IMI-Standpunkt 2023/011 - in: Telepolis, 11.3.2023

Gegen Partei, Bevölkerung und Völkerrecht

Spanischer Ministerpräsident bekräftigt Marokkos Souveränität über Westsahara. Parlament geht mit Staatsbürgerschaft für Sahrauis in die andere Richtung.

von: Pablo Flock | Veröffentlicht am: 15. März 2023

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Seiner eigenen Linie bleibt der spanische Ministerpräsident jedenfalls treu: Er hatte schon im März 2022 den marokkanischen Autonomieplan als die „ernsthafteste, realistischste und glaubwürdigste Grundlage für eine Lösung des Konflikts“ um die ehemalige spanische Kolonie West-Sahara bezeichnet.

Von den Vereinten Nationen (UN) wird hingegen ein Referendum erwartet, in dem die sahrauische Bevölkerung über ihre Unabhängigkeit oder den Verbleib in Marokko entscheidet.

In seinem jüngsten Besuch im benachbarten Königreich bekräftigte Sanchez Anfang Februar die Unterstützung für Marokkos Vorschlag und bekam dafür vage Zusagen über eine Normalisierung des Zolls und Verkehrs von Waren und Gütern in die, großteils von Marokko umgebenen, spanischen Exklaven Ceuta und Melilla.

Bei vagen Zusagen blieb es wohl, weil der marokkanische König durchaus weiß, wie vorläufig eine solche Zusage eines gewählten Vertreters ohne den notwendigen Rückhalt ist.

Staatsbürgerschaft für Kolonialisierte

Schon im letzten Jahr machte das spanische Parlament deutlich, dass Sánchez für solche Deals keine Rückendeckung hat. Ausgerechnet die Partei Unidas Podemos (UP), die als Juniorpartner in der Regierungskoalition mit Sánchez‘ sogenannter Sozialistischer Arbeiterpartei (PSOE) fungiert, trieb eine parlamentarische Stellungnahme voran, die Sanchez‘ Akt verurteilte.

Außerhalb der PSOE stimmten damals keine Abgeordneten gegen das Zurückpfeifen Sánchez‘, und selbst innerhalb seiner Partei gab es abtrünnige Stimmen.

Knapp zwei Wochen nach dem jüngsten Besuch vom Februar 2023, nahm der Kongress eine Gesetzesinitiative der UP an, die Sahrauis, die vor der Entkolonialisierung im Jahr 1976 in der Westsahara lebten, sowie ihren Nachkommen die spanische Staatsbürgerschaft ermöglicht. Der Gesetzesentwurf muss auch noch von der zweiten Kammer, dem Senat, angenommen werden.

Innerhalb des Kongresses stimmte wieder ausschließlich die PSOE gegen den Entwurf, während sich die extremrechte Partei Vox enthielt. Alle anderen stimmten für den Entwurf, neben verschiedenen kleinen, meist linksgerichteten Fraktionen auch die Abgeordneten der größten Oppositionspartei, der konservativen Partido Popular.

Dies zeigt, wie stark der traditionelle Konsens innerhalb der Bevölkerung Spaniens und zwischen den Parteien ist, den Sahrauis das ihnen nach internationalem Recht zustehende Referendum zu gewähren. Im letzten Jahr erklärte Cuca Gamarra, der Fraktionssprecher der PP, dass ihre Verurteilung von Sanchez‘ unilateraler Anerkennung von Marokkos Souveränität über die Westsahara „der Position entspreche, die die PP immer hatte“.1

Grenzschutz als Unterpfand

Dies ist beachtlich für eine immigrationskritische, konservative Partei, da Sánchez Einlenken auf eine Erpressung Marokkos folgte, wobei Marokko für kurze Zeit den Grenzschutz zu den beiden Exklaven Melilla und Ceuta unterließ, woraufhin im Mai 2021 rund 10.000 irreguläre Migrant:innen Ceuta erreichten.

Marokko war damals verärgert, dass dem Führer der sahrauischen Unabhängigkeitsorganisation Polisario in Spanien ein Krankenhausaufenthalt zur Behandlung einer Covid-Erkrankung mit schwerem Verlauf gestattet wurde.

Im März 2022 gelangten dann wieder Hunderte Migrant:innen nach Melilla. Nach Sanchez‘ Kniefall zeigte sich Marokko jedoch wieder kollaborativ und hielt die von einem Leben in Europa Träumenden mit eiserner Faust ab. 23 Personen starben dabei durch Prügel marokkanischer Beamter.2

Vielleicht gab Sanchez, in den Augen der PP, das traditionelle Festhalten am Völkerrecht aber auch einfach zu billig auf. So kritisierte beispielsweise der Senator Juan Ortiz der PP am 21. Februar 2021 im Senat, dass nicht einmal die Zollämter von Melilla und Ceuta wieder geöffnet wurden, worauf seit Mai letzten Jahres gewartet wurde. Zudem fragte er den Senat entsetzt: „Wie konnte es sein, dass die Frage der [West-]Sahara nicht genutzt wurde, um die [spanische] Souveränität über Ceuta und Melilla zu festigen?“3

Marokko hält die beiden Enklaven immer noch für sein eigenes, von Spanien besetztes Gebiet. Solche Meinungen scheinen sich sogar bis in die progressive Zeitung El Mundo zu ziehen: „Dies, Herr Präsident, bleibt etwas, was uns kränkt: Sie haben etwas angeboten, das Ihnen nicht gehört, und im Gegenzug geben Sie uns Worte und eine Ladung von Absichtserklärungen, die kürzer halten als ein Lutscher am Schultor“,4 so die Journalistin Marisa Cruz im Bezug auf das legal unverbindliche Memorandum der Premierminister Marokkos und Spaniens.

Bio- vs. Energiepolitik

Ein weiterer Grund gegen Sanchez Billigung des marokkanischen Autonomieplans, der auch Rechte überzeugt, ist die Abhängigkeit von algerischem Gas. Algerien ist ein starker Unterstützer der sahrauischen Unabhängigkeitsbewegung. Die Lager, wohin sich die Sahrauies aus den besetzten Gebieten flüchteten, liegen auf seinem Gebiet. Zudem ist es der größte Gasexporteur Afrikas. Spanien sitzt gewissermaßen zwischen den Stühlen der beiden Nachbarn – vom einen besonders in der Migrationspolitik und vom anderen in Energiefragen abhängig.

Seit der Jahrzehnte dauernde Waffenstillstand zwischen Marokko und der POLISARIO im Jahr 2020 von letzterer als beendet erklärt wurde, nachdem Marokko eine zivile (unbewaffnete) Straßenblockade auf POLISARIO Gebiet mit Gewalt räumte, hat Algerien alle Beziehungen zu Marokko auf Eis gelegt. Zudem schloss es eine Pipeline, die über Marokko nach Spanien führt, damit Marokko kein Gas bekommen könne. Dies verringerte auch die Menge die nach Spanien gelangte, nun nur noch über die direkte Medgaz-Pipeline und als Flüssiggas auf Tankern. Zuvor war Algerien mit fast der Hälfte aller spanischer Gasimporte der größte Importeur des Landes. Nun, nachdem seine Exporte in das Land um rund die Hälfte fielen, ist es auf Platz zwei nach den USA, wobei auch russische Flüssiggasimporte zunahmen, wie die Opposition anprangert.

An den überproportional zu anderen westeuropäischen Ländern gestiegenen Gaspreisen leiden besonders energieintensive Industrien wie die Keramikindustrie, wo Spanien, nach China und gefolgt von Italien, einer größten Exporteure der Welt ist. Ausgerechnet Italien schloss Verträge über mehr Gaslieferungen mit Algerien ab, was der Senator Carles Garcia mitverantwortlich für ein wenigstens geringes Wachstum der Keramikbranche dort machte, während diese in Spanien um 15% schrumpfte.5

Marokkonische Legitimation von Außen

In Marokko scheint der Konflikt um die Westsahara derweil hauptsächlich als Stellvertreterkrieg dargestellt zu werden, in dem Algerien versucht Marokko zu destabilisieren. In einem vom Aljazeera-Programm Inside Story geführten Interview6 stellt die marokkanische Politikprofessorin Yasmine Hasnaoui, die an der Amerikanischen Internationalen Universität in Kuwait lehrt, die marokkanische Perspektive dar. Dabei wird offensichtlich, dass Marokko die Legitimität seines Autonomieplans besonders durch die Unterstützung dafür von äußeren Mächten gegeben sieht – wo es sie auch hauptsächliche zu erlangen suchen scheint.

In diesem Bereich hat es in den letzten Jahren zweifellos große Fortschritte gemacht. Der größte Wurf war sicherlich die Anerkennung der Souveränität über die Westsahara durch die Weltmacht USA. Diese tauschte der damalige Präsident Donald Trump gegen Marokkos Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel im Rahmen der sogenannten Abraham Accords ein. Mit der Initiative schaffte es Trump, einen Teil der Regierungen überwiegend muslimischer Länder, die diplomatische Beziehungen zu Israel wegen der Besatzung der palästinensischen Gebiete boykottierten, von diesem Weg abzubringen. Wie auch in Marokko wurden diese Verträge von Waffenlieferungen zuvor blockierter Systeme (zB. Kampfjets) flankiert. Marokko bekam die Westsahara dazu.

Deutschland auf Seite der Besatzer

Spanien zog nach den zeitweise unbewachten Grenzen nach und mit Antritt der neuen Bundesregierung ebenso die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock. Bei einem Besuch Baerbocks im Königreich und auf der Webseite des Auswärtigen Amts wurde dann ebenso verlautbart, dass Marokko mit seinem Autonomie-Plan „einen wichtigen Beitrag für eine solche Einigung“ gebracht hätte. Auch Deutschland hatte Marokko zuvor, mit einer Blockade aller diplomatischer Beziehungen und sogar der Entwicklungszusammenarbeit der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ), erpresst. Die vorherige Bundesregierung hatte auf Nachfrage noch geantwortet, dass man sehr wohl an diplomatischen Beziehungen interessiert sei, man würde sich „aber nicht unter Druck setzen lassen, dafür rechtsstaatliche und völkerrechtliche Prinzipien aufzugeben.“7

Baerbock lobte dann nicht nur den Autonomieplan, sondern auch die Zusammenarbeit bei regenerativer Energie und der Bekämpfung illegaler Migration. Es kam jedoch kein Wort von Baerbock zu den 23 Menschen, die kurz zuvor, bei Marokkos hartem Durchgreifen als Beweis seines guten Willens gegenüber Spaniens, starben.

Andererseits ist die Überbewertung der Lobe für den Autonomieplan Marokkos auch ein Fehler, wie ihn Hasnaoui im besagten Aljazeera Interview wiederholt macht. Sie spricht dort mehrfach von der Unterstützung des UN-Sicherheitsrats und auch der EU für den marokkanischen Autonomieplan. Wer die Resolutionen des Sicherheitsrats jedoch liest und die Verlautbarungen der EU ansieht – wie Hugh Lovatt vom European Council on Foreign Relations in dem Gruppeninterview auch gleich widerspricht – sieht dass hier, wie auch auf der Seite des Auswärtigen Amts, neben dem Lob für Marokkos recht alte Bemühung mit dem Autonomieplan von 2007, stets auch noch das Bekenntnis zur völkerrechtlich verbindlichen Verhandlungslösung und damit dem Referendum steht.

EU Bürger unter Besatzung

Marokko kann, wie es Prof. Hasnaoui im Interview macht, sich die Fakten zurechtbiegen und durch diplomatische Bemühungen Lob für seine recht weit zurück liegenden Bemühungen holen und Kritik umschiffen. Doch die völkerrechtlich bindenden Resolutionen, die das sahrauische Volk zum entscheidenden Souverän über die Frage der Staatlichkeit macht und die POLISARIO als Vertretung dieser zum Aushandlungsprozess berechtigt, kann Marokko nicht verändern. Ebenso kann Marokko durch die Ansiedlungsprogramme von Marokkanern in das rohstoffreiche benachbarte Gebiet nur die Bevölkerung dort verändern, nicht aber die, die völkerrechtlich zu der Entscheidung über den Status des Gebiets berechtigt sind.

Zur Teilnahme an einem eventuellen Referendum – wenn Marokko seine Blockade dessen eines Tages aufgeben muss – sind natürlich nur die berechtigt, die schon vor der Besatzung durch Marokko in dem Gebiet gelebt haben. Eigentlich hätten diese Menschen laut einem spanischen Dekret von 1976 schon damals das Recht auf die spanische Staatsbürgerschaft gehabt. Doch leider waren die institutionellen Gegebenheiten für solche Anträge aus den Geflüchtetenlagern nie gegeben und die marokkanischen Besatzer hatten viele Papiere vernichtet.8

Mit der neuen spanischen Gesetzesinitiative, sollte sie durch den Senat kommen, würden institutionelle Möglichkeiten geschaffen, mit denen Menschen auch ihr Wahlrecht in einem eventuellen Referendum nachweisen könnten. Nebenbei würden dann bald vielleicht eine signifikante Anzahl spanischer EU-Bürger unter der oft brutal unterdrückenden marokkanischen Besatzung oder in verarmten Geflüchtetenlagern in der Sahara leben.

Anmerkungen:

1 El Congreso reprueba el giro de Sánchez sobre el Sáhara Occidental. ondacero.es 7.04.2022

2 Streck, Ralf: „Massaker von Melilla“: Viele Tote an spanischer EU-Außengrenze. telepolis.de 27.06.2022; und: Marokko erhält 500 Millionen Belohnung für das „Massaker von Melilla“. telepolis.de 18.08.2022

3 DS. Senado, Pleno, núm. 122, de 21/02/2023

4 Cruz, Marisa: El trueque de Sánchez que nos ofende: puso en bandeja el Sáhara a cambio de dos decenas de memorandos sin compromiso jurídico elmundo.es 03.02.2023

5 DS. Senado, Pleno, núm. 122, de 21/02/2023 congreso.es

6 Inside Story: Will Spain’s new position on Western Sahara make a difference? aljazeera.com 03.02.2023

7 Marokko – Diplomatisches Schweigen zw. Deutschland und Marokko. maghreb-post.de 7.11.2021

8 Pina, Marina: Saharauis que podrían optar a la nacionalidad española critican a Sánchez: „Siempre recelamos del PSOE cuando llega al poder“. elmundo.es 200.2.2023