IMI-Standpunkt 2024/29b

Verhandlungen oder Eskalation?

Der Ukraine-Krieg am Scheideweg

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 21. November 2024

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Die Lage im Ukraine-Krieg entwickelt sich aktuell überaus dynamisch: Sowohl die Aussichten auf einen Waffenstillstand als auch die auf eine weitere Eskalation sind in den letzten Tagen deutlich gestiegen. Aus diesem Grund haben wir uns entschieden, den diesbezüglichen IMI-Standpunkt jetzt auf den aktuellen Stand vom 21. November 2024 zu bringen.

Immer wieder war und ist zu hören, der russische Präsident Wladimir Putin wolle nicht über ein Ende des Ukraine-Krieges verhandeln. Es gehört zu den Eigenarten der derzeitigen Medienlandschaft, dass derlei Behauptungen problemlos jeden Faktencheck passieren, obwohl dies ganz augenscheinlich nicht den Tatsachen entspricht. Schließlich wurde bereits am 28. Februar 2022 mit Verhandlungen zur Beilegung des Krieges begonnen, die einige Zeit auch gute Chancen auf Erfolg gehabt hatten. Auch wenn viele Details noch im Dunkeln liegen, lässt sich doch verlässlich sagen, dass die westlichen Staaten wesentlich zum Scheitern dieses Verhandlungsprozesses beitrugen. 

Nachdem sich lange wenig tat, ist in jüngster Zeit wieder etwas Bewegung in die Verhandlungsfrage gekommen – und erneut stellt sich die Frage, ob der Westen die sich bietende Gelegenheit ergreifen oder noch weiter eskalieren wird. Die Blaupause für eine weitere Eskalation bis hin zu einer direkten Konfrontation zwischen der NATO und Russland legte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit seinem „Siegesplan“ vor, den er am 16. Oktober 2024 der Öffentlichkeit präsentierte. Mit der US-Freigabe für Raketenangriffe auf Ziele in Russland wurde nun eines der gefährlichsten Elemente dieses Plans umgesetzt.

Auf der anderen Seite gibt es in jüngster Zeit aber auch Anzeichen, die auf einen Kurswechsel in der Verhandlungsfrage hindeuten könnten. Der Ukraine-Krieg ist damit an einem überaus heiklen Punkt angekommen: Die Chancen für einen Waffenstillstand sind so hoch wie schon lange nicht mehr – die für eine weitere Eskalation allerdings ebenfalls!

Istanbuler Kommuniqué  

Die Ende Februar begonnenen Verhandlungen mündeten am 29. März 2022 in ein Rahmendokument (Istanbul-Kommuniqué), das als Orientierung für ein verbindliches Vertragswerk dienen sollte. Das von der ukrainischen Seite verfasste und von Russland akzeptierte Schriftstück enthieltfolgendeKernpunkte: eine ukrainische Neutralität, den Rückzug der russischen Truppen auf den Stand vor dem 24. Februar 2022 sowie die beiderseitige Verpflichtung, strittige Grenzfragen, insbesondere den Status der Krim, in den nächsten 15 Jahren ausschließlich gewaltfrei zu regeln.

Zwar handelte es sich hier um eine wichtige Orientierungshilfe auf dem Weg zu einem unterschriftsreifen Vertragswerk, in trockenen Tüchern war die Sache damit aber noch lange nicht. Wichtige Fragen waren weiter ungeklärt, etwa die nach Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Außerdem existierte auch eine große Kluft zwischen der russischen Forderung einer ukrainischen Truppenbegrenzung auf 85.000 und der ukrainischen Position 250.000 Soldat*innen zu unterhalten. Dennoch äußerten sich diverse eng mit den Verhandlungen befasste Personen beider Seiten zu diesem Zeitpunkt optimistisch, die Verhandlungen zu einem erfolgreichen Abschluss bringen zu können (siehe ausführlich zum Verhandlungsprozess Samuel Charap / Sergey Radchenko: The Talks That Could Have Ended the War in Ukraine, in: Foreign Affairs, 16.04.2024).

Doch dann brach der Verhandlungsprozess in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Wie der ukrainische Verhandlungsführer Dawyd Arachamija gegenüber der Kyiv Post vom 26. November 2023 einräumte, sei es Russland vor allem um die Neutralität der Ukraine gegangen: „Sie hofften wirklich fast bis zum letzten Moment, dass sie uns zur Unterzeichnung einer solchen Vereinbarung drängen könnten, in der wir eine Neutralität akzeptieren. […] Sie waren bereit, den Krieg zu beenden, hätten wir – wie es Finnland einst tat – einer Neutralität zugestimmt und uns verpflichtet, nicht der NATO beizutreten. Das war für sie das wichtigste.”

Doch hiergegen formierte sich im Westen zunehmend Widerstand, insbesondere der damalige britische Premier Boris Johnson machte sich (mutmaßlich in Absprache mit Washington) für eine Fortsetzung des Krieges stark (siehe IMI-Standpunkt 2023/047). Am 9. April 2022 soll Boris Johnson laut Arachamija gesagt haben, die Ukraine solle „nichts mit Russland unterzeichnen – lasst uns einfach kämpfen.“ Arachamija widerspricht zwar dem immer wieder erhobenen Vorwurf, die Ukraine hätte den Verhandlungsprozess auf Geheiß des Westens abgebrochen, aber die mit Johnsons Ansage verbundene westliche Zusage, massenweise Waffen zu liefern, dürfte allein schon wesentlich zum Scheitern der Gespräche beigetragen haben.

Neue Verhandlungsdynamik?

Am 30. September 2022 erklärte Selenskyj im Dekret des Präsidenten der Ukraine Nr. 679/2022 einen Beschluss des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats für gültig, der folgenden Satz beinhaltete: „Der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine hat beschlossen, die Unmöglichkeit festzustellen, Verhandlungen mit dem Präsidenten der Russischen Föderation W. Putin zu führen.“

Über die genaue Auslegung des Dekrets lässt sich womöglich streiten, allerdings ist klar, dass die Ukraine in der Folge Verhandlungen lange ablehnte. Russland habe wiederum spätestens seit September 2023 die Bereitschaft zu einem Waffenstillstand entlang der aktuellen Kampflinie signalisiert, berichtete die New York Times im Dezember 2023 unter Berufung auf mehrere hochrangige russische und amerikanische Quellen. Im April 2024 brachte der damalige russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu laut Spiegel Online erneut die Möglichkeit von Verhandlungen auf Basis der Istanbul-Vereinbarungen ins Spiel: „Schoigu soll nun in dem Telefonat als Ausgangspunkt für einen neuen Dialog die »Friedensinitiative von Istanbul« genannt haben. […] Mögliche künftige Verhandlungen mit der Ukraine könnten auf einem Vorschlag basieren, der während der russisch-ukrainischen Gespräche in Istanbul im März 2022 diskutiert wurde, hieß es aus dem russischen Verteidigungsministerium. Medienberichten zufolge sah der Entwurf damals vor, dass die Ukraine ihren Antrag auf Beitritt zur Nato aufgibt und neutral bleibt.“ Anfang September 2024 äußerte sich Wladimir Putin in dieselbe Richtung: „Wenn es den Wunsch nach Verhandlungen gibt, werden wir uns nicht verweigern“, sagte Putin. „Wir haben dies nie abgelehnt, aber nicht auf der Grundlage einiger kurzlebiger Forderungen, sondern auf der Grundlage der in Istanbul vereinbarten und tatsächlich paraphierten Dokumente.“

Spätestens seit der gescheiterten Offensive im Sommer 2023 geht in der NATO eigentlich niemand mehr davon aus, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen, also Russland aus allen eroberten Gebieten verdrängen kann. Schon im Herbst 2023 gab das Bündnis deshalb die neue Devise „Halten heißt gewinnen“ aus (siehe IMI-Standpunkt 2023/47). Mit den stetigen russischen Gebietsgewinnen im Donbass wird die Lage für die Ukraine immer prekärer, vermutlich liegt es daran, dass in jüngster Zeit wieder vernehmlich lauter über mögliche Verhandlungen nachgedacht wird. Selbst der Ultrahardliner und ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk forderte die Bundesregierung laut Berliner Zeitung vom 6. September 2024 auf, mehr Engagement bei der Suche nach diplomatischen Lösungen im Ukraine-Krieg an den Tag zu legen: „Ganz persönlich glaube ich, dass Bundeskanzler Olaf Scholz kreativ werden und die bestehenden diplomatischen Kanäle Deutschlands nutzen könnte, um auszuloten, ob Gespräche mit Putin sinnvoll wären. Die Bundesrepublik hat ja immer noch eine Botschaft in Moskau. Und die Hauptsache ist, dass wir Ukrainer den Deutschen vertrauen.“ Es herrsche eine „neue Dynamik“, so Melnyk. Ob er damit die russischen Gebietsgewinne im Donbass meint oder etwas anderes, ist unklar: „Gerade deswegen könnten unsere westlichen Verbündeten – vor allem Deutschland – tätig werden und vorsichtig alle Chancen abtasten.“

Diese Aussage ist allein schon aus dem Grund bemerkenswert, weil Melnyk dabei nebenbei einräumt, dass es die Bundesregierung in Sachen Diplomatie bislang an jeglichem Ehrgeiz hat vermissen lassen.

Per Siegesplan in die Eskalation? 

Das aktuelle Gelegenheitsfenster für Verhandlungen könnte sich bei Umsetzung des ukrainischen „Siegesplans“ wohl ebenso rasch wieder schließen. Er wurde von Präsident Wolodymyr Selenskyj am 16. Oktober 2024 offiziell im ukrainischen Parlament vorgestellt, nachdem er zuvor bei einer ausführlichen Tour durch westliche Hauptstädte für dessen Umsetzung geworben hatte.

Der „Siegesplan“ im Einzelnen:

1.) Eine sofortige Einladung zur NATO-Mitgliedschaft:

Er verstehe, dass eine NATO-Mitgliedschaft eine „Sache für die Zukunft, nicht für die Gegenwart“ sei, so Selenskyj. Dennoch erhalte Russland damit ein wichtiges Signal, nämlich dass die Ukraine nach dem Krieg unweigerlich ihren Platz fest verankert in der westlichen Sicherheitsarchitektur einnehmen werde – Russland den Krieg also auch sofort beenden könne. Eine unmittelbare Mitgliedschaft steht allein deshalb schon nicht ernsthaft zur Debatte, weil der NATO-Vertrag dies an die Fähigkeit des entsprechenden Landes knüpft, „zur Sicherheit des nordatlantischen Gebiets beizutragen.“ Befindet sich ein Land im Krieg, so ist das nach bisher geltender Auffassung definitiv nicht der Fall. Viel schwerer wiegt jedoch, dass nach den Aussagen des ukrainischen Istanbul-Verhandlungsführers Arachamija die ukrainische Neutralität für Russland alleroberste Priorität hat. Wäre ein Kriegsende also gleichbedeutend mit einem sofortigen NATO-Beitritt der Ukraine, würde damit wohl für Russland sogar ein Anreiz geschaffen, die Kampfhandlungen endlos fortzuführen.

2.) Militärische Unterstützung – weitreichende Waffen:

In seiner Rede listete Selenskyj unter diesem Punkt eine Reihe von Aspekten auf, der bei weitem relevanteste dürfte aber die schon länger erhobene Forderung sein, bestehende Beschränkungen für den Einsatz weitreichender Waffen in Russland aufzuheben. Ein solcher Schritt ist äußerst riskant, schließlich wies der russische Präsident Wladimir Putin am 12. September 2024 darauf hin, diese Waffen könnten ohne westliche Aufklärungsdaten nicht betrieben werden. Als „den wichtigsten, den sogar zentralen Punkt“ nannte Putin, dass „nur militärisches NATO-Personal“ die Zielplanung übernehmen könnte. „Deshalb geht es nicht um die Frage, es dem ukrainischen Regime zu erlauben, mit diesen Waffen Schläge in Russland durchzuführen oder nicht. Es geht darum zu entscheiden, ob die NATO-Staaten direkt in den militärischen Konflikt involviert werden oder nicht.“

3.) Die Stationierung eines westlichen nicht-nuklearen Abschreckungspaketes:

Die Ukraine „bietet die Stationierung eines umfassenden strategischen Abschreckungspaketes auf seinem Gebiet an“, heißt es im „Siegesplan“. Hier ist völlig unklar, aus was genau dieses Paket bestehen soll, für Details wird auf einen – allerdings geheimen – Anhang verwiesen. Es gehe aber um Fähigkeiten für eine „zerstörerische Reaktion“ heißt es, was wohl neben Waffensystemen auch eine Stationierung westlicher Soldat*innen einschließen soll – und zwar noch während die Kampfhandlungen im Gange sind. Derart wird diese Passage auch vom militärnahen Blog Augengeradeaus interpretiert: „Zur Abschreckung sollten Elemente einer nicht-nuklearen Abschreckung in der Ukraine stationiert werden – faktisch eine Aufforderung an die NATO, Truppen in der Ukraine zu stationieren. Einzelheiten dazu seien den USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien mitgeteilt worden.“

4.) Westliche Erschließung ukrainischer Rohstoffvorkommen:

Weil Selenskyj sich selber darüber im Klaren sein dürfte, dass er den westlichen Staaten angesichts seiner weitreichenden Forderungen auch etwas anbieten muss, macht der „Siegesplan“ die Tür für die Ausbeutung der ukrainischen Rohstoffe weit auf: „ Die Ukraine ist reich an  natürlichen Ressourcen, einschließlich seltener Erden, die Billionen Dollar wert sind. Dazu gehören Uran, Titan, Lithium, Graphit und andere strategische und strategisch wertvolle Ressourcen, die entweder Russland und seinen Verbündeten oder die Ukraine und die demokratische Welt im globalen Wettbewerb stärken werden.“

Schon länger haben Leute wie z.B. der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter die ukrainischen Rohstoffvorkommen im Auge (siehe IMI-Aktuell 2024/022). Auch in einer kürzlich erschienenen Studie der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung wurde der strategische Wert der ukrainischen Rohstoffe ganz ähnlich wie im „Siegesplan“ betont: „Geografisch und aufgrund ihres enormen Rohstoffreichtums ist die Ukraine im Osten Europas von geopolitischer Relevanz. Zugleich stellt sie eine potenzielle geoökonomische Rohstoffbasis für eine Reihe strategischer Schlüsselindustrien Westeuropas dar. Die Erschließung und industrielle Nutzbarmachung des ukrainischen Rohstoffpotenzials liegen im gemeinsamen strategischen Interesse der Europäischen Union und der Ukraine.“

Ob dies aber Anreiz genug ist, um Selenskyj in den ersten drei Punkten weit entgegenzukommen, darf zumindest bezweifelt werden.

5.) Nach Kriegsende Stationierung ukrainischer Soldaten in westeuropäischen Ländern:

Nach dem Krieg werde die Ukraine über eines der „erfahrensten und größten militärischen Kontingente“ verfügen. Deshalb biete der „Siegesplan“ an, „bestimmte US-Einheiten, die in Europa stationiert sind, durch ukrainische zu ersetzen.“ Es ist einigermaßen schleierhaft, welches Kalkül sich hinter diesem Angebot verbirgt, da sich die Begeisterung der westeuropäischen Adressaten hierfür in engen Grenzen halten dürfte.

Kurswechsel zu Verhandlungen?

Die Reaktionen auf den ukrainischen Friedensplan waren insgesamt eher lauwarm – zum Glück, würde seine volle Umsetzung unweigerlich zu einer massiven Eskalation führen. Außerdem hätten sich damit auf absehbare Zeit alle Aussichten auf eine Beendigung der Kampfhandlungen erledigt: Recht unmissverständlich heißt es im „Siegesplan“, Frieden sei erst bei einem vollständigen Rückzug aus sämtlichen von Russland eingenommenen Gebieten (einschließlich der Krim) möglich.

Vor allem mit der Wahl Donald Trumps Anfang November 2024 dürfte es zusammenhängen, dass sich die Gemengelage seither noch einmal verändert hat. Die rasch angekündigten ersten Nominierungen für seine künftige Regierung – Mike Waltz (Sicherheitsberater), Marco Rubio (Außenminister) und Pete Hegseth (Verteidigungsminister) – deuten allesamt auf eine deutlich ukrainekritischere Haltung der neuen US-Regierung hin. Dementsprechend beschrieb ein Artikel im Wall Street Journal schon am 6. November 2024 unterschiedliche Optionen, die innerhalb hochrangiger Vertreter aus dem Trump-Lager diskutiert würden. In jeder davon werden weitere US-Waffenlieferungen, so sie nicht ohnehin rundweg abgelehnt werden, an die ukrainische Bereitschaft zur schnellen Aufnahme von Verhandlungen mit Russland gekoppelt.

Außerdem zeichnet sich schon länger ein Stimmungswandel in der ukrainischen Bevölkerung ab. Zuletzt war am 20. November 2024 u.a. bei focus.de nachzulesen: „Eine neue Umfrage von ‚Gallup‘ zeigt, dass nach über zwei Jahren Krieg 52 Prozent der Ukrainer nun Verhandlungen mit Russland befürworten. Nur 38 Prozent möchten weiterhin kämpfen. Laut Gallup hat sich die öffentliche Meinung seit Beginn des Krieges deutlich geändert. 2022 wollten noch 73 Prozent der Ukrainer kämpfen, während nur 22 Prozent Verhandlungen anstrebten.“

Hier dürften die Ursachen dafür liegen, dass Selenskyj Mitte November 2024 in Sachen Verhandlungen relativ neue Töne anschlug: „Unsererseits müssen wir alles tun, damit dieser Krieg nächstes Jahr endet“, so der ukrainische Präsident. „Wir müssen ihn mit diplomatischen Mitteln beenden.“ Allerdings führte Selenskyj weiter aus, seien Verhandlungen nur möglich, wenn sein Land „nicht allein mit Russland“ reden müsse und in einer „starken“ Position sei (Die Welt, 16.11.2024). Wenige Tage später kam es zu einer weiteren überraschenden Entwicklung, als Selenskyj erstmals die Möglichkeit in den Raum stellte, dass er – zumindest vorübergehend – zum Verzicht auf Land bereit wäre. In der Presse wurde er dazu mit den Worten zitiert: „Vielleicht muss die Ukraine jemanden in Moskau überleben, um ihre Ziele zu erreichen und das gesamte Staatsgebiet wiederherzustellen.“ (Spiegel Online, 20.11.2024)

Zeitgleich berichtete Reuters am 20. November 2024, Präsident Putin habe signalisiert, er könne sich ein Einfrieren des Konfliktes vorstellen, sei aber nicht bereit, große Teile der bislang von Russland eroberten Gebiete zu räumen. Außerdem müsse die Ukraine auf einen NATO-Beitritt verzichten. Damit zeichnen sich Konturen für einen Weg zu einem Waffenstillstand ab, der allerdings noch überaus steinig werden könnte.

„Würfelspiel mit der Katastrophe“

Langsam aber beständig rücken russische Truppen in Richtung der ostukrainischen Stadt Pokrowsk vor, durch deren Einnahme eine zentrale Verteidigungslinie und ein wichtiger Logistikknoten fallen würde. Parallel dazu scheint eine weitere Großoffensive zur Rückeroberung des ukrainischen Brückenkopfes in der russischen Region Kursk kurz bevor zu stehen. In diesem Zusammenhang dürften die Berichte zu sehen sein, die Biden-Regierung hätte der Ukraine die Erlaubnis erteilt, mit US-Langstreckenwaffen Ziele in Russland selbst anzugreifen: „Aus den USA ist zu hören, dass es bei der Entscheidung vor allem darum geht, der Ukraine wirksame Mittel zur Verfügung zu stellen, um die von der Ukraine im August eroberten Gebiete in der russischen Region Kursk länger verteidigen zu können. Diese könnten bei möglichen Verhandlungen eine wichtige Rolle spielen.“ (Süddeutsche Zeitung, 18.11.2024)

Prompt wurde am 19. November 2024 über erste ukrainische Angriffe mit ATACMS-Raketen auf Ziele in Russland berichtet. Wiederum nahezu zeitgleich wurde eine Neufassung der russischen Atomdoktrin in Kraft gesetzt, die eine Herabsenkung der Einsatzschwelle unter anderem für den Fall eines konventionellen Angriffs beinhaltet, der eine kritische Bedrohung für Russlands Souveränität und/oder territoriale Unversehrtheit darstellt (siehe dazu ausführlich IMI-Analyse 2024/43).

Der Ukraine-Krieg ist tatsächlich an einem Scheideweg angekommen – diejenigen, die fahrlässig die russischen Drohungen als heiße Luft abtun, seien an die Worte des langjährigen Chefkorrespondenten der Welt, Michael Stürmer, erinnert. Er warnte schon im Jahr 2014, die Forderung nach einer Eskalation in der Ukraine sei im „Schatten nuklearer Waffen“ ein „Würfelspiel mit der Katastrophe“.