IMI-Standpunkt 2022/020
Zynische Stellvertreter-Strategie
USA wollen keine Verhandlungen, sondern eine „beispiellose Summe“ für einen langen Krieg in der Ukraine bereitstellen
von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 29. April 2022
Es ist inzwischen recht offensichtlich, dass der Westen (oder zumindest die USA und eine Reihe weiterer Verbündeter) die sich in der Ukraine bietende Gelegenheit nutzen will, um Russland so weit als möglich zu schwächen. Geschehen soll dies, indem wie auch immer geartete Verhandlungslösungen so lange kategorisch abgelehnt werden sollen, bis das russische Militär vollständig aus der Ukraine verdrängt wurde – da dies einer Niederlage gleichkäme, die Russland um jeden Preis verhindern möchte, setzt der Westen damit faktisch auf einen lang andauernden Stellvertreterkrieg (siehe IMI-Standpunkt 2022/017).
Vorgestern bestätigte die britische Außenministerin Liz Truss diesen Verdacht in einer Grundsatzrede: „Wir werden schneller handeln und weiter gehen, um Russland aus der gesamten Ukraine zu verdrängen. […] Wir müssen also auf lange Sicht vorbereitet sein und unsere Unterstützung für die Ukraine verdoppeln. […] Schwere Waffen, Panzer, Flugzeuge – wir graben tief in unseren Beständen, steigern die Produktion“ (die Rede „The return of geopolitics“ findet sich im Original hier). Genauso klang US-Verteidigungsminister Lloyd Austin bei seinem kürzlichen Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj: „Wir wollen, dass Russland so weit geschwächt wird, dass es das, was es beim Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr tun kann. Es hat bereits eine Menge militärischer Fähigkeiten und, offen gesagt, viele seiner Truppen verloren. Und wir wollen, dass sie nicht in der Lage sind, diese Fähigkeit sehr schnell wiederherzustellen.“
Die nun von immer mehr westlichen Staaten, unter anderem von Deutschland, beschlossene Lieferung schwerer Waffen (siehe IMI-Analyse 2022/25) passt zu dem Ziel einer maximalen Schwächung Russlands per Stellvertreterkrieg: denn die bisherige ukrainische Bewaffnung war zwar „geeignet“, um den russischen Vormarsch zu erschweren, aber für eine Rückeroberung verlorener Gebiete weitgehend untauglich. Dafür braucht es schwerer Gerät, das nun massenweise an die Ukraine geliefert wird – zusammen mit der wohl unmissverständlichen Forderung im Gepäck, in die Offensive zu gehen.
Was die USA nun aber auf den Weg bringen wollen, übersteigt alle bisherigen „Unterstützungsmaßnahmen“ für die Ukraine noch einmal bei weitem. So reaktivierte der Kongress mit großer Mehrheit den Lend-Lease Act von 1941, mit dem Rüstungslieferungen erleichtert werden. Vor allem aber wird heute berichtet, US-Präsident Joseph Biden hätte eine „beispiellose Summe“ v.a. für Waffenlieferungen in die Ukraine beantragt: „[Biden] hatte kurz zuvor den Kongress um weitere Hilfsgelder für die Ukraine in Höhe von 33 Milliarden US-Dollar gebeten – die Hälfte davon für militärische Ausrüstung, schätzt die New York Times. Zum Vergleich: Bisher hatte die Biden-Regierung insgesamt Militärhilfe im Wert von 3,7 Milliarden US-Dollar geliefert und versprochen. Es ist also eine beispiellose Summe, mit der das Weiße Haus in den kommenden fünf Monaten die US-Hilfe finanzieren will. Die Kosten des Kampfes kämen allen teuer zu stehen, verteidigte Biden seinen Antrag: ‚Wir brauchen diese Gesetze, für den Kampf der Ukraine um Freiheit.‘“
Den „Kampf der Ukraine um Freiheit“ lässt man die dortigen Menschen kaltblütig einiges Kosten – mit „Werten“ hat das alles nichts zu tun, sondern mit machtpolitischem Kalkül, ansonsten würde wenigstens parallel dazu versucht, auch auf dem Verhandlungswege weiter zu kommen. Und deshalb warnen nun auch mehr und mehr Stimmen, die völlig unverdächtig sind, Russland freundlich gegenüberzustehen, vor den verheerenden Folgen der westlichen Stellvertreter-Strategie. So etwa der Historiker Jörg Baberowski, der seit einigen Jahren eher durch recht putinkritische Töne auffiel. Er äußerte sich nun im Interview mit t-online.de: „Ich habe Zweifel, ob es gelingen wird, durch die Lieferung schweren Kriegsgeräts an die Ukraine den Konflikt zu beenden. Putin wird sich nicht geschlagen geben, weil er sich eine Niederlage nicht leisten kann. Die Folgen eines langwierigen Zerstörungs- und Vernichtungskrieges werden für Russland und die Ukraine verheerend sein. […] Jetzt kommt es darauf an, einen neutralen Vermittler zu finden, der einen Frieden aushandelt, von dem beide Seiten einen Gewinn haben. Eine andere Lösung kann es gar nicht geben, wenn wir einen langen Zermürbungskrieg verhindern wollen.“
Doch, wie gesagt, um Verhandlungen und Vermittlung scheint es dem Westen nicht zu gehen – den barbarischen Kern dieser Stellvertreter-Strategie fasste kürzlich John Mearsheimer zusammen, einer der renommiertesten US-Politikwissenschaftler und Anhänger des machtpolitischen Realismus: „Wir haben beschlossen, dass wir Russland in der Ukraine besiegen werden. […] Man könnte argumentieren, dass der Westen, insbesondere die Vereinigten Staaten, bereit sind, diesen Krieg bis zum letzten Ukrainer zu führen. Und das Endergebnis ist dann, dass die Ukraine tatsächlich als Land zerstört wird. […] Tatsache ist, dass die Vereinigten Staaten den Ukrainern nicht erlauben werden, einen Deal abzuschließen, den die Vereinigten Staaten für inakzeptabel halten.“