IMI-Analyse 2023/29 (Update: 17.8.2023)

Litauen: Deutsche Brigade – Verfestigte Fronten

von: Martin Kirsch / Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 28. Juni 2023

Drucken

Hier finden sich ähnliche Artikel

Ein deutlich sichtbarer Ausdruck der immer bedrohlicheren Verhärtung der Fronten zwischen dem Westen und Russland stellt die wachsende NATO-Militärpräsenz an der Ostflanke dar. Nun kündigte Verteidigungsminister Boris Pistorius Pläne für eine nochmalige drastische Erhöhung der deutschen Präsenz in Litauen an. Erstmals sollen dabei Soldat*innen der Bundeswehr im großen Stil und mit allem was dazugehört dauerhaft im Ausland stationiert werden. Im Zuge dessen wird gleichzeitig auch der letzte Sargnagel in die NATO-Russland-Grundakte geschlagen, mit der dieses Vorhaben in keiner Weise vereinbar ist. Wann die benötigte Infrastruktur bereitstehen wird, ist unklar, Litauen hat sich aber bereit erklärt, hier aufs Gas zu drücken – ob die Bundeswehr für ihre Pläne aber genug Soldat*innen finden wird, ist durchaus fraglich.

Vom Bataillon zur Brigade

Bereits beim NATO-Gipfel in Warschau wurde im Juli 2016 mit der „Enhanced Forward Presence“ (EFP) die Einrichtung permanenter NATO-Basen in den drei baltischen Staaten und in Polen beschlossen. Stationiert wurde zunächst jeweils ein Bataillon (~1.000-1.500 Soldat*innen), wobei Deutschland in Litauen die Führungsrolle übernahm: „Das EFP-Bataillon ist Teil der Verteidigungsplanung Litauens unter Führung der Infanteriebrigade Iron Wolf, die ihren Sitz in Rukla hat“, erklärte das Reservistenmagazin loyal. „Sie bildet mit der leichten Infanteriebrigade Griffin das gesamte litauische Feldheer. Die Streitkräfte des Landes umfassen 22.000 Soldaten.“

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine und kurz vor dem NATO-Gipfel in Madrid wurde im Juni 2022 die Errichtung vier weiterer NATO-Basen beschlossen (in der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien). Außerdem sollten die seit 2017 bestehenden Bataillone zumindest teilweise auf Brigadegröße (~3.000-5.000 Soldat*innen) aufgestockt werden – aus der Enhanced Forward Presence wurde so die „Intensified Forward Presence“ (IFP). Im deutschen Führungsbereich wurde die Truppenzahl allerdings zunächst „nur“ von rund 1.200 auf etwa 1.700 Soldat*innen vergrößert, wovon etwa die Hälfte aus der Bundeswehr stammte. Außerdem sollte die Verlegung des Gefechtsstands einer deutschen Brigade mit 20 Soldat*innen ins litauische Rukla bei Bedarf eine rasche Vergrößerung der Truppenzahl auf die besagte Brigadegröße erlauben (siehe IMI-Analyse 2023/30). In der Folge wurden litauische Regierungsvertreter*innen jedoch nicht müde weiter eine dauerhafte Präsenzerhöhung zu fordern.

Am 26. Juni 2023 besuchte Verteidigungsminister Pistorius nun den litauischen Truppenübungsplatz Pabradė in unmittelbarer Nähe der Grenze zu Belarus, auf dem das deutsche und das litauische Heer die binationale Übung Griffin Storm abhielten. Dabei wurden rund 1.000 Soldat*innen der Bundeswehr nach Litauen verlegt, wo sie dann eine Gefechtsübung mit 200 einheimischen Streitkräften abhielten. Nach einem Gespräch mit seinem litauischen Kollegen Arvydas Anušauskas ließ Pistorius dann die sprichwörtliche Bombe platzen: „Deutschland ist bereit, dauerhaft eine robuste Brigade in Litauen zu stationieren. Voraussetzung dafür ist, […] dass die entsprechende Infrastruktur vorhanden ist, Kasernen, Übungsmöglichkeiten und die genannten Depots. Wir reden bei einer Brigade von 4.000 Soldatinnen und Soldaten, plus Material, und bei einer dann dauerhaften Stationierung eben auch Familie.“

Mit Sack und Pack

Die Verlautbarungen des Verteidigungsministers sind von erheblicher Tragweite, wie in militärnahen Medien wie etwa Soldat & Technik hervorgehoben wird: „Auf den ersten Blick hat diese Ankündigung enorme außenpolitische, als auch streitkräftepolitische Gravitas. […] An die Soldatinnen und Soldaten gerichtet bedeutet dies, dass sie sich über kurz oder lang darauf vorbereiten müssen ‚mit Sack und Pack‘ nach Litauen umziehen zu müssen, nicht nur für wenige Monate, sondern dauerhaft.“

Tatsächlich handelt es sich hier um eine ganz andere Größenordnung als bislang: Bis auf einige kleinere Kontingente gibt es mit permanenten Auslandsstationierungen bisher in der Bundeswehr keine Erfahrungen. Das dürfte die Truppe vor erhebliche Herausforderungen stellen. Schließlich geht es hier nicht nur um die Soldat*innen an sich, sondern auch um deren Angehörige sowie die gesamte Infrastruktur, die neben Kasernen und Materialdepots auch Wohnungen, Kindergärten, Schulen und dergleichen mitsamt entsprechendem Personal umfasst – insgesamt dürfte man hier von einer Zahl von gut und gerne 10.000 bis 15.000 Personen sprechen.

Vor diesem Hintergrund müssen auch erst einmal Soldat*innen gefunden werden, die bereit sind, ihren Lebensmittelpunkt für mehrere Jahre ins Ausland zu verlagern – dazu gezwungen werden können sie aktuell nicht: „Die dauerhafte Auslandsverwendung von Soldaten ist eigentlich nicht vorgesehen und kann auch – bisher – nicht verordnet werden. Nur bei zeitlich begrenzten, mandatierten Auslandseinsätzen oder ‚einsatzgleichen Verpflichtungen‘ wie etwa der Luftraumüberwachung an der Grenze zu Russland ist das möglich.“ (Die Zeit, 26.6.2023) Bislang galt die deutsche Präsenz in Litauen als eine solche einsatzgleiche Verpflichtung, allerdings ist es ein himmelweiter Unterschied, ob Soldat*innen für einen begrenzten Zeitraum oder langfristig abkommandiert werden: „Es werde ‚äußerst schwer‘ werden, so prophezeit ein ranghoher Soldat, hinreichend Freiwillige zu finden. Und wenn man die Regelung ändert und die Versetzung anordnet? ‚Dann werden viele kündigen.‘“ (Ebd) Dementsprechend hielt sich auch die Begeisterung des Bundeswehrverbandes in engen Grenzen, dessen Chef André Wüstner beim RedaktionsNetzwerk Deutschland mit folgenden Worten zitiert wurde: „Innerhalb der Bundeswehr hat die Ankündigung von Boris Pistorius überrascht. Es gibt eine Menge konzeptioneller Fragen, angefangen beim fehlenden Material, notwendigen strukturellen Anpassungen und schließlich, wie sich diese Ankündigungen unmittelbar auf Soldatinnen und Soldaten von Heer, Streitkräftebasis und Sanitätsdienst sowie auf deren Familien auswirken.“

Angesichts dieser bereits jetzt absehbaren Schwierigkeiten versuchte Pistorius bei seinem Auftritt zeitlich ein wenig auf die Bremse zu treten: Das Kontingent werde „in dem Maße aufwachsen, wie die Infrastruktur vorankommt“, so der Verteidigungsminister ((Die Zeit, 26.6.2023). In weiser Voraussicht begann Litauen nach Angaben des Reservistenmagazins loyal bereits lange vor der jetzigen Entscheidung mit dem Aufbau der entsprechenden Infrastruktur – mutmaßlich auch, um Druck auf die nun erfolgten Ankündigungen zu erzeugen: „Bis 2027 soll ein EFP-Logistikhub in Rukla stehen. Die Fläche am Fluss Neris ist planiert. Beim loyal-Besuch wurde gerade das Erdreich verdichtet. Das Projekt wird von der NATO-Beschaffungsorganisation NSPA betreut, ebenso der Bau neuer Kasernen unter dem klangvollen Namen ‚Neris Terrace Infrastructure‘ für 3.000 Soldaten. Um den Deutschen die Stationierung der EVA-Brigade in Litauen schmackhaft zu machen, planen die Litauer für die Bundeswehr drei kleine ‚Militär-Städte‘.“ Vor diesem Hintergrund zeigt sich die litauische Seite optimistisch, relativ bald die geforderte Infrastruktur bereitstellen zu können: „Litauens Präsident Nauseda versprach den Vorbereitungen eine hohe Priorität einzuräumen. Er will technische und rechtliche Verfahren beschleunigen um bis spätestens 2026 Wohngebäude, Übungsplätze, Munitionsdepots, aber auch Schulen und Kindergärten bereitzustellen.“ (tagesschau.de, 26.6.2023)

Zielbild Heer – Woher nehmen, wenn nicht stehlen

Auch auf den aktuell laufenden Umbau des Heeres dürfte die jetzige Ankündigung einigen Einfluss haben – schließlich wurde der NATO zugesagt, bis 2025 eine, bis 2027 eine zweite und vor 2030 eine dritte voll einsatzbereite Bundeswehr-Division (~15-20.000 Soldat*innen) bereitzustellen (siehe IMI-Analyse 2022/45). Die im sogenannten „Zielbild Heer“ niedergeschriebenen Strukturen zur Umsetzung dieser Pläne wurden allerdings von Beginn an als nicht in Stein gemeißelt präsentiert. So hieß es zu deren offizieller Vorstellung auf der Seite der Bundeswehr Ende März 2023: „Auf dem Weg der Umsetzung des Zielbilds muss sich das Heer darauf einstellen, dass es immer wieder zu Anpassungen kommen kann. Diese können sich aus den externen Einflussgrößen, […] den operativen Planungen im Bündnis sowie sich verändernden Verantwortlichkeiten der militärischen Organisationsbereiche ergeben. Hier gilt es bei aller verlässlichen Planung die erforderliche Flexibilität zu wahren.“ Dieser Fall dürfte mit den aktuellen Ankündigungen bereits vier Monate später eingetreten sein. Die im „Zielbild Heer“ ausformulierten Pläne für die Erfüllung der an die NATO gemachten Zusagen sind allerdings bereits jetzt ambitioniert. Woher die Truppen und das Material für die Brigade in Litauen kommen sollen, wurde bisher nicht kommuniziert. Eine bestehende Brigade nach Litauen umzuziehen würde die besagten Ziele der Einsatzbereitschaft von drei deutschen Divisionen wohl auch deutlich über 2030 hinaus torpedieren. Der Aufbau einer aus Versatzstücken der anvisierten Struktur zusammengeklaubten neuen Brigade in Litauen erscheint daher wahrscheinlich.

Die aktuell im „Zielbild Heer“ vorgesehenen drei schweren Brigaden sind ohnehin mit vier anstelle von drei Kampfbataillonen geplant. Je ein Panzer- bzw. Panzergrenadierbataillon sollte bisher für regelmäßige Rotationen nach Litauen bereitstehen. Würden diese drei Kampfbataillone – vermutlich je ein Panzerbataillon aus Augustdorf und Hartheim sowie ein Panzergrenadierbataillon ebenfalls aus Augustdorf, die erst zum 1. April 2023 eher auf dem Papier an die neuen schweren Brigaden angeflanscht wurden – zusammengeführt, könnte so der Kern einer neuen Brigade in Litauen entstehen. Alles steht dies alles unter dem Vorbehalt, dass sich relevante Teile des dortigen Personals bei Fertigstellung der Infrastruktur in Litauen auch dorthin umziehen lassen. Deutlich komplizierter dürfte der Aufbau einer neuen Brigade für Litauen im Bereich der Kampf- und Führungsunterstützungstruppen werden. So hantieren die Strukturpläne des Heeres bereits jetzt mit deutlich mehr Einheiten im Bereich Aufklärung, Pioniere, Artillerie und Logistik als aktuell vorhanden. Daher lässt sich aus den bisher geplanten Strukturen in diesem Bereich nichts herausziehen, ohne andere Ziele grundsätzlich in Frage zu stellen. Mittel- bis langfristig wären Strukturen unter Einbeziehung von deutlich mehr Reservist*innen für die Verbände in Deutschland denkbar. So hieß es bereits bei der Verkündung des Zielbildes Heer weiter: „In allen Überlegungen wird auch die Reserve weiterhin eine Schlüsselrolle spielen.“ (Ebd.) Wo die für Litauen benötigten Truppen aber eher kurzfristig herkommen sollen, ohne die volle Einsatzbereitschaft von drei deutschen Divisionen für die NATO deutlich zu verschieben, bleibt ein Rätsel.

Vermutlich auch deshalb hat sich Verteidigungsminister Pistorius bei seiner Ankündigung explizit zwei Hintertürchen offen gelassen. Einerseits hängt der Zeitplan des Umzugs der Brigade nach Litauen, wie erwähnt, vom dortigen Fortschritt der Bautätigkeiten im Bereich der Infrastruktur ab. Und zweitens formuliert Pistorius den grundsätzlichen Vorbehalt der Zustimmung der NATO: „Die Kompatibilität mit den NATO-Plänen […] ist von zentraler Bedeutung. Denn der SACEUR [der militärische Oberbefehlshaber des Bündnisses] und die NATO müssen naturgemäß, angesichts einer sehr langen Ostflanke, das Prinzip der militärischen Flexibilität wahren.“ Die tatsächliche Entscheidung über die jetzt vorgestellten Pläne dürfte daher frühestens auf dem anstehenden NATO-Gipfel Mitte Juli in Vilnius fallen. Ein grünes Licht für den Aufbau einer Bundeswehr-Brigade in Litauen würde dann wohl mit einer offiziell vereinbarten Verzögerung der deutschen Pläne zum Aufbau von drei für die NATO einsatzbereiten Divisionen bis 2030 einhergehen. Auf NATO-Ebene dürfte allerdings bald die folgenschwere Diskussion im Raum stehen, ob auch in Estland und Lettland entsprechende NATO-Brigaden – vermutlich mit Truppen aus Großbritannien und Dänemark bzw. Kanada und Spanien – aufgebaut werden sollten.

Versenkt: NATO-Russland-Akte

An dieser Stelle würde es den Rahmen sprengen, die gesamte Geschichte der gebrochenen westlichen Zusagen rund um das Versprechen, keine Erweiterung der NATO vornehmen zu wollen, einmal mehr aufzuwärmen (siehe dazu zB IMI-Analyse 2023/08). Im aktuellen Zusammenhang sollten aber wenigstens die möglichen Auswirkungen auf die NATO-Russland-Grundakte thematisiert werden. Die „Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation“ vom 27. Mai 1997 war eines der wenigen Zugeständnisse, die seitens der NATO im Austausch für Moskaus Akzeptanz der im selben Jahr beschlossenen (und 1999 vollzogenen) ersten NATO-Osterweiterung gemacht wurden. Der wohl wesentlichste Bestandteil der Grundakte besteht in der Zusicherung, dass das Bündnis künftig seine Sicherheitsaufgaben „eher dadurch wahrnimmt, dass es die erforderliche Interoperabilität, Integration und Fähigkeit zur Verstärkung gewährleistet, als dass es zusätzlich substantielle Kampftruppen dauerhaft stationiert.“

Richtig ist zwar, dass die Grundakte diese Zusicherung vom „gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld“ abhängig macht, dennoch waren viele Akteure nicht zuletzt in der Bundesregierung lange darum bemüht, wenigstens den Schein zu wahren. Denn eigentlich war die Grundakte spätestens mit dem Beschluss zur Stationierung der NATO-Bataillone 2016 Geschichte – man behalf sich deshalb damit zu argumentieren, bei vier Bataillonen handele es sich noch nicht um substanzielle Kampftruppen und aufgrund des Rotationsverfahrens könne auch nicht von einer dauerhaften Stationierung gesprochen werden. Diese Argumentation lässt sich nun beim besten Willen nicht mehr aufrecht erhalten.  Faktisch wird die Grundakte damit endgültig versenkt. So manch einem Politiker scheint diese Entwicklung gerade recht zu kommen. Fritz Felgentreu etwa, der von 2013 bis 2021 als einer der prominentesten SPD-Verteidigungspolitiker im Bundestag saß, twitterte: „Die Grundakte ist doch längst in der Tonne. Ich würde nicht einmal auf die formale Feststellung noch Energie verschwenden.“ Und für seinen Parteikollegen, den ehemaligen Wehrbeauftragten Hans-Peter Bartels, ist die Grundakte nur noch „Makulatur“.

Reißleine gegen Hochrüstung

Der Neue Kalte Krieg macht derzeit vieles möglich, wer wäre vor nicht allzu langer Zeit auf den Gedanken gekommen, deutsche Soldat*innen könnten im Ausland Militärbasen errichten, wie sie vor allem von den USA bekannt sind?

Wie und in welchem Zeitraum die nun angekündigten Pläne dann tatsächlich umgesetzt werden, steht aktuell noch in den Sternen. Die grundsätzliche Richtung ist allerdings überaus Besorgnis erregend. Es ist dringend notwendig, dass endlich die Reißleine gezogen wird, um dem immer weiter eskalierenden Hochrüsten ein Ende zu setzen!