IMI-Analyse 2022/36 - in: Ausdruck Juni 2022

Weltraumprogramme als Technologiepolitik

von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 20. Juli 2022

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Im Herzen der Raumfahrtindustrie stehen die Triebwerke der Raketen. Die gewaltigen Ausmaße ihrer frühen Geschichte lassen sich teilweise heute noch in den Kiefernwäldern um Peenemünde auf dem Nordteil der Insel Usedom aufspüren. Zur dortigen Heeresversuchsstelle gehörten schnell errichtete Lager für die Zwangsarbeiter, einfache Wohnanlagen für die Arbeiter*innen und luxuriösere Häuser für die Ingenieure und ihre Familien,1 verbunden durch eine eigene S-Bahn-Linie. Ein eigener Flughafen und mehrere Raketenprüfstände wurden versorgt von einem der größten Kohlekraftwerke seiner Zeit, das u.a. Strom für das Sauerstoffwerk und die zahlreiche Werkstätten, Produktionsgebäude, Beobachtungsstände und sogar Fernwärme für S-Bahnstationen lieferte. Über 10.000 Menschen waren hier daran beteiligt, eine schreckliche (wenn auch damals noch dysfunktionale) Waffe zu entwickeln, mit der es am 3. Oktober 1942 erstmals gelang, ein von Menschen geschaffenes Objekt „bis zum Rand der Atmosphäre … in den praktisch luftleeren Weltraum“ zu bringen.2 Mit diesem Ereignis beginnt auch der schwärmerische Bericht des damaligen militärischen Leiters der Anlage, Walter Dornberger, über „Peenemünde – Die Geschichte der V-Waffen“. Aus ihm geht auch hervor, dass die Infrastruktur und Produktionsketten der Raketenentwicklung bereits damals weit über die Insel Usedom hinausreichten: Im ganzen deutschen Reich waren Großunternehmen wie AEG und Siemens, aber auch mittelständische Betriebe und Hochschul-Institute oder -Professoren beteiligt, indem sie hochspezialisierte Bauteile, Brennöfen und Treibstoffe für die hunderten Brennversuche und Teststarts lieferten, in denen immer wieder neue Materialien, Steuerungsinstrumente, Methoden der Einspritzung, äußere Formen und innere Anordnungen ausprobiert wurden. Nicht alles daran war High-Tech, es kamen auch Holz, Stahlwolle und Nägel zum Einsatz. Brennversuche fanden u.a. auch in Kummersdorf im heutigen Landkreis Teltow-Fläming und Teststarts über Land im „Generalgouvernement“ (dem besetzten Polen) statt. Damals moderne Elektronik kam bei der filmischen Dokumentation, der Steuerung und Überwachung der internen Vorgänge während des Fluges zum Einsatz. Letzten Endes ging es bei der Entwicklung der V-Waffen jedoch um das profane Ziel, hohe Mengen kinetischer Energie buchstäblich aus heiterem Himmel an weit entfernte Ziele auf der Erdoberfläche zu bringen.

Der Technikphilosoph Paul Virilio weist demgegenüber darauf hin, dass die Entwicklung der Fotografie (später des Films) und der Luft- und Raumfahrt zeitgleich und miteinander verschränkt verliefen. Ziel auch der zivilen Luftfahrt sei am Anfang gar nicht gewesen, irgendwohin, sondern „in die Luft“ zu fliegen, um einen vermeintlich gottgleichen Blick auf die Erde richten zu können.3 Die kontinuierliche Verbesserung der Kameratechnik und Sensorik insgesamt wurde wesentlich davon getrieben, brauchbare Aufnahmen aus immer größeren Höhen aufzunehmen – und die Kommunikationstechnik davon, diese zur Erde zu senden. Ab den 1970er Jahren waren es dann auch gerade Satellitenaufnahmen, die eine frühe Anwendung der elektronischen Datenverarbeitung darstellten4 und mit der Bilderkennung ein Forschungsgebiet hervorbrachten, in dem wichtige Verfahren der sog. Künstlichen Intelligenz geprägt wurden.

Entsprechend erklärt die Historikerin Margaret O‘Mara in ihrem Buch „The Code“ die Entstehung des Silicon Valley vor dem Hintergrund des sog. Kalten Krieges wesentlich durch den Sputnik-Schock 1957 und die daraufhin einsetzenden Regierungsprogramme für Rüstung und Weltraum. Auch die 1983 von Ronald Reagan angestoßene „Strategic Defense Initiative“ (SDI) sei zwar im Volksmund als „Star Wars“-Programm tituliert worden, habe jedoch primär die Weiterentwicklung von Computern und ihren Anwendungen zum Gegenstand gehabt und v.a. Geld in die damals neuen Abteilungen für „Computer Science“ der Universitäten gespült. Als „schlagendes Herz“ des Valleys beschreibt sie zugleich über Jahrzehnte die Niederlassung für „Missiles and Space“ (Raketen und Weltraum) des Rüstungskonzerns Lockheed.5

Im Mittelpunkt der Weltraumprogramme stehen fast immer sehr große Unternehmen der Rüstungsindustrie, im Falle des deutschen (und des bayrischen) der Konzern Airbus Defence and Space. Darum herum finden sich oft auch erstaunlich viele mittelständische Betriebe, die spezielle Komponenten liefern und solche Unternehmen, die heute als Startups bezeichnet werden und eher experimentelle Konzepte und Bauteile entwickeln – was aufgrund der umfangreichen öffentlichen Finanzierung trotzdem profitabel ist. Oft findet sich dann ein ziviler Massenmarkt für Innovationen, auch wenn sich deren Anwendung im Weltraum nicht erfüllt hat.6

Grundsätzlich stellt der Weltraum Bedingungen und damit industrielle Zielsetzungen, die auch zivile Produkte verbessern oder erst ermöglichen – welche aber ohne die staatlichen Fördermittel nicht oder erst später profitabel und damit realisiert worden wären. Dazu zählen u.a. Miniaturisierung und Energieeffizienz. So waren es im Zeitalter der transistorbasierten Mainframe-Computer zunächst die Weltraum- und Raketenprogramme der NASA und des Pentagon, welche sich ab 1960 für die neuen integrierten Schaltkreise interessierten, eine entsprechende Nachfrage generierten, die Stückkosten senkten und damit dem Mikrochip zum Durchbruch verhalfen.

Weitere Bedingungen sind die verzögerte Kommunikation mit und die schwierige Versorgung von Objekten im All z.B. mit Energieträgern. Grundsätzlich sind sie in einem hohen Maße auf Autonomie angewiesen. Lange bevor Solarzellen auf der Erdoberfläche nennenswert als Energiequellen in Betracht gezogen wurden, waren sie für Satelliten und Raumsonden zur Standardausrüstung geworden. Damit verbunden war auch die Forschung an Batteriezellen, die hier immer schon hohe Anforderungen an Leistungsfähigkeit, Langlebigkeit und Gewicht erfüllen mussten. Auch wesentliche Impulse für die Robotik und unbemannte Fahrzeuge wurden im Rahmen von Raumfahrtprogrammen gesetzt und häufig dient bei entsprechender Forschung mit offensichtlich militärischem Nutzen die mögliche Anwendung in der Raumfahrt der Gewissensberuhigung der beteiligten Forscher*innen.

So erklärt sich auch die enorme Spannbreite von Aktivitäten, die auch das deutsche Pendant zur NASA, das deutsche Zentrum Luft- und Raumfahrt (DLR) verfolgt. Einerseits ist es unmittelbar in die Satellitenaufklärung der Bundeswehr und zahlreiche Projekte der vermeintlich zivilen „Sicherheitsforschung“ einbezogen, andererseits aus seiner Geschichte der Auswertung meteorologischer Daten heraus auch in die Klimaforschung. Da die Raumfahrt allerdings generell in einem (vorsichtig ausgedrückt) Spannungsverhältnis zum Klimaschutz steht, forscht das DLR aktuell auch an neuen, vermeintlich emissionsfreien Treibstoffen und Triebwerken, die auf grünem Wasserstoff basieren sollen. Dabei wird die zu schaffende Infrastruktur gleich mitgedacht. So gehen nicht nur wesentliche Vorstudien des Desertec-Projekts zur großflächigen Gewinnung erneuerbarer Energien (für Europa) in Nordafrika und der Sahel-Region auf das DLR zurück, sondern auch wesentliche Elemente der aktuellen Wasserstoff-Strategie der Bundesregierung. Nur ansatzweise damit verbunden spielt es auch in Planungen zur Mobilitätswende und zu „Smart Cities“ eine zentrale Rolle (aufgrund seiner gewachsenen Verbindungen zur Industrie ist hierbei allerdings zweifelhaft, ob sich dabei wirklich nachhaltige Konzepte durchsetzen werden). Da es in Deutschland kaum eine Organisation gibt, die über vergleichbare Kompetenzen zur großräumigen Entwicklung und Planung einerseits und Projektabwicklung andererseits verfügt, ist das DLR zumindest als Projektträger auch in Regierungsprogramme eingebunden, die keinerlei inhaltlichen Zusammenhang mit der Luft- und Raumfahrt aufweisen.

Zusammengefasst handelt es sich bei Weltraumprogrammen um staatliche Technologiepolitik, von der v.a. die Rüstungsindustrie profitiert, die aber auch viele zivile Innovationen hervorgebracht hat, die unseren Alltag prägen – und zweifelsfrei oft auch erleichtern. Sie erklären aber zumindest in Teilen auch, warum dieser Alltag durch Extraktivismus, Kontrolle und Partiarchat geprägt ist. Welche anderen Formen der Technologiepolitik wären denkbar, was für Technologien und Lebensweisen hätten sie hervorgebracht oder könnten sie hervorbringen?

Anmerkungen

1 Obwohl insgesamt sicherlich auch Frauen in die Entwicklung der V2 einbezogen waren, handelte es sich bei den Lagern für Zwangsarbeiter um Außenlager des Männerlagers des KZ Ravensbrück, waren dort also nach Quellenlage keine Frauen untergebracht (s. Günther Jikeli (Hrsg.): Raketen und Zwangsarbeit in Peenemünde, https://library.fes.de/pdf-files/bueros/schwerin/10562.pdf). Bei Dornberger (s.u.) spielen weibliche Ingenieurinnen keine Rolle, dem Autor liegen keine Informationen darüber vor, dass sie leitende Funktionen bekleidet hätten.

2 Walter Dornberger: Peenemünde – Die Geschichte der V-Waffen, Rhino-Verlag 2020.

3 Paul Virilio: Rasender Stillstand, Carl Hanser Verlag 1992.

4 Zur damaligen Situation in Deutschland vgl. Hans-Peter Bähr: Digitale Bildverarbeitung – Anwendung in Photogrammetrie und Fernerkundung, Wichmann Verlag 1985.

5 Margaret O‘Mara: The Code – Silicon Valley and the Remaking of America, Penguin Press 2019.

6 Eine beispielhafte und übersichtliche Liste entsprechender Unternehmen liefert z.B. der Katalog der Mitglieder des polnischen Verbands der Raumfahrtindustrie, der erst 2012 gegründet worden war – bevor 2014 die Polish Space Agency ihre Arbeit aufnahm. Zu finden unter: https://space.biz.pl/wp-content/uploads/2021/03/SpacePL_Katalog_EN_2021-pages.pdf.