IMI-Standpunkt 2010/005 - in: W&F Dossier Nr. 63/2010
Obamas Afghanistan-Strategie: Bürgerkrieg unter westlicher Beaufsichtigung
von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 19. Februar 2010
Bereits kurz nach seinem Amtsantritt hatte US-Präsident Barack Obama den Einsatz am Hindukusch zur Chefsache erklärt und eine grundlegende Überprüfung der Afghanistan-Strategie angeordnet. Im März 2009 wurden die Kernelemente der neuen US-Strategie präsentiert: Im Detail setzt sie erstens auf eine massive Aufstockung der westlichen Truppen und die Ausweitung der Kampfzone nach Pakistan (AFPAK); zweitens sollen sich die EU-Verbündeten, allen voran Deutschland, künftig noch stärker beteiligen als dies ohnehin bereits der Fall ist; schließlich soll drittens eine »Afghanisierung« des Krieges über den Ausbau der staatlichen Repressionsapparate (Armee und Polizei) die westlichen Truppen erheblich entlasten.
Nachdem diese Maßnahmen den Krieg wie absehbar noch weiter eskaliert haben, entbrannte in Washington eine heftige Debatte um das weitere Vorgehen. Auf der einen Seite fand sich US-General Stanley McChrystal, Kommandeur der NATO Truppen in Afghanistan, der nachdrücklich eine weitere Truppenaufstockung forderte. Auf der anderen Seite plädierte Vizepräsident Joseph Biden dafür, das Engagement künftig auf die Bekämpfung von Al-Kaida zu beschränken und die Truppen-Präsenz deutlich zu reduzieren. Am 1. Dezember 2009 verkündete Obama seine Entscheidung in dieser Frage, die augenscheinlich auf einen schlechten Kompromiss dieser beiden Ansätze zielt: Zunächst wird Zahl der Soldaten nochmals erhöht, perspektivisch (ab 2011) soll aber die »Afghanisierung« des Krieges eine Truppenverringerung in Richtung der Biden-Lösung ermöglichen.
Allerdings beabsichtigt man keineswegs, vollständig aus dem Land abzuziehen, wie sowohl Außenministerin Hillary Clinton als auch Verteidigungsminister Robert Gates kurz nach Obamas Rede klarstellten (Antiwar.com, 23.12.2009). Vielmehr sollen erhebliche westliche Truppenteile als »Rückversicherung« im Land verbleiben, um bei Bedarf einzugreifen, wenn die afghanischen Regierungstruppen in allzu große Schwierigkeiten geraten. Der vollmundig versprochene (Teil)Abzug ist also eine Mogelpackung: »Bürgerkrieg unter westlicher Beaufsichtigung«, mit dieser Formel lässt sich Obamas Afghanistan-Strategie bündig zusammenfassen.
Truppenaufstockung und Ausweitung der Kampfzone
Als Obama Anfang 2009 sein Amt antrat, befanden sich etwa 32.000 US-Soldaten am Hindukusch. Innerhalb von nicht einmal 12 Monaten wurde diese Zahl im Rahmen der neuen US-Afghanistanstrategie auf 68.000 mehr als verdoppelt. Vor dem Hintergrund der – trotz Truppenverdopplung – qualitativ wie quantitativ weiter eskalierenden Kampfhandlungen wurden Obama laut »New York Times« (11.11.2009) vier verschiedene Optionen vorgelegt. Sie sahen einen weiteren Truppenaufwuchs von entweder 20.000, 25.000 oder 30.000 Soldaten vor (die letzte Option wird nicht näher beschrieben, schien aber keine Truppenerhöhungen beinhaltet zu haben). Am 1. Dezember verkündete der US-Präsident seine Entscheidung: 30.000 zusätzliche US-Soldaten sollen „so schnell wie möglich“ entsendet werden, damit wären fast 100.000 US-SoldatInnen im Afghanistan-Einsatz.
Ein weiteres zentrales Element der neuen US-Strategie ist die Ausweitung des Kampfgebietes auf Pakistan: Afghanistan und Pakistan seien nunmehr als einheitliches Kriegsgebiet zu begreifen und der Kampf fortan auf beiden Seiten der Grenzen auszutragen. Seither setzen die USA verstärkt auf den Einsatz unbemannter Drohnen, während gleichzeitig Pakistan massiv dazu gedrängt wird, seine Angriffe gegen tatsächliche oder mutmaßliche Rückzugsgebiete des Widerstands auszuweiten. Laut »Los Angeles Times« (03.08.2009) wurde mittlerweile im Pentagon eine »Pakistanisch-Afghanische Koordinationseinheit« ins Leben gerufen, die die Kampfhandlungen zusammenführen soll. Vor diesem Hintergrund stellt Lothar Rühl, von 1982-1989 Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium, zutreffend fest: „Der afghanische Krieg hat sich schon seit längerem über die Grenze ausgebreitet und begonnen, beide Länder zu einem Kriegsgebiet Südwestasien zu verschmelzen.“ (FAZ, 25.05.2009)
Druck auf die Verbündeten
Unmissverständlich macht die US-Regierung deutlich, dass sie nicht gedenkt, die neuerlichen Truppenaufstockungen vollständig im Alleingang zu schultern. So erklärte der amerikanische NATO-Botschafter Ivo Daalder Anfang Juli 2009: „Die Vereinigten Staaten erfüllen ihren Teil, Europa und Deutschland können und sollten mehr tun.“ (FAZ, 01.07.2009) Obwohl die EU-Verbündeten allein zwischen Ende 2006 und Frühjahr 2009 ihre Beteiligung an der NATO-Truppe ISAF um über 50% erhöhten, forderte Obama weitere 7.000-9.000 Soldaten.
Allerdings hält sich die Begeisterung dafür in den Reihen der EU-Staaten angesichts der Skepsis in der eigenen Bevölkerung in engen Grenzen. Washington wird jedoch zumindest in anderen Bereichen auf Kompensationsleistungen drängen. Eine Kompromisslösung könnte in einem deutlich erhöhten Beitrag zum Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte liegen, ein Bereich, in dem die Europäische Union bereits heute massiv engagiert ist. So sagte US-Verteidigungsminister Robert Gates: „Ich denke offen gestanden, da wir unsere Anforderungen auf zivile Experten und Polizeiausbilder konzentrieren werden, wird dies für Europäer zu Hause einfacher sein, als die Bitte, mehr Soldaten zu schicken. Die Dinge, um die wir bitten, sind für sie politisch einfacher, so dass sie trotz ihrer Wirtschaftsprobleme diese Anforderungen erfüllen werden.“ (Streitkräfte & Strategien, 04.04.2009)
»Afghanisierung« des Krieges
Das US-Militär hat schon lange vorgerechnet, dass für eine »erfolgreiche« Aufstandsbekämpfung 20-25 Soldaten auf 1.000 Einwohner erforderlich sind. Für Afghanistan wären demnach 640.000-800.000 SoldatInnen notwendig.[1] Da ein solch großes Kontingent niemals mobilisiert werden kann, beabsichtigt man die Lücke zwischen verfügbaren Truppen und tatsächlichem Bedarf durch eine massive »Afghanisierung« des Krieges zu schließen.
Für diesen Zweck wurden die Zielgrößen der afghanischen Polizei und Armee drastisch nach oben gesetzt. Sollte die afghanische Armee ursprünglich 70.000 Soldaten umfassen, so wurde diese Zahl schnell auf 134.000 angehoben. Inzwischen hat ISAF-Kommandeur Stanley McChrystal als neue Zielgröße 270.000 ausgegeben. Auch die afghanische Polizei, de facto Paramilitärs, soll deutlich vergrößert werden. Ursprünglich waren 62.000 anvisiert, nun sind 140.000-160.000 Polizisten vorgesehen (CNN, 04.08.2009).
Baldmöglichst sollen also einheimische Kräfte in der Lage sein, den Großteil der Kampfhandlungen im Alleingang zu schultern. Sehenden Auges wird hierdurch jedoch ein neuerlicher Bürgerkrieg in Kauf genommen – die Szenarien, was passiert, wenn diese »Strategie« weiter verfolgt wird, liegen bereits auf dem Tisch.
Afghanistans Zukunft: Dauerbürgerkrieg
Das »Center for a New American Security«, eine Denkfabrik mit engsten Verbindungen zur Obama-Administration, veröffentlichte im Oktober 2009 ein Papier, in dem drei mögliche Zukunftsszenarien für Afghanistan präsentiert werden.[2] Unwahrscheinlich, aber möglich sei eine nachhaltige Stabilisierung des Landes ebenso wie der – aus westlicher Sicht – schlimmste Fall, ein Sieg der Widerstandsgruppen über die Karzai-Regierung. Vermutlich werde die Entwicklung aber in folgende Richtung gehen: „…die Obama-Regierung (wird) vorsichtig zu einer koordinierten Anti-Terror-Mission übergehen, bei der das alliierte Engagement sich auf das Training der afghanischen Armee, die Durchführung von Präzisionsangriffen aus der Luft und Spezialoperationen am Boden beschränkt. [..] Dieses wahrscheinlichste Szenario erlaubt es den USA und ihren Verbündeten weiterhin Einfluss in Zentralasien auszuüben und eine vollständige Rückkehr der Taliban zu verhindern.“ Damit wären dann auch die Präferenzen Joseph Bidens berücksichtigt, der, wie bereits erwähnt, das US-Engagement genau hierauf beschränkt wissen will. Allerdings betont das Papier auch: „Eine kurzfristige Truppenerhöhung wird diesem Übergang vorausgehen.“ Genau dies ist nun ebenfalls eingetreten.
Recht unverblümt wird zudem beschrieben, was ein solches Szenario für Afghanistan bedeuten würde: „Afghanistan bleibt im Bürgerkrieg zwischen der Regierung in Kabul, die im Wesentlichen von den Politikern und Warlords geführt wird, die das Land zwischen 1992 und 1996 befehligten, und einer entrechteten paschtunischen Gesellschaft im Süden und Osten gefangen.“
Pro-westlicher Militärstaat
Auffällig ist, wie gebetsmühlenartig Barack Obama versucht, jede Gruppierung, die gegen die US-Präsenz vorgeht, unterschiedslos mit den Taliban und – noch absurder – mit Al Kaida gleichzusetzen und hierdurch als religiöse Fanatiker zu diskreditieren. Eine im Oktober 2009 veröffentlichte Untersuchung des US-Militärs über die Zusammensetzung des Widerstands kommt jedoch zu einem vollständig anderen Ergebnis: „Bei lediglich 10 Prozent der Aufständischen handelt es sich um Hardcore-Ideologen, die für die Taliban kämpfen“, so ein Geheimdienstoffizier, der an der Abfassung des Berichts beteiligt war (»Boston Globe«, 09.10.2009).
Noch deutlicher sind die Aussagen des US-Militärs Matthew P. Hoh, der in Afghanistan an prominenter Stelle für den zivilen Wiederaufbau zuständig war. Er quittierte im September 2009 seinen Dienst und begründete diesen Schritt in seinem Rücktrittsschreiben folgendermaßen: „Der paschtunische Aufstand, der sich aus zahlreichen, scheinbar endlosen lokalen Gruppen zusammensetzt, wird durch das gespeist, was die paschtunische Bevölkerung als einen andauernden Angriff auf ihre Kultur, Traditionen und Religion durch interne und externe Feinde ansieht, der seit Jahrhunderten anhält. Die amerikanische und die NATO-Präsenz und Operationen in paschtunischen Tälern und Dörfern stellen ebenso wie die afghanischen Polizei- und Armeeeinheiten, die nicht aus Paschtunen bestehen, eine Besatzungsmacht dar, vor deren Hintergrund der Aufstand gerechtfertigt ist. Sowohl im Regionalkommando Ost als auch Süd habe ich beobachtet, dass der Großteil des Widerstands nicht das weiße Banner der Taliban trägt, sondern eher gegen die Präsenz ausländischer Soldaten und gegen Steuern kämpft, die ihm von einer Regierung in Kabul auferlegt werden, die sie nicht repräsentiert.“ Anschließend schreibt Hoh über die Karzai-Regierung: Sie zeichne sich u.a. durch „eklatante Korruption und unverfrorene Bestechlichkeit“ aus und an der Spitze stehe ein Präsident, „dessen Vertraute und Chefberater sich aus Drogenbaronen und Kriegsverbrechern zusammensetzen, die unsere Anstrengungen zur Drogenbekämpfung und zum Aufbau eines Rechtsstaats lächerlich machen.“ (Antiwar.com, 28.10.2009)
Ausgerechnet dieser, spätestens seit den »Wahlen« im Sommer 2009 vollkommen diskreditierten Regierung gibt man nun also die Repressionsapparate in die Hand, um sich gegen den Widerstand in der eigenen Bevölkerung an der Macht halten zu können. Dies ist umso bedenklicher, da diese »Sicherheits«kräfte bereits heute ein beängstigendes Eigenleben entwickeln und zum gegenwärtigen Zeitpunkt vollkommen unklar ist, woher künftig die Gelder für diesen Repressionsapparat kommen sollen – aus dem derzeitigen (und wohl auch künftigen) afghanischen Haushalt jedenfalls nicht.
Laut Rory Stewart, Direktor des »Carr Center on Human Rights Policy«, dürften sich die Kosten für die afghanischen Sicherheitskräfte auf zwei bis drei Mrd. US-Dollar im Jahr belaufen – ein Vielfaches der gesamten Staatseinnahmen. „Wir kritisieren Entwicklungsländer dafür, wenn sie 30% ihres Budgets für Rüstung ausgeben; wir drängen Afghanistan dazu 500% seines Haushalts hierfür aufzuwenden. …Wir sollten kein Geburtshelfer eines autoritären Militärstaats sein. Die hieraus resultierenden Sicherheitsgewinne mögen unseren kurzfristigen Interessen dienen, aber nicht den langfristigen Interessen der Afghanen.“[3]
Hauptsache die Herrscher in Kabul bleiben weiterhin pro-westlich, alles andere scheint mittlerweile weitgehend egal zu sein. Ein Kommentar von Sven Hansen in der »taz« (13.09.2009) fasste das folgendermaßen zusammen: „Das Maximum, das der Westen in Afghanistan noch erhoffen kann, ist, einen autoritären Potentaten zu hinterlassen, der, getreu dem US-amerikanischen Bonmot ›Er ist ein Hurensohn, aber er ist unser Hurensohn‹, die Regierung auf prowestlichem Kurs hält. Sicherheitspolitisch könnte das sogar funktionieren, weil dessen Terror sich dann »nur« gegen die eigene Bevölkerung und vielleicht noch gegen Nachbarstaaten, nicht aber gegen den Westen richtet.“
Anmerkungen
[1] Fick, Nathaniel & Nagl, John: Counterinsurgency Field Manual: Afghanistan Edition, in: Foreign Policy Januar/Februar 2009.
[2] Exum, Andrew: Afghanistan 2011: Three Scenarios, CNAS Policy Brief, 22.10.2009.
[3] Stewart, Rory: The Irresistible Illusion, London Review of Books, 07.07.2009.