IMI-Standpunkt 2023/041

Mutwillig oder fahrlässig?

Wie Grüne und Sozialdemokraten dauerhaft hohen Militärausgaben und Sozialkürzungen den Weg bereiten

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 6. November 2023

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Mit zwei bemerkenswerten Reden meldete sich Verteidigungsminister Boris Pistorius in den letzten Tagen zu Wort: Während dabei der „Kriegstüchtigkeitsrede“ in den Medien viel Beachtung geschenkt wurde,[1] ging ein zweites nur wenige Tage zuvor mit der Sendung Streitkräfte & Strategien geführtes Interview weitgehend unter, in dem er einmal mehr ein Ende der – ohnehin bescheiden ausgefallenen – Friedensdividende forderte: „Wir reden hier über Investitionen, die 30 Jahre lang nicht nötig waren. Alle haben zu Recht und gut gelebt von 30 Jahren Friedensdividende, wie wir das nannten. Aber diese Zeit ist jetzt leider vorbei. Wir müssen wieder über Abschreckung und Verteidigung reden und das kostet Geld.“  

Konkret geht es hier um die Frage, ob, wie und wie lange Militärausgaben im Umfang von 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) erreicht werden sollen. Ab dem kommenden Jahr wird dieser Wert vor allem durch Entnahmen aus dem Sondervermögen der Bundeswehr wohl sogar ein klein wenig überschritten werden. Allerdings macht kaum mehr jemand ein Geheimnis darum, dass dieser Schuldentopf aller Wahrscheinlichkeit bis 2027 oder spätestens 2028 aufgebraucht sein wird. Woher dann die Gelder für das 2%-Ziel kommen sollen, steht bislang noch in den Sternen und in jedem Fall nicht in der aktuellen Mittelfristigen Finanzplanung. Sie sieht für das Jahr 2027 bislang Militärausgaben vor, die von 2% des BIP meilenweit entfernt sind – zwischen Anspruch und Planung klafft derzeit eine gigantische Lücke von 30 bis 35 Milliarden Euro (siehe IMI-Studie 2023/02).

Vor diesem Hintergrund birgt nun eine kürzliche Interview-Aussage des Verteidigungsministers, er habe für die Zeit nach dem Ende des Sondervermögens bereits feste Finanzierungszusagen in dieser Größenordnung erhalten, erheblichen Sprengstoff. Schließlich kann diese Lücke nur über zwei Arten geschlossen werden, entweder durch ein zweites Sondervermögen, wofür die sogenannte Schuldenbremse aber erneut ausgesetzt werden müsste; die zweite Möglichkeit bestünde darin, den Betrag durch Umschichtungen im Haushalt loszueisen, was allerdings gleichbedeutend mit massiven sozialen Einschnitten wäre, für die interessierte Kreise bereits jetzt die Werbetrommel rühren.

In jüngsten Aussagen haben sich nun eine Reihe sozialdemokratischer und grüner Spitzenpolitiker*innen festgelegt, indem sie sich klar für Option eins aussprachen. Die „Notwendigkeit“ astronomischer Militärausgaben oberhalb von 2% des BIP wird dabei also überhaupt nicht mehr in Frage gestellt, sondern nur dafür plädiert, die Gelder durch eine erneute Aussetzung der Schuldenbremse aufzubringen, um nicht die Axt an einer Reihe anderer Haushalte ansetzen zu müssen. Die Sache hat nur einen großen Haken: Weil es dafür der mehr als fraglichen Zustimmung der CDU bedürfte, werden mit diesen Statements bewusst oder unbewusst Sozialkürzungen zugunsten hoher Rüstungsausgaben Tür und Tor geöffnet.

Langfristige Finanzierungszusage

Im kommenden Jahr sollen Militärausgaben von 2% des BIP, also rund 85 Mrd. Euro, über einen Mix aus drei Töpfen erreicht werden. Laut Haushaltsentwurf sollen 19,2 Mrd. Euro aus dem Sondervermögen stammen und 14,5 Mrd. Euro nach NATO-Kriterien hinzukommen[2], während der eigentliche Verteidigungshaushalt „nur“ eine relativ kleine Erhöhung von 50,1 (2023) auf 51,8 Mrd. Euro (2024) erhalten soll.

Am 26. Oktober 2023 zeigte sich Verteidigungsminister Boris Pistorius im Interview mit Streitkräfte & Strategien dennoch überaus zufrieden mit dem Ergebnis: „Ich bin das einzige Haus, das einen nennenswerten Aufwuchs hat. Das einzige Ministerium, zwei kleinere haben noch minimale Aufwüchse, aber alle anderen mussten abliefern. […] Nochmal zur Erinnerung: Wir mussten in diesem Haushaltsjahr 16 Milliarden Euro einsparen, über alle Ressorts. Dann ist es schon bemerkenswert, wenn bei mir dann mehr kommt, als vorher da war und gleichzeitig, da mache ich kein Hehl draus, ist es zu wenig. Deswegen ist es gut, dass wir jetzt gesagt haben, wir nehmen das Sondervermögen verstärkt mit rein. Aber sie haben völlig recht, das wird 2027/2028 verausgabt sein“.

Allzu große Kopfschmerzen scheint dem Verteidigungsminister die Aussicht auf das Ende des Sondervermögens allerdings nicht zu bereiten. Das ist auf den ersten Blick insofern überraschend, weil die im Juli von Finanzminister Christian Linder vorgelegte Mittelfristige Finanzplanung für 2027 einen Verteidigungshaushalt von 51,9 Mrd. Euro vorsieht. Auch in Kombination mit Ausgaben nach NATO-Kriterien, die von der Bundeswehr-Universität auf rund 8 Mrd. Euro geschätzt werden, verfehlt die bisherige Planung das 2%-Ziel, das 2027 wohl bei rund 95 Mrd. Euro liegen dürfte, deutlich (siehe IMI-Studie 2023/02).

Der Grund für Pistorius‘ Gelassenheit dürfte darin liegen, dass er allen offiziellen Planungen zum Trotz unter der Hand bereits verbindliche Zusagen erhalten haben will, dass die Ausgaben auch nach dem Ende des Sondervermögens auf hohem Niveau verharren werden. Dies jedenfalls gab er in seinem Interview gegenüber Streitkräfte & Strategien an: „Und ab ´27/´28 werden die 2% abgebildet sein. Der Bundeskanzler wird nicht müde zu betonen erstens, die 2% werden sichergestellt sein; und, ja, die Bundeswehr, das BMVg kann mit diesen 2% auch jetzt schon planen, was wir übrigens auch müssen, denn wir reden ja nicht über Beschaffungen, die sich auf ein Jahr beziehen, sondern wir reden immer über Beschaffungen, die sich auf Monate erstrecken oder Jahre in vielen Fällen, also reden wir über fünf, sechs, acht, zehn Jahre, also brauchen wir Verpflichtungsermächtigungen im Haushalt und die müssen zugelassen werden und diese Zusage hab ich!“

Rüstung durch Schulden?

Diese klare Aussage ist allein schon aus dem Grund erstaunlich, weil mit Fraktionschef Rolf Mützenich ein führender Sozialdemokrat noch vor nicht allzu langer Zeit das 2%-Ziel zumindest zwischenzeitlich offen in Frage stellte, während sein Parteikollege Pistorius nun angibt, er habe die entsprechenden Zusagen bereits im Sack. Wie hier die Kräfteverhältnisse in der Ampel aussehen, zeigten eine Reihe neuerer Aussagen, die allesamt zwei Kernbotschaften transportierten: Einmal, dass Militärausgaben von mindestens 2% des BIP zwingend geboten seien; und zweitens, dass dieser Betrag über die Aufnahme neuer Schulden aufgebracht werden solle.

So äußerte sich Grünen-Chef Robert Habeck, der u.a. in der Süddeutschen Zeitung (28.10.2023) zitiert wurde: „‘Wenn wir die Zeitenwende ernst nehmen, muss Deutschland für seine Sicherheit mehr tun. Dafür werden wir für die Bundeswehr viel Geld brauchen‘, sagte Vizekanzler Habeck der ‚Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung‘. ‚Aber das Sondervermögen wird in nicht allzu langer Zeit aufgezehrt sein – was dann‘, fragte der Grünen-Politiker. Als möglichen Ausweg hält er die Aufnahme von Krediten über den bisher zulässigen Rahmen hinaus für denkbar. ‚Die Schuldenbremse hat gute Gründe und sie gilt für die Arbeit dieser Koalition‘, machte Habeck deutlich. ‚Aber wir sollten über den Tag hinaus denken und überlegen, ob die politischen Regeln, die wir uns gegeben haben, unverändert zu den veränderten Zeiten passen.‘ Es brauche Antworten darauf, ‚wie wir auch über eine längere Strecke die verschiedenen Investitionsbedarfe im Land stemmen‘.“

Fast parallel dazu meldete sich auch SPD-Chefin Saskia Esken in der Presse zu Wort: „Durch die anhaltenden Krisen, nicht zuletzt durch den Überfall Russlands auf die Ukraine und den Konflikt im Nahen Osten, ergeben sich Herausforderungen, die wir nicht aus einem Normalhaushalt stemmen können, ohne dabei andere Aufgaben zu vernachlässigen“, sagte Esken der Rheinischen Post (30.10.2023). Eine Krisenbewältigung auf Kosten der sozialen Infrastruktur sei mit der SPD nicht zu machen. „Ich bin davon überzeugt, dass wir erneut eine Ausnahme von der Schuldenbremsen-Regelung benötigen.“[3]

Sackgasse Schuldenbremse

Was auf den ersten Blick womöglich als „vernünftig“ daherkommt, nämlich im Kern die Aussage, andere Budgets, vor allem die Sozialausgaben, dürften nicht den Militärausgaben zum Opfer fallen, wird sich allerdings mit einiger Wahrscheinlichkeit als das genaue Gegenteil entpuppen. Denn faktisch akzeptieren Habeck, Espen und Konsorten damit den artikulierten Bedarf für dauerhaft hohe Militärausgaben im 2%-Bereich – nur sollen die Gelder hierfür eben nicht durch Umschichtungen aus dem Sozialhaushalt, sondern durch ein erneutes Sondervermögen aufgebracht werden.

Das ist aber allein deshalb schon problematisch, weil eine Aussetzung der Schuldenbremse erneut von der Zustimmung der CDU abhängig wäre – und die wird womöglich keinen Finger rühren, um die Ampel aus ihrem selbstfabrizierten Dilemma zu befreien. Stattdessen wird sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Aussetzung der Schuldenbremse blockieren und die Bundesregierung genüsslich an ihre u.a. beim NATO-Gipfel in Vilnius getätigten Zusagen erinnern, mindestens 2% des BIP ins Militär zu stecken (IMI-Standpunkt 2023/027). Sollte die CDU aber eine Aussetzung der Schuldenbremse blockieren, bleibt dann faktisch nur noch die Möglichkeit, dann eben doch unter Verweis auf die getätigten Zusagen die Axt an den Sozialausgaben anzusetzen.

Ob fahrlässig oder mutwillig ist schwer einzuschätzen, in jedem Fall haben sich Grüne und Sozialdemokraten mittlerweile fahrlässig in eine Situation hineinmanövriert, in der sie kaum um massive Haushaltskürzungen herumkommen (sofern sie bis dahin noch auf der Regierungsbank zu sitzen). Es sei denn, es wird endlich die Prämisse in Frage gestellt, nämlich ob es uns wirklich sicherer macht, fast 20 Prozent des Bundeshaushaltes in das Militär zu stecken.


[1] Einen „Mentalitätswechsel in der Gesellschaft“ mahnte Verteidigungsminister Boris Pistorius vor wenigen Tagen in einem ZDF-Interview (29.10.2023) an. Was er damit meinte, fasste er kurz darauf mit folgenden Worten zusammen: „Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte, und das heißt, wir müssen kriegstüchtig werden, wir müssen wehrhaft sein und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen.“

[2] Dabei handelt es sich um militärrelevante Ausgaben, die nicht im Verteidigungshaushalt, sondern in anderen Budgets versteckt sind (zB die Kosten der Waffenlieferungen an die Ukraine).

[3] Um diese Zeit äußerten sich auch eine Reihe weiterer hochrangiger Politiker*innen in dieselbe Richtung. So wurde zB Bärbel Bas (SPD) im Tagespiegel (31.10.2023) folgendermaßen zitiert: „Als Präsidentin des Bundestags trete ich dafür ein, dass die Bundeswehr finanziell angemessen ausgestattet ist, damit sie dauerhaft Planungssicherheit hat und ihre Aufgaben erfolgreich erledigen kann.“ Im selben Artikel kommt auch Wolfgang Hellmich, der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, zu Wort: „Eine voll einsatzfähige Bundeswehr ist nicht kurzfristig zu erreichen. Ein sicherer Planungszeitraum von zehn Jahren muss auch finanziell in den Blick genommen werden […]. Das Instrument eines Sondervermögens unter voller Kontrolle des Parlaments parallel zum Aufwuchs des Verteidigungshaushaltes sollte hier weiter genutzt und ausgebaut werden.“