IMI-Analyse 2003/035b - in: UZ vom 25.07.2003

Die „europäische Nation“ trägt Uniform

EU auf globalem Interventionskurs

von: Arno Neuber | Veröffentlicht am: 4. September 2003

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Auseinandersetzungen zwischen der Bush-Regierung und dem politischen Führungspersonal in Paris und Berlin über den Irak-Kurs waren keine Kontroverse zwischen bellizistischen „Bush-Kriegern“ und einer europäischen „Achse des Friedens“, sondern der erstmals offen ausgetragene Konflikt darüber, wie die „Schlachtordnung“ der verschiedenen imperialistischen Mächte bei der militärischen Absicherung der kapitalistischen Globalisierung künftig aussehen soll.

Hatte die US-Regierung zuvor praktisch das gesamte Konstrukt von Abstimmung, Interessenausgleich und Machtbalance zugunsten eines unumschränkten Führungsanspruches niedergerissen oder aufgekündigt, nutzten Paris und Berlin im Vorfeld des Irak-Krieges die Gelegenheit, der Hegemonialmacht die Grenzen ihrer politischen Macht deutlich zu machen.

Medienkampagne und EU-Verfassung

Erstmals hat in der Irak-Auseinandersetzung eine Bundesregierung mit dem ehernen außenpolitischen Grundsatz gebrochen, sich nach Möglichkeit niemals zwischen Paris und Washington zu entscheiden – und wenn doch, dann die US-Karte zu spielen, die bisher immer über die besseren Trümpfe verfügte.

Und gleichzeitig wurden Deutschland und Frankreich noch nie so offen mit dem Umstand konfrontiert, dass innerhalb Europas – über Großbritannien hinaus – offene Gegenmachtbildung mit US-Unterstützung betrieben wurde. Ein deutliches Signal für die Strategen in Berlin und Paris, die Zügel in der EU wieder in die Hand zu nehmen.

Seit Frühjahr läuft in den deutschen Medien eine ideologische Europa-Kampagne, die versucht, aus den Massenaktionen der Friedensbewegung gegen den Irak-Krieg Honig zu saugen für ein europäisches Konkurrenzprojekt zur US-Hegemonie. Der Tag der millionenfachen weltweiten Mobilisierung gegen den Krieg, soll zum Gründungsmythos dieses Projektes umgelogen werden.

„Am Samstag, dem 15. Februar 2003 ist auf der Straße eine Nation geboren“, schreibt der ehemalige französische Wirtschafts- und Finanzminister Dominique Strauss-Kahn in einem Beitrag für „Le Monde“, den die Frankfurter Rundschau am 11. 3. 03 nachdruckt, „Diese neue Nation ist die europäische Nation … Es fehlt ihr gewissermaßen nur noch eine politische Exekutive, die der Herausforderung würdig ist.“

Auf der gleichen Zeitungsseite greifen die drei SPD-Fraktionsvize Gernot Erler, Michael Müller und Angelika Schwall-Düren den Gedanken auf und bringen die „Vision Europa“ auf den Punkt: „Den Vereinigten Staaten droht eine Überdehnung als Folge einer Politik der Stärke … Wer jetzt nicht begreift, dass deshalb vieles auf Europa zuläuft (Joseph Fischer), der wird es nie begreifen … Dies geht nicht ohne eine Gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik (GASP).“ In der Folgezeit organisiert namentlich die FAZ eine Europa-Debatte, in der sich Intellektuelle und Politiker von Habermas bis Schäuble die Bälle zuspielen und eine Kritik am imperialistischen Festungswerk EU nicht mehr vorkommt.

Währendessen arbeitet der sogenannte Europäische Konvent, von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, an einer EU-Verfassung, die die Militarisierung der Union zu ihrem Grundgesetz macht.

Am 29. April treffen sich in Brüssel die Staatschefs von Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg und beschließen konkrete Vereinbarungen für ein militärisches „Kern-Europa“, wie es zuvor bereits von Fischer und seinem französischen Amtskollegen de Villepin in die Debatte geworfen worden war. Das Treffen, mitnichten ein bloßer „Pralinen-Gipfel“, wie in einigen bürgerlichen Blättern geschrieben, macht Druck auf den Europäischen Konvent. Das Prinzip der „verstärkten Zusammenarbeit“ soll auf die Militärpolitik ausgedehnt werden und Verfassungsrang erhalten. Damit wären deutsch-französische Pläne abgesichert, EU-Militärstrukturen voranzutreiben, ohne auf innereuropäische Widerstände Rücksicht nehmen zu müssen.

Der Vierergipfel drängt auf eine Forcierung künftiger EU-Militärinterventionen. Sie sollen auch „anspruchsvollste Aufgaben“ übernehmen. Es wird vereinbart, „bei den Investitionen in die militärische Ausrüstung“ mehr Geld locker zu machen. Die bereits bestehende deutsch-französische Brigade wird um belgische und luxemburgische Einheiten verstärkt werden und dann als schnelle Eingreiftruppe einer EU-Interventionsarmee dienen. Aufgabe laut Frankfurter Rundschau vom 30. 4. 03: „Als erste auf feindliches Gebiet vorzudringen.“

Vor allem aber soll ein EU-Planungs- und Kommandostab aufgebaut werden zur Durchführung „EU-geführter Operationen ohne Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der NATO“. Das sorgte für beträchtlichen Wirbel in London und Washington. Ein eigenständiger Gipfel-Tagesordnungspunkt „NATO-unabhängiges EU-Hauptquartier“ wurde deshalb kurz vor dem Treffen von der Tagesordnung genommen (FTD, 30. 4. 03).

Ende Juni fand im griechischen Porto Carras (Thessaloniki) ein EU-Gipfeltreffen statt. Der Vorsitzende des Europäischen Konvents, Giscard d´Estaing, schlug dort nicht nur die Einführung des Amtes eines Außenministers der Europäischen Union vor, sondern präsentierte auch einen EU-Verfassungsentwurf, der die Errichtung eines „Europäischen Amtes für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten“ vorsieht sowie „besondere Möglichkeiten für die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten (…), die in diesem Bereich weiter vorangehen wollen.“ Die Brüsseler „Kerneuropa“-Initiative war also von Erfolg gekrönt.

„Für eine bessere Welt …“

Der Text des Verfassungsentwurfes, der bis zum Europäischen Rat im Dezember 2003 zur Debatte steht (nach Meinung der führenden EU-Staaten aber nicht mehr angetastet werden soll) und im Mai 2004 – noch vor den Europa-Wahlen – verabschiedet werden soll, enthält auch die Festlegung zur „Bekämpfung des Terrorismus“ mittels europäischer „Missionen“, die von „Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung“ bis zu „Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung“ gehen können. Verfassungsmäßig abgesichert ist auch die „Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet.“ (Artikel III-205)

Darüber hinaus legte Javier Solana, der EU-Beauftragte für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), ein Papier für eine EU-Sicherheitsstrategie vor unter dem Titel „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“.

Das Papier fällt durch holzschnittartige Beschreibung der Lage der Welt auf. Wird einleitend festgestellt, „nie zuvor ist Europa so wohlhabend, so sicher und so frei gewesen“, so heißt es wenige Sätze später, dass in den letzten Jahren „europäische Streitkräfte häufiger ins Ausland verlegt worden (sind) als in jedem früheren Jahrzehnt.“ Nur verschämt benennt das Papier die Folgen der kapitalistischen Globalisierung, wenn festgestellt wird: „Die Handels- und Investitionsströme, die technologische Entwicklung und die Verbreitung der Demokratie haben vielen Menschen mehr Freiheiten und wachsenden Wohlstand gebracht (…) Trotz dieser ermutigenden Entwicklungen sind viele Probleme weiterhin ungelöst und manche haben sich zum Teil gar verschlimmert.“

Zusammenhänge werden nicht hergestellt, stattdessen wird der Kern der weltweiten Probleme in der „schlechten Staatsführung“ einiger Länder gesehen.

Dass die EU ihren Militärapparat nicht aus humanitären Motiven unterhält, schimmert immerhin durch, wenn das Solana-Papier einen „weiteren Grund zur Besorgnis“ in der Energieabhängigkeit der EU sieht. Ansonsten bietet das Papier in seiner „Bedrohungsanalyse“ ein Sammelsurium von Stichwörtern, wie sie in den letzten Jahren bei europäischen Militärs unter der Bezeichnung „Erweiterter Sicherheitsbegriff“ zum Standard geworden sind: Hunger, Flüchtlingsströme, „Temperaturanstieg“, Drogen. Insbesondere aber folgt es den drei Vorgaben US-amerikanischer Strategiepapiere: Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, „gescheiterte Staaten“.

Als „strategisches Ziel“ einer eigenständigen EU-Außenpolitik wird eine Weltordnung genannt, „die sich auf einen wirksamen Multilateralismus stützt“. Ziel der EU soll eine „normengestützte Weltordnung sein“. Während die Bush-Regierung keinen Hehl aus ihrer Verachtung internationaler Institutionen und internationalen Rechtes macht, will die EU den Weg gehen, internationales Recht „Entwicklungen wie Proliferation, Terrorismus und globale Erwärmung“ anzupassen. Staaten, die sich der EU-Interpretation von internationalen Normen nicht fügen oder deren innere Verfasstheit den EU-Strategen nicht passt, wird unverblümt mit dem militärischen Knüppel gedroht. „Eine Reihe von Staaten haben sich von der internationalen Staatengemeinschaft abgekehrt. Einige haben sich isoliert, andere verstoßen beharrlich gegen die internationalen Normen innerer Staatsführung oder des Verhaltens in den internationalen Beziehungen. Es ist zu wünschen, dass solche Staaten zur internationalen Gemeinschaft zurückfinden. Diejenigen, die hierzu nicht bereit sind, sollten sich darüber im Klaren sein, dass sie dafür einen Preis bezahlen müssen.“

Namentlich wird Nordkorea im EU-Papier genannt. Auf Pressekonferenzen während des Gipfels gab es auch offene Drohungen gegen den Iran. Die EU, wird Joseph Fischer zitiert, sei „über die Nuklearisierung eines nahöstlichen Staates sehr, sehr besorgt – und das ist noch vorsichtig formuliert.“ (Die Welt, 21. 6. 03) Der „Preis“, den die EU für unbotmäßiges Verhalten androht, schreibt die Zeitung mit Verweis auf EU-Diplomaten weiter, „könne im äußersten Falle auch ein Regimewechsel sein.“

Und auch die Bereitschaft zum militärischen Erstschlag fordert Solana von den EU-Mitgliedstaaten. „Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen.“ Selbstbewusst wird der US-Führung eine globale Interventionspartnerschaft angeboten. „Zusammen mit Amerika könne die Europäische Union hervorragend das Gute in der Welt stärken.“

Spannend wird sein, wie das Verhältnis der EU zur NATO künftig formuliert wird. Von deutscher Seite gab es dazu in den letzten Wochen bemerkenswerte Tabubrüche. In einer Bundestagsrede am 6. Juni zur NATO-Osterweiterung forderte Außenminister Fischer, die NATO „neu zu erfinden“. Es müsse „ernsthaft über so etwas wie eine Eurogroup in der NATO“ diskutiert werden. Er forderte die US-Führung direkt auf, „das Tabu der Bildung einer europäischen Gruppe“ in der NATO zu brechen.

In der Vergangenheit hatten US-Politiker – Demokraten wie Republikaner – die Europäer immer wieder vor einem „eigenständigen und konflikthaften“ Weg (Henry Kissinger) gewarnt. Bereits im Herbst 1999 zog der damalige stellvertretende US-Außenminister Strobe Talbott eine rote Linie. „Wir möchten keine ESVI (Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität, A. N.), die erst innerhalb der NATO entsteht, dann aber der NATO entwächst und sich schließlich der NATO entfremdet.“ Die Bildung einer europäischen Fraktion innerhalb der NATO gilt als ausdrückliches Überschreiten dieser Grenze. Fischers Vorstoß kommt also einer offenen Kampfansage gleich.

Mehr Geld für mehr Waffen

Für gute Stimmung bei den Rüstungskonzernen sorgt die Ankündigung der Bundesregierung, nach Großbritannien und Frankreich nun auch Deutschlands Rüstungshaushalt absolut zu steigern. Die Umschichtung des Etats in Richtung Beschaffungen für die Eingreiftruppe reicht nicht mehr aus. Ab 2006 wird nach einer Vereinbarung zwischen dem „Verteidigungs“- und dem Finanzminister der Etat der Bundeswehr um jährlich 800 Millionen Euro erhöht. Und das zur gleichen Zeit, in der die Schröder-Regierung den Sozialstaat zum Abschuss frei gibt. Auf europäischer Ebene werden dazu Vorschläge gehandelt, den Rüstungsbereich von den Maastricht-Stabilitätskriterien auszunehmen.

Was auf EU-Ebene mit dem Solana-Papier vollzogen wurde, hat Peter Struck für die Bundeswehr geleistet. Mit den am 21. 5. 03 erlassenen neuen „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ (VPR) wird die deutsche Armee zum global einsetzbaren außenpolitischen Knüppel. Struck lässt für kommende Militäreinsätze nur noch eine einzige Beschränkung zu: „Bewaffnete Einsätze der Bundeswehr mit Ausnahme von Evakuierungs- und Rettungsoperationen werden nur gemeinsam mit Verbündeten und Partnern im Rahmen von VN, NATO und EU stattfinden.“ (Ziffer 11)

Das allerdings kontrastiert deutlich mit dem, was Außenminister Fischer am 18. Juni zum Thema Bundeswehrbeteiligung am Kongo-Einsatz vorgetragen hat. „Ich verhehle hier nicht“, hieß es in seiner Rede, „dass wir uns nicht ganz sicher waren, ob es ein ESVP-Einsatz sein sollte oder eher eine ´coalition of the willing´. Die Bundesregierung wäre auch bereit gewesen, eine Koalition der Willigen zu unterstützen.“

Zu Jahresbeginn staunte die Frankfurter Allgemeine Zeitung, wie offen sich der oberste Soldat der Bundeswehr, Generalinspekteur Schneiderhahn, zu Angriffskriegen äußerte. „Was er andeutet, kommt einer Revolution gleich“, schreibt die Zeitung in ihrer Ausgabe vom 23. 1. 03. Der General fragt, „ob es richtig sein kann, nicht abzuwarten, ob man von einem anderen angegriffen wird, sondern sich gegen diese mögliche Gefahr vorauseilend zu schützen und selbst die Initiative zu ergreifen.“

Wenn die „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ sich derzeit noch nicht offen zum Prinzip „Angriff ist die beste Verteidigung“ bekennen, hat das offenbar ausschließlich mit Rücksichtnahmen auf den Stand des öffentlichen Bewusstsein in Deutschland zu tun.

Zuletzt hatte sich bei einer NFO-Infratest-Umfrage vom 17. bis 19. Juni eine deutliche Mehrheit gegen ein solches Konzept gestellt. Auf die Frage „Die EU will künftig Staaten, die sich an der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen beteiligen, als letztes Mittel auch mit militärischer Gewalt drohen. Was halten Sie von dieser Strategie?“ sagten 80 Prozent der Befragten: „Lehne ich ab“. („Der Spiegel, 23. 6. 03)

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