IMI-Standpunkt 2016/42 - in: Graswurzelrevolution Nr. 415, Januar 2016

Ein Dammbruch: Abschiebungen in Einsatzgebiete der Bundeswehr

von: 20. Dezember 2016

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Heute: Afghanistan

Mitte Dezember 2016 begannen die ersten Sammelabschiebungen nach Afghanistan. Betroffen waren vom ersten Flug 34 Asylbewerber_innen aus den Bundesländern Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Hamburg und dem Saarland. Sie wurden mit einer eigens hierfür gecharterten Maschine von Frankfurt nach Kabul gebracht und sind dort von der Flughafenpolizei und Personal der International Organisation for Migration (IOM) in „Empfang“ genommen worden.

Vielleicht war das der Moment, in dem das Asylrecht in Deutschland vollends seine Wirkung verloren hat. Denn in Afghanistan ist die Lage alles andere als sicher: Die Taliban erobern immer weitere Gebiete zurück, auch der IS/Daesh macht sich breit. Bekämpft werden sie von den vom Ausland finanzierten Afghan National Security and Defence Forces (ANSDF), ausgebildet und koordiniert von westlichen Militärs – darunter die Bundeswehr – und unterstützt von ausländischen Spezialeinheiten. Laut übereinstimmender Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International hat sich die Lage seit Anfang 2015 deutlich verschlechtert, nach Angaben der UN ist für 2016 mit mehr zivilen Opfern zu rechnen, als je zuvor. Unter den Abgeschobenen waren auch Angehörige von Minderheiten. Im grün regierten Baden-Württemberg wurde ein Konflikt mit dem Koalitionspartner CDU inszeniert. Im letzten Moment wurde ein afghanischer Christ von der Liste der Abzuschiebenden gestrichen, angeblich auf Initiative der Grünen: „Verstehen kann ich es nicht, wie der Innenminister und der Landesvorsitzende einer Partei mit dem C im Parteinamen zehn Tage vor Weihnachten einen Christen nach Kabul abschiebt“, so ein Grünen-Politiker. Andere Personen aus Baden-Württemberg wurden jedoch schonungslos ins Flugzeug gesetzt.

Zuvor: Kosovo

Tatsächlich dürfte die Positionierung der Grünen in Baden-Württemberg entscheidend für die aktuelle Trendwende in der Abschiebepolitik sein, mit der Populismus und Rechtsnihilismus an die Stelle getreten sind, wo einst ein Grundrecht auf Asyl bestand und internationales Recht seiner Wirkung beraubt wird. Schon während der sog. „Flüchtlingskrise“ hatten die Grünen in Baden-Württemberg Zustimmung zur Einstufung des Kosovo als „sicherem“ Drittland signalisiert – während ihre KollegInnen auf Bundesebene bis auf zwei Ausnahmen zuletzt am 23. Juni 2016 der Verlängerung des Bundeswehreinsatzes im Kosovo zustimmten. In dem Antrag zur Mandatsverlängerung heißt es: „Die internationale Truppenpräsenz KFOR bleibt jedoch zur Aufrechterhaltung eines sicheren und stabilen Umfelds und der Sicherstellung der Bewegungsfreiheit insbesondere im Norden erforderlich.“ Das Mandat umfasst 1.350 deutsche Kräfte, darunter über 500, die zum deutsch-österreichischen Reservebataillon gehören, das bei Eskalation der Lage kurzfristig und robust eingreifen soll.

Bald: Mali

Menschen in Länder abzuschieben, in denen Krieg herrscht und wo die Bundeswehr selbst mitkämpft, soll zukünftig offenbar zur Regel werden. Besonders offensichtlich wird das am Abkommen der EU mit Mali, das am 11. Dezember 2016 geschlossen wurde und das, neben einer verstärkten Bekämpfung des Schlepperwesens, vor allem die einfachere Abschiebung von Menschen nach Mali vorsieht. Quasi zeitgleich kündigte die Bundesregierung an, die bereits etwa eintausend deutschen Kräfte in Mali um etwa weitere 300 zu verstärken. Die Aufstockung beinhaltet im Wesentlichen Kampf- und Rettungshubschrauber für die im Norden des Landes kämpfenden Truppen. Die militärischen Evakuierungshubschrauber, die offenbar im Verbund mit den Kampfhubschraubern zum Einsatz kommen sollen, um Verwundete auch aus noch anhaltenden Gefechten zu bergen, gelten als zentral für die Ausweitung des Aktionsradius der deutschen Truppen im Norden: In der kaum erschlossenen Wüstengegend, in der die Truppen der MINUSMA keine Kontrolle ausüben, gilt die Rettungskette, also die schnelle Evakuierung Verwundeter, als zentral. Denn in Mali handelt es sich um den gegenwärtig robustesten und gefährlichsten Einsatz der Bundeswehr. Weit über 100 Angehörige der MINUSMA-Mission, zu der auch 650 der in Mali eingesetzten Kräfte der Bundeswehr zählen, wurden bereits getötet. Gepanzerte Fahrzeuge der Bundeswehr waren bereits an Gefechten beteiligt, auch das deutsche Feldlager bei Gao, Camp Castor, wurde bereits angegriffen. Der angrenzende Flughafen wurde Ende November 2016 durch einen Anschlag schwer beschädigt und außer Betrieb gesetzt. Die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) beschreibt die Sicherheitslage im Norden ungeschminkt: „Von Ende 2015 bis September 2016 kam es zu 52 Anschlägen auf MINUSMA; dabei starben 30 Menschen. 52 Todesopfer gab es zwischen Juni und September bei Attacken auf die Armee. Die fünf Regionen des Nordens – Timbuktu, Gao, Kidal, Ménaka, Taoudéni – werden weiter von bewaffneten Gruppen … kontrolliert… Staatliche Akteure sind bislang nicht in den Norden zurückgekehrt.“(1) Die Regierung, mit der in Bamako das Abkommen über Rückführungen unterzeichnet wurde, hat also über große Teile des Landes überhaupt keine Kontrolle. Doch selbst im Zentrum und im häufig als „sicher“ bezeichneten Süden wird die Lage immer schlimmer. Nocheinmal die SWP: „Alarmierender ist die Tatsache, dass Rechtlosigkeit und Gewalt in Zentral-Mali Fuß gefasst haben. Wo staatliche Präsenz hier überhaupt existiert, ist sie weitgehend symbolisch und auf urbane Zentren beschränkt. Auch im Süden breitet sich Unsicherheit aus… Ausläufer der Krise erreichen auch Nachbarstaaten.“

Die „Bekämpfung von Fluchtursachen“

Dass just in diesem Moment ein Rücknahmeabkommen mit einer im Zuge der Militärintervention eingesetzten Regierung in Bamako abgeschlossen wird, zeigt die Dimension des Paradigmenwandels in der Flüchtlingspolitik. Wo früher kontrovers über die „heimatnahe Unterbringung“ diskutiert wurde, werden heute offen und systematisch Menschen in Kriegsgebiete abgeschoben. Zwar wird von einer „Bekämpfung von Fluchtursachen“ fabuliert, in der Praxis handelt es sich jedoch um dauerhafte Stationierungen von Bundeswehrsoldaten, Ausbildungsmissionen und die internationale Finanzierung von „Sicherheitskräften“, die in Wirklichkeit die Lage mehr destabilisieren, als sichern. Was sie aber gewährleisten, ist die Existenz von Pseudo- und Marionettenregierungen, die – im Verbund mit „humanitären Organisationen“ und der IOM – als lokale Partner der Abschiebelogistik fungieren. Und dieser Prozess ist absehbar auf Permanenz angelegt. Denn eine wahre „Bekämpfung von Fluchtursachen“ findet nicht statt. Das neoliberale Nation Building westlicher Prägung baut vor Ort Schattenstaaten auf, die sich letztlich auf überdimensionierte und unkontrollierte Sicherheitsapparate beschränken und der Bevölkerung nichts zu bieten haben. Der Bundeswehreinsatz im Kosovo geht 2017 ins 18. Jahr, derjenige in Afghanistan ins 15. und jener in Mali wird absehbar nicht schneller und erfolgreicher zuende gehen. Denn anders als in Afghanistan und im Kosovo besteht in Mali nicht einmal ein formaler Plan für eine künftige Ordnung und die militärisch präsenten Staaten verfolgen unterschiedliche Ziele. Das gilt auch für die „engen Partner“ Deutschland und Frankreich. Französische Spezialkräfte kämpfen an vorderster Front zusammen mit Sezessionisten, anschließend soll die MINUSMA die eroberten Gebiete sichern und die Präsenz der von der Bundeswehr im Süden ausgebildeten malischen Armee ermöglichen – die wiederum von jenen Sezessionisten bekämpft wird, mit denen Frankreich zusammenarbeitet. Dieser vom Ausland perpetuierte Bürgerkrieg bringt nichts als Elend – und eben eine Regierung in Bamako, die Migrationsabkommen signiert.

Anmerkungen:

(1) Denis M. Tull: Mali: Friedensprozess ohne Stabilisierung. Die internationalen Partner sollten die malische Regierung in die Pflicht nehmen, SWP-Aktuell 2016/A 75 (November 2016). URL: https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2016A75_tll.pdf.