IMI-Analyse 2023/03
Der Leopard-Plan
Nach den Schützenpanzern die Kampfpanzer?
von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 12. Januar 2023
Monatelang sträubte sich vor allem in der SPD eine kritische Masse, noch mehr Waffen und insbesondere extrem schweres Gerät an die Ukraine zu liefern. Mit dieser Haltung handelte sich die Partei scharfe Kritik der Medien, der Unionsopposition, aber auch von den grünen und gelben „Partnern“ in der Regierungskoalition ein. Wer glaubte, mit der am 5. Januar 2023 verkündeten Entscheidung, Marder-Schützenpanzer an die Ukraine abzugeben, sei die Angelegenheit nun vom Tisch, sah sich aber getäuscht – das Gegenteil ist der Fall. Inzwischen hat ein regelrechter Überbietungswettbewerb eingesetzt, wer mit noch waghalsigeren Waffenforderungen noch mehr Aufmerksamkeit erheischen kann. Dies alles bleibt nicht ohne Folgen: So wird spekuliert, ob Berlin die Lieferung von Leopard-2-Kampfpanzern noch vor dem deutsch-französischen Gipfel am 22. Januar bekannt gegeben könnte. Dies wäre nicht zuletzt auch deshalb ein weiterer Eskalationsschritt, weil es wohl auch gleichbedeutend mit der Lieferung von Leopard-Panzern durch zahlreiche weitere EU-Staaten wäre, für die Deutschland als Herstellernation nämlich grünes Licht geben muss.
Zäsur: Marder-Schützenpanzer
Glaubt man den Ausführungen von Regierungssprecher Steffen Hebestreit, befanden sich die jüngsten Entscheidungen für westliche Panzerlieferungen an die Ukraine bereits länger in der Vorbereitung: „Es hat seit Mitte Dezember intensive Gespräche mit der amerikanischen Seite, aber auch mit anderen internationalen Partnern gegeben, wie man mit Blick auf das jetzt kommende Frühjahr und die Kriegssituation in der Ukraine diese Unterstützung weiter gestalten kann. Dabei kam man relativ bald auf die Frage, ob […] jetzt der Moment gekommen ist, bei den Schützenpanzern – bei der Artillerie waren wir deutlich früher an diesem Moment – auf westliche Technik umzusteigen. Dabei geht es auch um die Lieferung von Munition und den Aufbau von Logistikketten und Lieferketten, die es braucht, um so etwas nachhaltig nutzen zu können.“ (Regierungssprecher Steffen Hebestreit, Augen geradeaus, 6.1.2023)
Insofern ist es etwas fraglich, wenn Frankreich die Rolle zugeschrieben wird, mit seiner Ankündigung Rad-Spähpanzer des Typs AMX-10 RC an die Ukraine liefern zu wollen, die Bundesregierung unter Zugzwang gestellt zu haben. Es ist aber davon auszugehen, dass Paris die Sache damit zumindest etwas beschleunigt hat: „Vieles deutet darauf hin, dass der Kurswechsel unter den drei Nationen abgesprochen war. Aber dass Frankreich bei der Verkündung vorpreschte, war ein erstes Indiz, dass die Verbündeten den Druck auf Scholz erhöhen. ‚Es besteht so etwas wie eine Übereinstimmung zwischen Macron und Selenskyj, und das hier war in gewisser Weise inszeniert, um die Bedenken der USA und Deutschlands gegen die Lieferung von Panzern zu zerstreuen,‘ erklärte der französische Regierungsbeamte, der anonym bleiben wollte gegenüber ‚Politico‘.“ (Die Welt, 10.1.2023)
Am 5. Januar 2023 jedenfalls war es dann so weit, nahezu zeitgleich verkündeten die USA und Deutschland, sich auf die Lieferung von Schützenpanzern verständigt zu haben. Auf der Seite des Verteidigungsministeriums war nachzulesen: „Eine Patriot-Feuereinheit und bis zu 40 Schützenpanzer Marder liefert Deutschland an die Ukraine, um sie im Verteidigungskampf gegen den Aggressor zu unterstützen. […] Die USA werden Bradley-Schützenpanzer bereitstellen. Damit werde die geplante Lieferung Frankreichs von Rad-Spähpanzern ergänzt, so die Ministerin. Hinzu kommen noch 100 Kampf- und Schützenpanzer sowjetischer Bauart durch den Ringtausch mit Verbündeten. […] Das Paket umfasst auch die Ausbildung der Soldatinnen und Soldaten an der Patriot-Feuereinheit und auf dem Schützenpanzer Marder, diese wird von Deutschland abgedeckt.“ (Ukraine: Deutschland liefert Schützenpanzer Marder, bmvg.de, 06.01.2023)
Hierbei handelt es sich um eine wichtige Änderung der bisherigen Waffenlieferungspolitik: „Bislang hatte die Bundesregierung die Lieferung von Schützen- und Kampfpanzern mit dem Verweis abgelehnt, man wolle keine ‚Alleingänge‘ unternehmen. […] Bei der Erklärung von Biden und Scholz handelt es sich um einen Wendepunkt in der Positionierung des Westens hin zu einer verstärkten Waffenlieferung Richtung Ukraine.“ (Hamburger Abendblatt, 6.01.2023)
Schnell stellte sich allerdings dann heraus, dass die versprochenen 40 Schützenpanzer so ohne Weiteres überhaupt nicht verfügbar sind. Zwar habe die Industrie noch 60 Marder „auf Lager“, die müssten von Rheinmetall aber erst einmal instand gesetzt werden. Als die Idee zirkulierte, dann solle die Bundeswehr aus ihrem Bestand von 350 Mardern in Vorleistung gehen und sich dann die 40 Exemplare später von der Industrie holen, wurde bekannt, dass davon nicht einmal die Hälfte einsatzfähig ist. Da davon viele etwa für die NATO-Eingreiftruppe gebunden seien, war erst einmal in dieser Angelegenheit guter Rat teuer.
Als halbe Miete wurde dann zunächst einmal präsentiert, dass Griechenland auf 20 bereits zugesagte Marder verzichtet, die nun rasch an die Ukraine abgegeben werden könnten: „Die Marder sollen stattdessen an die Ukraine gehen. Griechenland wiederum soll die fehlenden Fahrzeuge im Laufe des Jahres dann aus Rheinmetall-Beständen ersetzt bekommen, sobald diese vom Unternehmen flott gemacht wurden. Woher die restlichen 20 der 40 für die Ukraine versprochenen Marder-Panzer kommen sollen, ist allerdings wohl weiter offen. Sie sollen aus Bundeswehrbeständen zusammengekratzt werden, heißt es, doch woher genau, ist nicht ganz klar.“ (Business Insider, 10.1.2023)
Der Leopard-Plan
Mit den Marder- und Bradley-Ankündigungen wurde also inzwischen die Lieferung sämtlicher Panzertypen bis auf die schwerste Kategorie beschlossen – Kampfpanzer: „In dieser Kategorie sind Fahrzeuge gelistet, die über starke Bewaffnungen verfügen und in die direkte Konfrontation gehen können. Mitunter wird auch von der sogenannten ‚Duellfähigkeit‘ der Panzer gesprochen. Beispiele für Kampfpanzer sind unter anderem Leopard 2, M1 Abrams, Leclerc oder der britische Challenger 2.“ (Merkur, 10.2.2023)
Doch gleich unmittelbar nach der Schützenpanzer-Ankündigung überboten sich die üblichen Verdächtigen damit, noch weitergehende Forderungen in diese (und andere) Richtungen zu erheben. Carlo Masala, der medial omnipräsente Bundeswehr-Professor etwa wurde folgendermaßen wiedergegeben: „Militärexperte Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität in München begrüßt die angekündigte Lieferung von schwerem Kriegsgerät an die Ukraine als „richtige Entscheidung“ – und sprach von einem ‚Tabubruch‘. […] Masala [kritisierte] jedoch, dass es sich bei dem angekündigten Material immer noch nicht um richtige ‚Kampfpanzer‘ handelt, etwa im Sinne des Leopard II oder eines M1 Abrams der US-Armee. Sogar MIG-29, sowjetische Kampfjets, könnten aber an die Front geliefert werden, sagte er: ‚In zwei Monaten reden wir möglicherweise über Kampfflugzeuge und Kampfpanzer.‘“ (Merkur, 07.01.2023)
Auch die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) forderte, nun müssten auch Leopard 2 in die Ukraine geschickt werden. „Wir werden nicht aufhören, Waffen an die Ukraine zu liefern“, versicherte auch Vizekanzler Robert Habeck (Grüne). Und auch sein diesbezüglich ohnehin stets an vorderster Front kämpfender Parteifreund, der grüne Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Anton Hofreiter, ging in die Offensive: „Anton Hofreiter fordert die Lieferung zahlreicher europäischer Kampfpanzer an die Ukraine. Scholz müsse ‚jetzt eine europäische Initiative starten zur Lieferung von Leopard-2-Panzern‘, sagte der Grünen-Politiker unserer Redaktion. Leopard 2 würden in mehr als zehn europäischen Ländern genutzt.‘ Es gibt in Europa circa 2000 aktive Leopard 2. Nur zehn Prozent an die Ukraine geliefert, wären eine große Hilfe.“ (Handelsblatt, 6.1.2023)
Auf die Idee der „Euro-Leopard“ für die Ukraine ist Hofreiter selbstredend nicht selbst gekommen. Sie stammt vom einflussreichen „European Council on Foreign Relations“ , der bereits Anfang September den „Leopard-Plan“ veröffentlichte. Er enthält so ziemlich genau die Dinge, die sich Hofreiter nun zu Eigen gemacht hat: Es seien bei dreizehn europäischen Staaten rund 2.000 Leopard-2-Panzer (zumeist in den Versionen 2A4 und 2A5) vorhanden, deshalb sei es möglich, eine Art Pool zu bilden, in den die einzelnen Länder ihre Panzer „spenden“ könnten. Als Motivation schlagen die ECFR-Autor*innen vor, den Ländern ihre „gespendeten“ Panzer durch die neueste Leopard-Version zu ersetzen und dies über die Europäische Friedensfazilität finanzieren zu lassen: „Die Ukraine muss in eine neue Phase des Krieges eintreten, will sie das von Russland besetzte Territorium zurückerobern. Ein europäischer Plan zur Unterstützung mit Leopard-Panzern sollte im Zentrum dieser Bemühungen stehen.“ (The Leopard plan, ecfr.de, 9.9.2022)
Polnisch-britischer Druck – Deutsche Schlüsselrolle
Deutschland spielt in diesem Zusammenhang die absolute „Schlüsselrolle“, wie der Militärexperte Thomas Wiegold in einem ausführlichen Artikel des Table Security herausarbeitete: „Die Chancen steigen, dass die Ukraine in den nächsten Wochen nicht nur Schützenpanzer, sondern auch Kampfpanzer aus westlicher Produktion bekommt. An Deutschland wird nicht nur die Frage nach eigenen Lieferungen des Kampfpanzers Leopard gestellt – Berlin müsste auch anderen Europäern grünes Licht für den Export geben.“ (Thomas Wiegold, Kampfpanzer für die Ukraine: Deutschland spielt eine Schlüsselrolle, Table Security, 10.1.2023)
Polen sei etwa bereit, Teile seiner 250 Leopard-2-Kampfpanzer an die Ukraine abzugeben. Auch aus anderen europäischen Ländern gäbe es Signale in eine ähnliche Richtung, dies sei aber davon abhängig, dass Deutschland einem Re-Export zustimme. Und dies wird nur für wahrscheinlich gehalten, sollte auch Berlin selbst bereit sein, Leopard 2 an die Ukraine zu liefern. Noch am 9. Januar 2023 hatte allerdings Regierungssprecher Steffen Hebestreit betont: „Die Bundesregierung hat zum jetzigen Zeitpunkt kein Bestreben, ihrerseits Leopard 2-Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern.“
Auf der anderen Seite ist es ja inzwischen üblich, dass derlei Aussagen nicht zwingenderweise in Stein gemeißelt sind. Ändern könnten dies zum Beispiel die britischen Erwägungen, bis zu zehn Kampfpanzer vom Typ Challenger 2 an die Ukraine abzugeben. Als „Türöffner“ könnte sich dies erweisen, spekuliert Thomas Wiegold, denn schon beim nächsten Treffen im Rammstein-Format am 20. Januar 2023, in dem sich eine Reihe von Staaten zusammenfinden, um vorrangig Waffenlieferungen an die Ukraine zu besprechen, wolle Großbritannien dieses Angebot offiziell unterbreiten. Dies bringe Deutschland in die „Zwickmühle“, von seiner bislang ablehnenden Haltung eventuell Abstand nehmen zu müssen, um nicht isoliert dazustehen. Parallel dazu berichtete Politico, Frankreich dränge Deutschland derzeit massiv dazu, der Lieferung von Leopard 2 zuzustimmen, dies solle symbolträchtig im Vorfeld des deutsch-französischen Gipfels am 22. Januar 2023 anlässlich des 60. Jahrestags des Elysée-Vertrags vermeldet werden. Auf der anderen Seite betonte Regierungssprecher Hebestreit am 10. Januar noch einmal, er gehe davon aus, dass es auch in Rammstein beim deutschen Leopard-Nein bleiben werde: „Wenn ich es auf die Frage konkretisieren würde, ob ich zum jetzigen Zeitpunkt die Erwartung hätte, dass es bis zum Treffen in Ramstein eine Veränderung der Haltung der Bundesregierung bezüglich der Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine gibt, dann würde ich sagen, das hielte ich im jetzigen Zustand für nicht sehr wahrscheinlich.“ (Augen geradeaus, 11.1.2023)
Allerdings wurde hier schon wieder mit dem Verweis auf den „jetzigen Zustand“ eine Formulierung gewählt, mit der diese Position jederzeit auch über Bord geworfen werden kann. Denn dieser Zustand änderte sich bereits am folgenden Tag: Sein Land sei bereit, zunächst eine Kompanie (14 Panzer) als Teil einer internationalen Koalition zur Lieferung von Leopard-Kampfpanzern an die Ukraine abzugeben, erklärte der polnische Präsident Andrzej Duda am 11. Januar 2023. Damit wächst der Druck auf die Bundesregierung bzw. die SPD weiter, grünes Licht für die „Leopard-Panzer-Koalition“ zu geben oder sich gar an ihr mit eigenen Lieferungen zu beteiligen. Bereitwillig griff u.a. Anton Hofreiter diese Steilvorlage einmal mehr auf: „Kanzler Scholz steht jetzt in der Verantwortung, die Lieferung der Kampfpanzer mit den anderen westlichen Staats- und Regierungschefs zu koordinieren.“ Auch von seinem Parteikollegen, dem Bundestagsmitglied Robin Wagener, wurden Forderungen in eine ähnliche Richtung erhoben: „Die Ukraine braucht Panzer westlicher Bauart für die Verteidigung und Befreiung russisch besetzter Gebiete“, erklärte Wagener. „Die Bereitschaft unserer polnischen Freunde zur Bildung einer europäischen Koalition für die Lieferung europäischer Kampfpanzer ist ein wichtiges Signal der Solidarität.“ (Die Welt, 11.1.2023)
So verdichten sich allmählich die Anzeichen, dass bald eines der letzten großen Tabus in Sachen Waffenlieferungen fallen könne. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba jedenfalls ist sich recht sicher, dass dies unmittelbar bevorsteht: „Selbst wenn Deutschland gewisse rationale Argumente dafür haben sollte, es nicht zu tun, wird Deutschland es zu einem späteren Zeitpunkt trotzdem tun. Wir haben das bereits bei den Panzerhaubitzen gesehen, beim Flugabwehrsystem IRIS-T und zuletzt bei den Mardern und Patriot-Systemen. Es ist immer ein ähnliches Muster: Erst sagen sie Nein, dann verteidigen sie ihre Entscheidung heftig, um am Ende doch Ja zu sagen.“ (tagesschau.de, 11.1.2023)
Bei diesem Artikel handelt es sich um eine aktualisierte und erweiterte Variante eines Beitrags, der unter dem Titel „Panzer für die Ukraine: Deutschlands Schlüsselrolle“ zuerst bei Telepolis erschien.