley, das das Wissenschaftsministerium gemeinsam mit der Max-Planck-Gesellschaft, den Universitäten Stuttgart und Tübingen und führenden Wirtschaftsunternehmen gegründet hat, haben wir die Weichen bereits gestellt. Mit Erfolg: Der Raum Tübingen/Stuttgart ist der nachweislich stärkste Forschungsstandort in Sachen Künstliche Intelligenz bundesweit“.10

Neben dem Cyber Valley verwies Bauer darüber hinaus auf einen weiteren Forschungscluster in Karlsruhe: den „Digital Hub Karlsruhe – Artificial Intelligence“ der in unmittelbarer Nachbarschaft zum dortigen Fraunhofer Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (IOSB) aufgebaut wurde und insbesondere mit dieser Forschungseinrichtung für sich wirbt. Das Fraunhofer IOSB ging aus der Fusion einer anwendungsorientierten zivilen und einer eher auf Grundlagenforschung ausgerichteten militärischen Forschungseinrichtung hervor und forscht bis heute umfangreich für das Bundesverteidigungsministerium – u.a. zur automatisierten Bildauswertung von militärischen Drohnen.11 Zugleich bemüht sich das Institut jedoch stets auch um zivile Anwendungen seiner militärischen Technologie und stellt es jene Software zur „intelligenten Videoüberwachung“ zur Verfügung, die gegenwärtig in einem Pilotprojekt vor dem Mannheimer Bahnhof zur Anwendung kommt. Auch hier zeigt sich eine „rasche“ Umsetzung neuer Forschung in die Praxis.

Eine neue Rüstungsforschungsagentur im IT-Bereich

Insgesamt spielen Informationstechnologie und KI-Forschung eine bemerkenswert große Rolle im Koalitionsvertrag und damit im aktuellen Regierungsprogramm. Unter anderem heißt es dort, man wolle „Deutschland zu einem weltweit führenden Standort bei der Erforschung von künstlicher Intelligenz machen.“ Unter der Überschrift „Für eine modern ausgerüstete Bundeswehr“ wird ein weiteres Vorhaben angekündigt, das u.a. der Umsetzung dieses Zieles dienen soll: „Zur Sicherstellung technologischer Innovationsführerschaft werden wir unter Federführung des Bundesministeriums der Verteidigung und des Bundesministeriums des Innern eine ‚Agentur für Disruptive Innovationen in der Cybersicherheit und Schlüsseltechnologien‘ (ADIC) sowie einen IT-Sicherheitsfonds zum Schutz sicherheitsrelevanter Schlüsseltechnologien einrichten“. Damit wird eine Behörde geschaffen, die relativ unabhängig von den jeweiligen Ministerien Forschungsprojekte fördern kann, die sie für militärisch relevant hält. Als Vorbild gilt die US-amerikanische DARPA (Defence Advanced Reasearch Projects Agency), die Forschungsförderung des Pentagon.

Die gemeinsame Federführung des Verteidigungs- und Innenministeriums verweist allerdings darauf, dass erwartet wird, dass die Ergebnisse solcher Projekte auch im Bereich der „Inneren Sicherheit“ zur Anwendung kommen können. Die Leitung des Aufbaustabes der neuen Agentur wurde jedoch an Oberst Frank Werner Trettin aus dem 2017 gegründeten Kommando Cyber- und Informationsraum der Bundeswehr vergeben. Die Agentur soll etwa 70 Mitarbeiter*innen umfassen und sich auf Informationstechnologien wie die Künstliche Intelligenz und maschinelles Sehen fokussieren: „Während die DARPA jedoch ein breites Forschungsspektrum abbildet, beschränkt sich die ADIC auf das Gebiet der Informationstechnologie. Das wird sich auch in der finanziellen Ausstattung widerspiegeln: Im Gegensatz zur DARPA, die über 2,5 Mrd USD pro Jahr verfüge, könne die ADIC womöglich mit einer halben Milliarde EUR ausgestattet werden“.12

An dieser Stelle ist es womöglich wichtig, auf den Begriff der „disruptiven“ Technologien und die dahinterstehende Ideologie einzugehen, die gegenwärtig häufig im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz zum Ausdruck kommt. Der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Martin Stratmann, sprach im Hinblick auf die ADIC noch während der Koalitionsverhandlungen von einer geplanten „Agentur für Sprunginnovationen“, und verwendete damit einen sehr ähnlichen Begriff. Die dahinter stehende Ideologie geht davon aus, dass in verschiedenen Technologiefeldern wie der Genetik, der Quantentechnologie und der Künstlichen Intelligenz Fortschritte möglich sind und bevorstehen, deren Folgen noch nicht absehbar sind, aber als umfassend betrachtet werden. Besonders hervorgehoben werden dabei die möglichen „Erschütterungen“ im internationalen Wettbewerb und der Geopolitik, weshalb sich jede Nation und jeder geopolitische Machtblock bemühen müsste, diese Sprunginnovationen als erste zu entwickeln bzw. bei ihrer Erforschung „führend“ zu werden. In diesem Sinne definierte Stratmann, der als führender Kopf hinter der Idee des Cyber Valley gelten kann, als Ziel der neuen Agentur, „das Unerwartete zu identifizieren und im Sinne der Nutzung auch zu fördern“. Hinsichtlich der Forschung forderte er weiter: „Wir müssen den Mut haben, Dinge zu machen, die riskanter sind. Wir müssen den Mut haben, auch häufiger Dinge zu machen, die dann doch nicht funktionieren“.13 Auch das erinnert stark an die Philosophie der US-amerikanischen DARPA.

Die Verallgemeinerung militärischer Forschungsideologie

Wie sehr die Forschung zu Künstlicher Intelligenz als disruptive Technologie mittlerweile zum Thema der Außen- und Militärpolitik geworden ist, bezeugt u.a. die Zeitschrift „Internationale Politik“ (IP), nach eigenen Angaben „Deutschlands führende außenpolitische Zeitschrift“, deren aktuelle Ausgabe dem Schwerpunktthema „Künstliche Intelligenz“ gewidmet ist. Im ersten Beitrag bringt Ludwig Siegele die Ideologie der disruptiven Technologie bereits im Titel auf den Punkt: „Eine Frage der Zeit – Künstliche Intelligenz wird die Weltpolitik durcheinanderwirbeln“. Darin wird Deutschland als „Nachzügler“ auf diesem Gebiet bezeichnet und behauptet: „Ein Land, das diese Entwicklung zu ignorieren versucht, wird an Relevanz verlieren“.14 Das folgende Interview mit der ehemaligen Staatssekretärin im Bundesverteidigungsministerium, Katrin Suder, die selbst über neuronale Netze promoviert hat, beginnt mit der Frage: „was ist Künstliche Intelligenz und warum spielt das Thema auf einmal in der Sicherheitspolitik so eine große Rolle?“.

Suder erklärt darin u.a., warum „Deutschland und insbesondere auch die Bundeswehr so stark in das Thema investieren“. Und sie zeigt sich als Anhängerin der Theorie der sog. „Revolution in Military Affairs“: Deren Kernthese ist es, dass diejenige Partei den nächsten Krieg gewinnen wird, die bei der Entwicklung der nächsten militärisch relevanten Technologie am weitesten fortgeschritten ist. In diesem Sinne äußert Suder hinsichtlich Künstlicher Intelligenz: „wie bei jeder Technologie geht es um Vorherrschaft“. Nach der Theorie der Revolution in Military Affairs ist aktuell die Informationsverarbeitung die entsprechende Schlüsseltechnologie, die über Sieg und Niederlage entscheidet, wie offenbar auch Suder meint: „wer es schafft, die beste KI zu entwickeln, hat wiederum einen Verteidigungs- oder gar Angriffsvorteil … Es werden immer mehr Daten und Informationen gewonnen und ausgewertet. Und dadurch, durch die Digitalisierung der Erhebung, Verarbeitung und Präsentation all dieser Daten, kann man Wirkungsüberlegenheit erlangen. Wer bessere Informationen hat, wem es gelingt, all diese Informationen zusammenzufügen, der gewinnt“.

Genau diese Art von Informationsverarbeitung sei Kern und Aufgabe Künstlicher Intelligenz: „KI lebt von Daten, damit sie lernen kann. Denn das macht eine KI – Unmengen an Daten verarbeiten und abgleichen, immer besser werden, um ein spezifisches Problem zu lösen. Je mehr Daten, je schneller die Computer, desto besser die KI“.15 Ganz ähnlich beschreibt auch Siegele den Prozess der KI-Entwicklung: „Neuronale Netze, ein statistisches, vom menschlichen Gehirn inspiriertes Verfahren, werden zunächst mit Unmengen von Daten gefüttert (etwa mit Bildern von Katzen), damit sie lernen, Muster zu erkennen (wie Katzen aussehen). In der zweiten Stufe werden ihnen dann neue Daten präsentiert, auf die sie das Gelernte anwenden. Vereinfacht ausgedrückt: KI-Code wird nicht, wie andere Software, von Programmierern geschrieben, sondern von Daten“.

Die Theorie der „Revolution in Military Affairs“ und auch ihre aktuelle Ausprägung, welche die Informationsverarbeitung in den Mittelpunkt stellt, ist deutlich älter als der aktuelle Hype um den Begriff der disruptiven Technologien. Dieser stellt jedoch eine Verallgemeinerung der militärischen Sichtweise auf Forschung dar und scheint zugleich geeignet, wahlweise mit militär- bzw. geopolitischen oder ökonomischen Begründungen umfangreiche öffentliche Mittel für riskante und militärisch relevante Forschung zu mobilisieren und mögliche ethische oder gesellschaftliche Diskussionen über die Zielsetzung und Ausrichtung von Forschung auszuschalten: Wenn nicht „wir in Deutschland“ diese Forschung in Schlüsseltechnologien vorantreiben, werden es andere tun und „wir in Deutschland“ werden „an Relevanz verlieren“. So auch der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft in seinem Interview zu Beginn des Jahres, das zunächst von einem eher nationalistischen Zungenschlag geprägt ist, später jedoch in Bezug auf die Förderung von „Sprunginnovationen“ dieselbe Argumentation für „Europa“ wiederholt: „Wir reden ja nicht nur von Deutschland, sondern wir reden auch von großen Forschungsräumen, die untereinander in Konkurrenz stehen. Das sind im Wesentlichen die USA, Asien und Europa, und unsere Heimat ist Europa. Wir müssen also dafür sorgen, dass Europa stark bleibt, stark wird“. Eine ganz ähnliche Begründung findet sich auch auf der Homepage des Cyber Valley: „Maschinelles Lernen sei das Herzstück einer technologischen und gesellschaftlichen Revolution der künstlichen Intelligenz, bei der Europa drohe abgehängt zu werden … Um mit den USA und China mithalten zu können, bedarf es einer europäischen Anstrengung“. Gefordert wird deshalb aus dem Cyber Valley nun auch noch der „Aufbau eines Europäischen Labors für Lernende und Intelligente Systeme (ELLIS)“. Auch hier könnten Deutschland und Frankreich „den Anfang machen“.16

Der Aufbau eines Rüstungsstandortes

Auch das Statement des Rektors der Tübinger Universität, Bernd Engler, zur Gründung des Cyber Valleys ist wesentlich von der Vorstellung internationalen Wettbewerbs geprägt: „Wenn wir erfolgreich sind, legen wir hiermit eine wesentliche Grundlage für die erfolgreiche ökonomische Entwicklung Deutschlands in den kommenden Jahrzehnten“.17 Das ist beispielhaft, denn in Tübingen und der Region dominiert die Argumentation, dass die KI zur internationalen Konkurrenzfähigkeit des Standorts beitragen würde, während die Bezüge zu Militär und Rüstung – sicher teilweise auch bewusst – ausgeblendet werden. So behauptete der Direktor der Abteilung maschinelles Lernen von Amazon, Ralf Herbich, anlässlich seines „Antrittsbesuchs im [Tübinger] Technologiepark“ gegenüber dem Schwäbischen Tagblatt „dass die Mitglieder keine militärische Einsetzung von KI unterstützen“.18 Das ist angesichts der Beteiligung von ZF Friedrichshafen am Cyber Valley und von Airbus und DLR am Business Incubation Centre bereits auf einer oberflächlichen Ebene unehrlich.

Es ist jedoch davon auszugehen, dass einem KI-Forscher wie Ralf Herbich auch die Gründe bekannt sind, warum die KI-Forschung von staatlicher Seite so umfangreich unterstützt wird und dass eine pauschale Aussage, wonach man keine „militärische Einsetzung von KI“ unterstütze, praktisch wertlos, da in der Umsetzung kaum machbar ist. So wird in Tübingen bereits seit Jahren (vermutlich tatsächlich primär aus wissenschaftlichem und kommerziellem Interesse) an einzelnen Komponenten der (Selbst-)Steuerung von Drohnen geforscht, wie sie auch von der Bundeswehr eingesetzt werden. Dass entsprechende Erkenntnisse zum autonomen Landen, Routenplanung und Schwarmverhalten von Drohnen19 jedoch v.a. für das Militär relevant sind und hier als erstes umgesetzt werden, sollte den Beteiligten klar sein und es bedarf weit mehr als (vermeintlichen) Absichtserklärungen, um dies zu verhindern.

Dasselbe gilt für die vom Cyber Valley explizit geförderte Start-Up-Kultur, an welche die Bundeswehr ebenfalls andocken möchte. Auf Initiative der (bereits zitierten) ehemaligen Staatssekretärin Suder richtete die Bundeswehr parallel zum Aufbau ihres Kommandos Cyber- und Informationsraum im Jahre 2017 einen Cyber Innovation Hub (CIH) ein, der im April 2018 seine Büros in Berlin-Moabit eröffnete und eine „Schnittstelle zwischen Startup-Szene und Bundeswehr“ darstellen soll: „Er hat den Auftrag, digitale Innovationen innerhalb der Bundeswehr voranzutreiben. Der Hub identifiziert innovative Technologien in der internationalen Startup-Szene und entwickelt und validiert diese für die Bundeswehr. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf disruptiven Technologien aus den Bereichen Cyber/Informationstechnik und digitalen Produkten und Services“.20

Während Verteidigungsministerium und Bundespolitik die Künstliche Intelligenz als Schlüsseltechnologie zum Ausbau der militärischen und ökonomischen Stellung Deutschlands definiert haben, erklärt sich das Cyber Valley bereits jetzt zum “stärkste Forschungsstandort in Sachen Künstliche Intelligenz bundesweit“. Aktuell führe das Cyber-Valley-Konsortium Aufnahmegespräche mit weiteren Firmen und es gäbe „über ein Dutzend weitere Anfragen“.21 Jenseits der unmittelbaren Beteiligung am Cyber Valley soll das Projekt jedoch auch eine Sogwirkung entfalten und weitere Unternehmen anlocken, die neue Erkenntnisse oder gut ausgebildetes Personal abgreifen und – wie etwa Atos – als Zulieferer und Betreiber fungieren können.

Sollte das Cyber Valley – mit dem ja nicht nur die Obere Viehweide (auf einem Berg) in Tübingen, sondern das gesamte Neckartal zwischen Tübingen und Stuttgart gemeint ist – sich entsprechend den gegenwärtig noch etwas großspurig wirkenden Ziele entwickeln, ist absehbar, dass sich die Region zu einem neuen Rüstungsstandort entwickeln wird – ganz unabhängig von den Intentionen der Beteiligten. Dass dies öffentlich nicht als Ziel oder auch nur Möglichkeit thematisiert, sondern eher mit der Wettbewerbsfähigkeit und Standortlogik argumentiert wird, ist auch deshalb nachvollziehbar, weil bereits jetzt auch negative Folgen des Projekts auf Wohnungs- und Baukosten sowie auf die Vielfalt und Selbstbestimmung in Forschung und Lehre erkennbar erscheinen. So berichtete etwa das Schwäbische Tagblatt jüngst unter dem Titel „Die Angst der Orchideen“, dass sich viele ins Abseits gedrängte Disziplinen „Sorgen um ihre Zukunft machen“. In einem Interview zu diesem Thema offenbarte Theresia Bauer, wie sehr auch eine (grüne) Wissenschaftsministerin auf Landesebene den Wert der Wissenschaft v.a. geopolitisch definiert. Auf die Frage, warum man „Fächer, für die sich offenbar nur wenige Menschen interessieren, eigentlich erhalten sollte“, antwortete sie: „Man weiß nie, wann solches Wissen plötzlich sehr wichtig wird. Nehmen wir mal als Beispiel Ukrainistik (Fachbereich Slavistik) im Zusammenhang mit der Annektierung der Krim durch Russland“.22

Nachdem zunächst zwar viel individuelles Unbehagen, aber lange kein Widerstand gegen die Entwicklung des Neckartals zum Cyber Valley sichtbar wurde, ist für Freitag, den 6. Juli 2017 eine erste Kundgebung zum Thema unter dem Motto „Gegen den Ausverkauf der Stadt, der Universität und des Wissens!“ angekündigt. Im Aufruf heißt es u.a.: „Eine von der Industrie und militärischen Interessen angetriebene KI-Forschung wird uns einer Lösung der drängenden Menschheitsfragen nicht näher bringen, sondern die aktuellen Krisen und die internationale Konkurrenz bei der Entwicklung ‚disruptiver Technologien‘ nur weiter verschärfen. Das von den Universitäten, der Politik und der Industrie im Stillen vorbereitete Cyber Valley zersetzt die Freiheit der Wissenschaft, die letzten Reste einer demokratisch strukturierten Hochschule und jede Ansätze einer Stadtentwicklung von unten“.23

Anmerkungen

1 So die aktuelle Selbstdarstellung unter https://cyber-valley.de/de. Unter den beteiligten Firmen wird hier nicht mehr Facebook, nun aber Amazon genannt.

2 „Cyber Valley: Startschuss für eine der größten Forschungskooperationen“, Pressemitteilung des Staatsministeriums Baden-Württemberg vom 15.12.2016. Hier wird noch Facebook als beteiligter Partner genannt.

3 „Startschuss für das Cyber Valley“, Mitteilung der Max-Planck-Gesellschaft vom 15.12.2016.

4Vorlage 107/2018 der Fachabteilung Projektentwicklung der Universitätsstadt Tübingen.

7 „Neuer Raumfahrt-Hotspot für Hessen und Baden-Württemberg“, Mitteilung der ESA (Deutschland) vom 14.4.2018.

8 Marius Pletsch: Eine EU-Drohne für Europas Kriege, IMI-Analyse 2017/19.

10 „Zentrum für Künstliche Intelligenz soll in Baden-Württemberg entstehen“, Pressemitteilung des Landesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg vom 28.3.2018.

11 Christoph Marischka: Fraunhofer IOSB – Dual Use als Strategie, IMI-Studie 2017/02.

13 „’Glaubwürdigkeitskrise der gesellschaftlichen Eliten’“, Martin Stratmann im Gespräch mit Ralf Krauter, deutschlandfunk.de vom 24.1.2018.

14 Ludwig Siegele: Eine Frage der Zeit – Künstliche Intelligenz wird die Weltpolitik durcheinanderwirbeln, in: Internationale Politik 4, Juli-August 2018, S. 8 – 13.

18 „Läden werden wichtig bleiben“, Schwäbisches Tagblatt vom 23.5.2018.

19 Informationsstelle Militarisierung (2013): Drohnenforschungsatlas.

21 „Start-up-Firmen haben Vorrang“, Schwäbisches Tagblatt vom 2.5.2018.

22 „Die Angst der Orchideen“ und „Mithelfen, damit das in Gang kommt“, Schwäbisches Tagblatt vom 4.7.2018.