IMI-Standpunkt 2021/062 - in: Z - Zeitschrift für marxistische Erneuerung (Nr. 128, Dezember 2021)

Mali: Machtansprüche und Externalisierung

von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 10. Dezember 2021

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Am 13. Oktober 2021 veranstaltete die Bundesregierung einen so genannten großen Zapfenstreich und erhob damit den Anspruch, den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan zu würdigen und der in diesem Krieg gefallenen deutschen Soldaten zu gedenken. Da wurde auch vermeintlich selbstkritisch auf die von der Politik formulierten Ziele und Erwartungen an den Einsatz geblickt. Doch für Bundespräsident Steinmeier stand trotzdem fest: „Ich hoffe, dass wir in 20 Jahren nicht auf diese Wegscheide zurückblicken und sagen: Resignation und Rückzug war die Antwort auf Afghanistan […] Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik nach Afghanistan muss ehrlicher, klüger und stärker werden.“

Immer wieder fiel in diesem Zusammenhang auch das Stichwort „Mali“. Auch dieser Einsatz gehöre auf den Prüfstand, meinte der Bundespräsident. Genau genommen handelt es sich dabei um zwei Einsätze, für die zusammen bis zu 1.700 deutsche Kräfte mandatiert sind. Tatsächlich läuft die westliche Intervention in der sogenannten Sahel-Region spätestens seit 2016 völlig aus dem Ruder. Das in Mali von der EU ausgebildete und von Deutschland u.a. im Zuge der „Ertüchtigungsinitiative“ ausgerüstete Militär hat sich trotz internationaler Kritik an die Macht geputscht. Die Zahl und der Aktionsradius der bewaffneten aufständischen Gruppen wachsen, während die Bewegungsfreiheit der internationalen Truppen immer kleiner wird. Damit schwinden auch die Möglichkeiten des flankierenden Staatsaufbaus. Dementsprechend wird das Vorgehen „robuster“. Hoffnung setzt man nun vor allem auf den Ausbau der (ersten) europäischen Spezialkräfte-Mission „Takuba“. Ende März bestätigte die UN-Mission MINUSMA – an der Deutschland beteiligt ist – vor Ort, was die französische und deutsche Regierung zuvor als Propaganda im Dienste des Terrors zurückgewiesen hatten: dass die französische Luftwaffe am 3. Januar 2021 nahe dem Ort Bounti versehentlich eine Hochzeitsfeier bombardiert hatte. Solche Luftangriffe sind in Mali längst keine Ausnahme mehr – das französische Verteidigungsministerium gibt anschließend die Zahl der „neutralisierten“ Aufständischen (und ihrer Fahrzeuge) typischer Weise in Dutzenden an.

Selbst regierungsnahe Thinktanks und Angehörige der „Sicherheitspolitischen Community“ sprechen mittlerweile von einem kontraproduktiven Einsatz, von vage definierten und unerreichbaren Zielen und warnen vor einem „Mission Creep“: einer fortgesetzten Ausweitung eines militärischen Einsatzes infolge seines faktisch bereits erfolgten Scheiterns. Das Magazin des Reservistenverbandes der Bundeswehr mit dem vielsagenden Namen „loyal“ hatte bereits Anfang 2017 seinen Leitartikel zum Schwerpunkt „Im malischen Treibsand“ mit dem Titel „Mission Impossible?“ überschrieben. Eigentlich gute Ausgangsbedingungen für eine neue Bundesregierung, um die Reißleine zu ziehen. Doch das ist aus zwei Gründen unwahrscheinlich.

Denn die kommende Bundesregierung wird sich vermutlich aus Grünen, FDP und SPD zusammensetzen. Vor allem die beiden „Königsmacher*innen“ in diesem Trio versprechen, den Zielkonflikt zwischen Ökologie und Wachstum durch technologische Innovationen und damit verbundene Subventionen aufzulösen – z. B. die Stahlindustrie bei der Umstellung auf „grünen Wasserstoff“ oder die Automobilindustrie bei der Umstellung auf Elektromobilität zu unterstützen. Es handelt sich dabei um eine Externalisierungsstrategie, bei der die Kosten für Energie- und Rohstoffgewinnung Drittstaaten aufgebürdet und obendrein hierzulande öffentliche Mittel in private Profite umgewandelt werden. Doch diese Externalisierung braucht auch konkrete Räume, und dafür bieten sich für Europa aus einer nach wie vor kolonialen Sicht „die ungenutzten Flächen“ (ingenieur.de) in der Sahel-Region an. Bereits seit Jahrzehnten bezieht Frankreich den Rohstoff seiner nuklearen Energiegewinnung zu großen Teilen aus Niger. Ende der Nullerjahre formierte sich das deutsche Kapital unter dem Schlagwort Desertec, um „Wüstenstrom“ aus Afrika nach Europa zu importieren. Was damals noch durch ein Hochspannungs-Übertragungsnetz realisiert werden sollte, soll nun in Form von grünem Wasserstoff klimaneutral über Pipelines und Tanker die Kontinente über jenes Mittelmeer verbinden, das die EU gegenüber den Menschen aus Afrika in ein Massengrab verwandelt hat. Damals wie heute werden diese Externalisierungsstrategien getragen durch eine öffentliche Forschungspolitik, die diese großtechnischen Lösungen vorbereitet. Kürzlich etwa hat die Abteilung „Techno-ökonomische Systemanalyse“ des Forschungszentrums Jülich im Zuge der Wasserstoffstrategie der Bundesregierung einen H2-Atlas Afrika veröffentlicht – ein interaktives Werkzeug, mit dem sich für die Mitgliedstaaten der ECOWAS die Potentiale zur Gewinnung von Wasserstoff, Wind- und Solarenergie anzeigen lassen – in Preisen, die z.B. Transport-, Wasser- und Umsiedelungskosten nicht einkalkulieren. Aktuell verspricht das australische Bergbauunternehmen Firefinch Ltd., ab 2023 auch einen hochgradig kritischen Rohstoff der Elektromobilität in der Region zu gewinnen. Im Süden Malis soll auf 100 qkm eine Lithium-Mine entstehen, die mit Wasser aus dem Selingue-Damm versorgt wird (der mit sehr begrenztem Zufluss bislang eine zentrale Rolle für die Landwirtschaft in verschiedenen Teilen des Landes spielt).

Auch jenseits dieser Externalisierung spielt die sogenannte Sahel-Region für die Europäische Union eine herausragende Rolle – und zwar für ihre nach wie vor im Entstehen begriffene gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Nirgendwo sonst kann dem immer wieder erhobenen und bekräftigten Gestaltungsanspruch Ausdruck verliehen werden. Zumindest aktuell scheint undenkbar, dass sich die EU im „Nahen Osten“ oder an den Grenzen zu Russland „auf Augenhöhe“ mit der NATO „engagiert“. Zumindest in Teilen lässt sich die Transformation der Region in ein Kriegsgebiet auch aus diesem Anspruch erklären. Die „Europäische Sicherheitsstrategie“ von 2003 erklärte „Scheiternde Staaten“ zum wahrscheinlichsten Einsatzgebiet für „ein sicheres Europa in einer besseren Welt“. Nach einigen kurzfristigen „Übungseinsätzen“ – ebenfalls überwiegend auf dem afrikanischen Kontinent – veröffentlichte der eben erst aufgestellte Europäische Auswärtige Dienst im März 2011 seine erste Regionalstrategie „für Sicherheit und Entwicklung im Sahel“. Diese sah bereits eine umfangreiche Aufrüstung und Umstrukturierung der Region vor mit dem expliziten Ziel, „die Basis für Handel und Investitionen aus der EU [zu] schaffen“. Dass tatsächlich zeitgleich die NATO unter französischer Führung Libyen bombardierte und damit wesentlich die seitdem stattfindende Eskalation in Gang setzte, muss zumindest erwähnt werden – ohne einen Zusammenhang zu suggerieren. Denn Geopolitik folgt nicht großen Plänen, sondern entfaltet sich aus Widersprüchen, meist als Tragödie.

Dass die Tragödie in Mali und den Nachbarstaaten vermutlich anhalten wird, ist letztlich auch dem Denken geschuldet, das eine sich jung, „europäisch“ und progressiv gebende Partei (Volt) auf Wahlkampf-Plakaten als Maxime formulierte: „Europäisch denken – global handeln“.