IMI-Standpunkt 2023/047

Neue NATO-Strategie im Ukraine-Krieg

„Halten ist Gewinnen“ – Vorbote von Verhandlungen?

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 6. Dezember 2023

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Nach dem offensichtlichen Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive scheint sich der Wind zumindest teilweise zu drehen. So ist die NATO vom Plan einer Rückeroberung der von Russland eingenommenen Gebiete bis auf weiteres zumindest abgerückt. Nun wird als neues Ziel ausgegeben, russische Geländegewinne zu verhindern („Halten ist Gewinnen“). Gleichzeitig bestätigen nun auch ukrainische Quellen, dass Russland bei den Istanbul-Verhandlungen Ende März 2022 zu einem Rückzug seiner Truppen im Austausch gegen eine Neutralität der Ukraine bereit gewesen wäre. Während die ukrainische Regierung Verhandlungen weiterhin ablehnt, mehren sich die Hinweise, dass dies im Westen nicht mehr durchgehend der Fall ist und zumindest hinter den Kulissen versucht wird, Druck auf die Selenski-Regierung auszuüben. Auf der anderen Seite gibtes aber auch im Westen weiter einen (kleiner werdenden) Teil, der für eine zeitlich unbefristete Fortsetzung des Stellvertreter-Krieges oder gar für eine weitere Eskalation in Form (noch) umfassenderer westlicher Waffenlieferungen mit kaum vorhersehbaren Risiken plädiert.

Offiziell bestätigt: Russisches Verhandlungsangebot lag vor

Schon länger ist im Prinzip bekannt, dass Ende März 2022 in Istanbul eine Verhandlungslösung in greifbarer Nähe lag. Bestätigt wurde dies bislang von einer Reihe unterschiedlicher Quellen, denen allerdings allesamt eine mehr oder minder starke Nähe zu Russland attestiert werden konnte (z.B. Gerhard Schröder…). Das unterschriftsreife Dokument wurde von Wladimir Putin unter anderem bei einem Treffen mit Regierungschefs verschiedener afrikanischer Staaten am 17. Juni 2023 präsentiert, weiter blieben aber die genauen Inhalte und auch die Ursachen für das Scheitern der Verhandlungen Gegenstand von Spekulationen, die sich auf die besagten Äußerungen tendenziell eher pro-russischer Quellen stützen mussten.

Dies hat sich mit einem jüngsten Interview von Dawyd Arachamija geändert, der bei den Istanbul-Gesprächen die ukrainische Verhandlungsdelegation geleitet hatte. Er bestätigt, dass die russische Kernforderung, bei deren Erfüllung es zum Rückzug der russischen Truppen auf den Stand vor dem 24. Februar 2022 und einer Beilegung der Kampfhandlungen gekommen wäre, aus einer ukrainischen Neutralität bestand. In der Kyiv Post vom 26. November 2023 wird er mit den Worten zitiert: „Sie hofften wirklich fast bis zum letzten Moment, dass sie uns zur Unterzeichnung einer solchen Vereinbarung drängen könnten, in der wir eine Neutralität akzeptieren. […] Sie waren bereit, den Krieg zu beenden, hätten wir – wie es Finnland einst tat – einer Neutralität zugestimmt und uns verpflichtet, nicht der NATO beizutreten. Das war für sie das wichtigste.”

Dies führt weiter zu der Frage, ob es allein die Entscheidung der Ukraine war, diese Verhandlungslösung abzulehnen oder ob sie von westlichen Akteuren hierzu gedrängt wurde. Dazu war schon vor einiger Zeit unter anderem im Guardian nachzulesen, dass der damalige britische Premier Boris Johnson die Ukraine (mutmaßlich in Absprache mit Washington) Anfang April 2023 aufgefordert haben soll, der damals im Raum stehenden Verhandlungslösung nicht zuzustimmen. Dies passt auch mit den um diesen Zeitpunkt massiv ausgeweiteten westlichen Waffenlieferungen zusammen, mit denen der Ukraine signalisiert wurde, im Kampf gegen Russland mit massivster westlicher Unterstützung rechnen zu können (siehe IMI-Standpunkt 2022/17). Dieser Auslegung widerspricht Dawyd Arachamija allerdings zumindest teilweise: Es sei allein die Entscheidung der Ukraine gewesen, die russischen Garantien für unglaubwürdig zu halten. Westlichen Druck habe es nicht gegeben. Allerdings bestätigt Arachamija, am 9. April 2022 habe Boris Johnson bei seinem Besuch gesagt, die Ukraine solle „nichts mit Russland unterzeichnen – lasst uns einfach kämpfen.“

Unklar ist, weshalb Arachamija mit seinen Aussagen erst jetzt, rund eineinhalb Jahre nach den Ereignissen, vor die Presse trat. Hierüber kann nur vage spekuliert werden, aber einzuräumen, dass damals eine Verhandlungslösung im Raume stand, könnte es ermöglichen, hieran nun wieder anzuknüpfen, was neuesten Berichten zufolge inzwischen wohl das Ziel der USA und Deutschlands zu sein scheint (siehe unten).

„Halten ist gewinnen“

Es ist nicht so, dass das Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive völlig überraschend kommt. Schließlich äußerte sich US-Generalstabschef Mark Milley bereits im Oktober 2022, die Ukraine habe mit dem russischen Rückzug aus Cherson das Maximum des Möglichen erreicht, ein Sieg über Russland auf dem Schlachtfeld sei unmöglich, es sei deshalb nun wichtig, sofortige Verhandlungen aufzunehmen (siehe IMI-Analyse 2023/08).

Inzwischen – nochmals unzählige Kriegstote später – ist dies zumindest in Teilen auch zur offiziellen Position der NATO geworden. So äußerte sich NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 4. Dezember 2023 im Interview mit der ARD: „Kriege verlaufen in Phasen. Wir müssen die Ukraine in guten wie in schlechten Zeiten unterstützen. Wir sollten uns auf schlechte Nachrichten vorbereiten.“ Schon kurz zuvor hatte die NATO ihre Kriegsziele angesichts der Resultate der ukrainischen Gegenoffensive grundlegend geändert, wie die FAZ am 28. November 2023 berichtete: „Entsprechend schraubt die NATO ihre Ziele herunter. ‚Halten ist Gewinnen‘, lautet nun die Parole, und das ist deutlich weniger ambitioniert als das, was der Westen sich von der jüngsten ukrainischen Offensive erhofft hatte: dass Kiew nämlich mit westlichen Waffen einen Durchbruch erkämpfen kann, der Putin dann an den Verhandlungstisch zwingt. Das wird auf absehbare Zeit nicht geschehen.”

Dementsprechend nehmen in jüngster Zeit auch Medienberichte zu, in denen von einer Kriegsmüdigkeit auf ukrainischer Seite gesprochen wird. Auch auf die immensen Opferzahlen unter ukrainischen Soldaten wird inzwischen häufiger verwiesen, so etwa im Tagesschau Liveblog vom 4. Dezember 2023, in dem unter Berufung auf eine noch aus dem Sommer datierende Schätzung von US-Regierungsbeamten von 70.000 Getöteten und 100.000 bis 120.000 Verwundeten gesprochen wurde.

Kurz, es steht schlecht um die ukrainischen Aussichten in diesem Krieg – und die Frage ist, wer hierfür verantwortlich gemacht wird und welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden.

Demontage eines „Kriegshelden“

Am 1. Dezember 2023 räumte auch der ukrainische Präsident Selenski im Interview mit Associated Press faktisch das Scheitern der Gegenoffensive ein: „Wir wollen schnellere Ergebnisse. Aus diesem Blickwinkel haben wir, leider, nicht die gewünschten Resultate erzielt. Und das ist eine Tatsache.“ Gleichzeitig betonte er aber auch, unbeirrt an seinen Zielen und dem Krieg festhalten zu wollen. Diese Probleme würden „nicht bedeuten, dass wir aufgeben sollten, dass wir uns ergeben. […] Wir haben vertrauen in das, was wir tun. Wir kämpfen für das, was uns gehört.“ 

Gleichzeitig beschwerte Selenski sich, er sei „nicht zufrieden, nicht alle Waffen erhalten“ zu haben, die „gewünscht worden“ waren, ein Statement, das US-Pressesprecher Kirby zu einer verärgerten Reaktion veranlasste: „Ich kann sicherlich Präsident Selenskis Einschätzung bestätigen, dass sie nicht die Erfolge erreicht haben, von denen sie gehofft haben, sie zu erreichen. Aber ich kann ihnen versichern, dass die USA alles getan hat, was möglich war.“

Doch hierbei handelt es sich nicht um das einzige Anzeichen, dass womöglich langsam der westliche Geduldsfaden mit Selenski reißt. Immer wieder betont Selenski, er glaube an einen ukrainischen Sieg, der von ihm als vollständige Eroberung sämtlicher von Russland gehaltener Gebiete einschließlich der Krim definiert wird. Vieles deutet darauf hin, dass diese Position inzwischen selbst intern zunehmend als realitätsfern und kontraproduktiv eingeschätzt wird – und dies wird inzwischen auch über die Medien so kommuniziert. So berichtete die Frankfurter Rundschau am 6. November 2023 über einen Time-Artikel, in dem extrem kritisch über Selenski berichtet wurde. Dabei wurde unter anderem ein anonymer hoher ukrainischer Regierungsbeamter mit folgenden Worten zitiert: „Er macht sich etwas vor. Wir haben keine Optionen mehr. Wir werden nicht gewinnen. Aber versuchen Sie mal, ihm das zu sagen.“

Um etwa dieselbe Zeit geriet Selenski heftig mit Armeechef Waleri Saluschni aneinander, der Anfang November 2023 im Economist von einem Scheitern der Gegenoffensive sprach. Es gebe keine Optionen mehr, selbst in die Offensive zu gehen, man könne sich lediglich auf einen langen Abnutzungskrieg einstellen. Dem widersprach Selenski entschieden, worauf in der Folge immer wieder Berichte über einen endgültigen Bruch zwischen ihm und Saluschni erschienen, der bei etwaigen Wahlen als einziger aussichtsreicher Gegenkandidat gehandelt wird.

In diesem Streit hat sich nun ein weiterer prominenter ukrainischer Akteur positioniert: Witali Klitschko. Am 3. Dezember 2023 sagte der Bürgermeister von Kiew in einem Interview: „Selbstverständlich können wir euphorisch unser Volk und unsere Partner anlügen. Aber das kann man nicht ewig machen.“ Explizit sprang er dabei an Saluschnis Seite: „Er hat die Wahrheit gesagt“, sagte Klitschko. „Manchmal wollen die Menschen die Wahrheit nicht hören. Aber letztlich ist er verantwortlich. Er hat erklärt und begründet, wie die Lage heute ist.“

Klitschko ist in der Ukraine ein einflussreicher Mann, aufgebaut wurden er und seine Partei UDAR allerdings mit Geldern und Schulungen der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament (siehe IMI-Studie 2015/06). Denkbar ist es natürlich, aber nicht unbedingt plausibel, dass Klitschko sich in einer derart heiklen Angelegenheit nicht mit seinen Mäzenen im Westen abgestimmt hat. Auch hier bleibt alles im Bereich des Spekulativen, aber wieder decken weitere Entwicklungen sich mit der Vermutung, dass der Druck auf Selenski erhöht werden soll.

Westliche Verhandlungsbereitschaft?

Die Selenski-Regierung lehnt Verhandlungen mit Russland kategorisch ab, im Oktober 2022 unterzeichnete der ukrainische Präsident sogar ein Dekret, mit dem dies unter Strafe gestellt wurde. An dieser Position wird trotz der katastrophalen Resultate der ukrainischen Gegenoffensive festgehalten, so äußerte sich etwa Außenminister Dmytro Kuleba Anfang November 2023 folgendermaßen: „Diejenigen, die behaupten, dass die Ukraine jetzt mit Russland verhandeln sollte, sind entweder schlecht informiert oder werden in die Irre geführt.“

Lange wollte man auch im Westen von Verhandlungen mit Russland absolut nichts wissen – wie beschrieben, wurde Initiativen in diese Richtung sogar mit hoher Wahrscheinlichkeit aktiv sabotiert. Stets hieß es, es sei allein Sache der Ukraine, wann es zur Aufnahme von Verhandlungen komme. Noch am 25. November 2023 wird ein Regierungssprecher in der Bild mit den Worten zitiert: „Für die Bundesregierung ist klar: Es liegt an der Ukraine, die militärischen und politischen Ziele in ihrem Abwehrkampf gegen die russische Aggression zu bestimmen. Deutschland steht fest an der Seite der Ukraine. Wir werden die Ukraine so lange unterstützen wie nötig, um sich gegen den russischen Angriff zu verteidigen. Es geht dabei um die Verteidigung der Souveränität und territorialen Integrität und somit um das Überleben der Ukraine. Dabei stehen wir mit unseren internationalen Partnern in stetigem und engem Austausch.“

Allerdings scheinen das offensichtliche Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive sowie der nahende US-Wahlkampf im Westen zu einem Umdenken zu führen. Derselbe Bild-Artikel vom 25. November 2023 berichtet nämlich im Schwerpunkt darüber, die USA und Deutschland würden inzwischen für eine Aufnahme von Verhandlungen plädieren: „Das Weiße Haus und das Kanzleramt stimmen sich dazu ab“, zitiert Bild aus Regierungskreisen. „Selenskyj soll selbst zu der Erkenntnis kommen, dass es so nicht weitergeht. Ohne Aufforderung von außen. Er soll sich aus freien Stücken an seine Nation richten und erklären, dass man verhandeln muss“, wird ein Regierungsinsider zitiert. Verhandlungen sollten laut Bild „auf Basis des aktuellen Frontverlaufs“ aufgenommen werden, weshalb man nur noch so viele Waffen liefern wolle, damit die Ukraine „die aktuelle Front halten kann“, eine „Rückeroberung der besetzten Gebiete“ dadurch jedoch nicht ermöglicht würde (die Frage, ob das überhaupt möglich wäre, sei hier einmal ausgeklammert).

Kriegslüsterner Bärendienst

Diejenigen, die sich für Waffenlieferungen und die Ablehnung von Verhandlungen ausgesprochen haben, haben der Ukraine einen Bärendienst erwiesen. Wie wir spätestens durch die Aussagen des Delegationsleiters bei den Istanbul-Gesprächen, Dawyd Arachamija, wissen, hätte die Ukraine bei der Annahme der russischen Vorschläge im Tausch gegen eine Neutralität den Rückzug der russischen Truppen auf den Stand vor dem 24. Februar 2022 erreicht. Stattdessen sieht sie sich nun dem Verlust von knapp 20% ihres Territoriums und, was noch viel schwerer wiegt, von rund 70.000 toten und über 100.000 verletzten Soldaten gegenüber.

Aktuell scheinen die Stimmen, die für die Aufnahme von Verhandlungen plädieren, lauter zu werden. Es bleibt aber ein gefährlicher, wenn auch langsam kleiner werdender Teil, der weiterhin auf eine Eskalation drängt. So plädierte etwa der österreichische Oberst Markus Reisner in einem Interview mit tagesschau.de am 3. Dezember 2023 für eine nochmalige Verschärfung des westlichen Kurses: „Einen Abnutzungskrieg kann man nicht nebenbei führen, da muss man ‚All In‘ gehen. […] Europa scheint den Ernst der Lage nicht erkannt zu haben. Warum? Weil das verbunden sein müsste mit tatsächlich signifikanten kriegswirtschaftlichen Anstrengungen. Die NATO sagt selbst: Das Fass ist langsam leer, mehr haben wir nicht. Produktionskapazitäten hochzufahren dauert Jahre, nicht Monate. […] Wenn wir zum Schluss kommen, dass wir nicht bereit sind, die Ukraine so zu unterstützen wie notwendig, dann muss man das aus meiner Sicht kommunizieren und beginnen möglicherweise Verhandlungen zu führen. Dann hat Russland uns aber genau dort, wo es uns haben will, und Russland wird mit dem weiter machen, was es will. Und das ist die Vernichtung der Ukraine.“

Möglicherweise beginnt diese Kommunikation gerade auf subtile Weise in Form vermehrter Berichte über die schwierige Lage der ukrainischen Armee oder kritischen Artikeln über Präsident Selenski. Die Propagandisten einer weiteren Eskalation gehen dagegen tatsächlich all in, wenn sie den Westen auffordern, die Ukraine in einem aller Wahrscheinlichkeit nach aussichtslosen Kampf noch massiver zu unterstützen. Denn abseits eines direkten und offenen westlichen Kriegseintritts ist es schwer vorstellbar, mit welchen Mitteln sich das Kriegsgeschehen wieder zugunsten der Ukraine wenden könnte – das wäre dann tatsächlich all in, doch im Falle von Poker, woher der Begriff stammt, wo man bei einer Niederlage nur alle seine Chips los ist, ist der Einsatz im Falle eines Krieges mit einer Atommacht ungleich höher.