IMI-Analyse 2022/20

Gastgeber wider Willen?

NATO setzt vier neue Battlegroups durch

von: Martin Kirsch | Veröffentlicht am: 31. März 2022

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Die Beschlüsse des NATO-Gipfels am 24. März 2022 in Brüssel sind eindeutig. Das Tansatlantische Bündnis setzt weiter auf Muskelspiele und die Verstärkung seiner Truppen entlang der Ostflanke. Dafür stehen der NATO, zusätzlich zu den fast 300.000 Soldat*innen der acht östlichen Bündnisstaaten, mittlerweile 40.000 Soldat*innen unter direktem Kommando aus Brüssel sowie jeweils über 100 Kampfjets und Schiffe, darunter auch Flugzeugträger und U-Boote, zur Verfügung. Die NATO-Truppen würden von mittlerweile 100.000 US-Soldat*innen in Europa unterstützt.

Zentrale Neuheit des Gipfels ist allerdings die Einrichtung von vier neuen NATO-Battlegroups in der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Die Stationierung von NATO-Truppen entlang der Ostflanke soll laut Generalsekretär Jens Stoltenberg von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichen.

Laut dem ehemaligen deutschen NATO General Erhard Bühler passiere die Aufstellung neuer Battlegroups “auf den Wunsch der anderen mittel-/osteuropäischen Staaten”. Mit dieser in der deutschen Debatte gängigen Aussage liegt Bühler zwar formal nicht falsch, aber was das Zustandekommen der neuen Stationierungen angeht, auch alles andere als richtig.

Tatsächlich haben die vier Staaten schlussendlich formal bei der NATO nach der Einrichtung der neuen Truppen angefragt. In Slowenien war diesem Schritt aber erheblicher Zweifel, in Bulgarien und Ungarn sogar offene Ablehnung aus Regierungskreisen vorangegangen. Erst mehrere NATO-Gipfel und diverse Besuche von hohen US-Gesandten in die Region führten in den letzten anderthalb Monaten schließlich zu einer kaum als freiwillig zu bezeichnenden Zustimmung.

Debatte mit Vorlauf

Die Diskussion um die Verstärkung der NATO-Präsenz in Zentral- und Südosteuropa begann nicht erst mit dem russischen Truppenaufmarsch an den ukrainischen Grenzen ab Ende 2021. Bereits im Sommer 2020 wurde ein Debattenbeitrag auf warontherocks.com veröffentlicht, einem Internetblog der Texas National Security Review. Darin wird argumentiert, dass die NATO durch die unterschiedlichen Vorgehensweisen im Baltikum und in Polen einerseits und in Zentral- und Südosteuropa – insbesondere in der Schwarzmeerregion – andererseits Lücken für russische Vorstöße und Provokationen offen lasse. “Bei einer wirksamen Abschreckung geht es nicht nur um ein mathematisches Gleichgewicht der Kräfte, sondern darum, dem Kreml die Fähigkeiten und die Entschlossenheit der NATO und ihrer Partner zu vermitteln. Jeder wahrgenommene Mangel an Zusammenhalt und Kohärenz […] könnte Moskau ungewollt signalisieren, dass es die Schwachstellen innerhalb des Bündnisses ungestraft ausnutzen kann.”

Daher müsse der Fokus der NATO geweitet werden. Dafür sei die Präsenz von Battlegroups, Kampfjets und der Ausbau der Flug- und Raketenabwehr, wie bereits zuvor im Baltikum und in Polen, auch in den weiteren Staaten der Ostflanke nötig. Dieser Debattenbeitrag kam allerdings nicht von irgendwem. Einer der vier Autoren war Ben Hodges, der bis zu seiner Pensionierung 2018 als Kommandeur der US Landstreitkräfte in Europa tätig war.

Pläne mit Widersprüchen

Im Dezember 2021 machte sich ein führender aktiver US-General diese Forderungen zu eigen. Laut Medienberichten brachte Tod Walters, der militärischer Oberkommandierende der NATO, in einer Videokonferenz mit militärischen Führern aus Partnerstaaten die Einrichtung von NATO-Battlegroups in Rumänien und Bulgarien ins Spiel. Anfang des Jahres wurde die Debatte um die mögliche Einrichtung von NATO-Battlegroups in der Slowakei und Ungarn ausgeweitet.

Seit Februar 2022 wurden, parallel zum russischen Truppenaufmarsch, Soldat*innen der US-Streitkräfte und weiterer NATO-Staaten nach Slowenien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien verlegt. Vorerst allerdings auf Grundlage bilateraler Vereinbarungen.

Positive Signale für die Einrichtung neuer Battlegroups kamen aus Rumänien und der Slowakei, die spontan auch der temporären Stationierung von je über 1.000 US-Soldat*innen zustimmten. Während diese Entscheidung aus Bukarest nicht verwundert – die dortige Regierung gibt sich bereits seit Jahren als NATO-Musterschüler in der Region – kamen die Signale aus Bratislava eher überraschend. Dort vollzog die Regierung in der Frage der Stationierung fremder Truppen auf ihrem Territorium im Laufe des Februar, entgegen der Stimmung in der Bevölkerung und massiver Proteste, einen deutlichen Richtungswechsel. (siehe IMI-Analyse 2022/09)

Auf dieser Grundlage wurde auf dem spontan einberufenen NATO-Gipfel am 25. Februar 2022 die Einrichtung von je einer Battlegroup in der Slowakei und in Rumänien verkündet. Während der rumänische Präsident Klaus Iohannis Anfang März öffentlich auf eine schnelle Entsendung der NATO-Truppen in sein Land drängte, war die Debatte in Budapest und Sofia weiter von Misstrauen und offener Ablehnung geprägt.

Budapest – Orban-Regierung lenkt ein

Die Regierung Orban in Budapest stellte sich zwischenzeitig offensiv gegen die Pläne der NATO. Anfang Februar erklärte Ungarns Außenminister Péter Szijjártó gegenüber dem Sender Euronews, Ungarn werde keine weiteren NATO-Truppen auf seinem Territorium akzeptieren. Mit der ungarischen Armee selbst seien bereits NATO-Truppen im Land stationiert. Dieser Logik folgend wurde am 23. Februar, einen Tag vor der russischen Invasion in der Ukraine, durch den Oberbefehlshaber der NATO, Tod Walters, die NATO-Zertifizierung ungarischer Truppen bekanntgegeben. Damit erhielten sie den Stempel im Auftrag des Bündnisses eingesetzt werden zu können.

Am 4. März, also bereits nach Kriegsbeginn, wiederholte Außenminister Szijjártó seine Aussage in etwas abgeschwächter Form: “Die ungarischen Verteidigungskräfte können Ungarn schützen. Es werden keine zusätzlichen Kräfte gebraucht.” Vermutlich nach massivem Druck der NATO veröffentlichte der ungarische Regierungschef Orban dann am 7. März ein Dekret, das dem Aufenthalt von NATO-Truppen im Land unter Bedingungen zustimmt. Jegliche Waffenlieferungen Richtung Ukraine über das Territorium Ungarns werden darin untersagt und der Transit und Aufenthalt von NATO-Truppen auf den Landesteil westlich der Donau beschränkt. Bereits drei Tage zuvor hatte die kroatische Regierung verkündet, bei Bedarf bis zu 70 Soldat*innen nach Ungarn zu entsenden.

Wann genau Ungarn auf die Forderungen der Verbündeten einging, bleibt unklar. Mittlerweile steht aber fest, dass Ungarn die Führung der Battlegroup im Land wohl selbst übernehmen wird. Hinzu kommen sollen dann Soldat*innen aus Kroatien, der Türkei, Italien, den USA und Montenegro.

Damit geht die ungarische Regierung zwar auf die Pläne der NATO ein, verfolgt aber unter geänderten Bedingungen ihren alten Kurs weiter. Dafür wurde die ungarische Armee in den letzten Jahren bereits durch umfassende Waffenkäufe auf den Weg zum NATO-Standard gebracht (siehe IMI-Analyse 2021/33). Zudem führt Ungarn den Aufbauprozess für die Einrichtung eines Multinational Division Centre, das künftig bis zu 20.000 Soldat*innen aus Ungarn, der Slowakei und Kroatien im Auftrag der NATO führen können soll. Während Budapest seine Truppen für die volle NATO-Integration fit macht, wird parallel der Versuch unternommen, maximale Kontrolle über eigene Truppen und die Präsenz der NATO auf ungarischem Territorium zu behalten.

Sofia – neuer Verteidigungsminister macht Weg frei

In Bulgarien führten die Auseinandersetzungen um die Bewertung des Krieges in der Ukraine und das Verhältnis des Landes zur NATO zu ernsten Auseinandersetzungen innerhalb der Regierung. Bereits am 21. Dezember 2021 äußerte sich der bulgarische Verteidigungsminister Stefan Yanev dahingehend, dass Bulgarien keine NATO-Truppen im Land brauche und mit Blick auf die Ukraine einen neutralen Status einnehmen sollte – weder pro-russisch, noch pro-NATO oder pro-EU, sondern orientiert an nationalen Interessen. Seit Beginn der Debatte um neue NATO-Truppenstationierungen im Dezember 2021 hatte er sich gegen NATO-Truppen in Bulgarien ausgesprochen. Kurz nach dem russischen Einmarsch und Yanevs Verweigerung, das Geschehen in der Ukraine als Krieg zu bezeichnen, wurde er von Regierungschef Kiril Petkov gefeuert. Präsident Rumen Radev, der von der Sozialistischen Partei unterstützt wird, die traditionell eine gewisse Nähe zu Russland pflegt, akzeptierte diesen Schritt der Regierung zwar, bezeichnete den Austausch des Verteidigungsministers inmitten einer Krise in der direkten Nachbarschaft allerdings als Risiko, das die Regierungskoalition zu tragen habe. Zum 01. März wurde der Ex-Soldat Yanev durch Dragomir Zakov, einen Diplomaten und bisherigen ständigen Repräsentanten Bulgariens bei der NATO in Brüssel, ersetzt.

Seitdem kamen einige Dinge in Bewegung. Am 18. und 19. März besuchte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin Sofia. Die Gespräche mit Premierminister Petkov und dem neuen Verteidigungsminister Zakov wurden von einer größeren Demonstration vor dem Verteidigungsministerium in Sofia begleitet, auf der Parolen gegen die NATO und die Sanktionen gegen Russland skandiert wurden.

Als Ergebnis der Verhandlungen wurde ein Kompromiss präsentiert: Bulgarien bleibt bei seiner Position, keine Waffen an die Ukraine zu liefern. Damit widersprach der bulgarische Premierminister Berichten, nach denen die bulgarische Armee auf Anfrage der USA Flugabwehrraketensysteme des russischen bzw. sowjetischen Typ S-300 an die Ukraine liefern könnte. Stattdessen verkündeten die beiden Verteidigungsminister, dass auch Bulgarien eine NATO-Battlegroup mit rund 1.000 Soldat*innen aufstellen wird. Laut der US-Botschaft sei die Battlegroup unter bulgarischer Führung und mit Beteiligung einer US-Infanteriekompanie samt Radpanzern (~100-200 Soldat*innen) bereits einsatzbereit. Nach dem folgenden NATO-Gipfel am 24. März meldete Sofia Globe, dass neben Bulgarien, den USA und Großbritannien vermutlich auch Italien Soldat*innen für die künftige Battlegroup entsenden wird.

Damit schert auch die bulgarische Regierung in der neuen Zusammensetzung auf NATO-Kurs ein.

Front gestärkt, Widersprüche geglättet, Verträge versenkt?

Mit der Slowakei, Ungarn und Bulgarien fallen drei NATO-Staaten ins Glied, die zuvor als eher russlandfreundlich galten. Auch ohne jegliche Sympathie für die dortigen Regierungen ist es beeindruckend, mit welcher Härte strategische Ziele anscheinend auch innerhalb der NATO durchgesetzt werden. Die unter Druck zustandegekommene Zustimmung der Gastgeberländer versetzt das Bündnis in die Lage, lang gehegte Pläne der Aufrüstung der Südostflanke umzusetzen. Zudem führt dieser Schritt dazu, dass sich die Slowakei, Ungarn und Bulgarien vermutlich auch langfristig weiter von Russland entfernen werden. Läuft es so, wie bereits seit 2017 im Baltikum, folgt auf die Stationierung der Battlegroups eine Phase der weiteren Integration der nationalen Streitkräfte in die Strukturen der NATO. Dafür müssen insbesondere in der Slowakei und in Bulgarien größere Mengen an alter Militärtechnik aus Sowjetzeiten mit modernem westlichem Gerät nach NATO-Standard ersetz werden. Dadurch würden weitere Verbindungen der jeweiligen Militärs nach Osten gekappt und die transatlantische Bindung ganz handfest gestärkt. Zudem können sich auch deutsche Rüstungskonzerne – allen voran Rheinmetall – in diesem Prozess prächtige Geschäfte erhoffen.

Dass eine Rückkehr zur NATO-Russland-Grundakte von 1997 nach einem zu erhoffenden baldigen Ende des Krieges in der Ukraine durch die neuen Battlegroups deutlich erschwert wird, ist in der öffentlichen Debatte kaum zu hören. Der Vertrag beschränkt allerdings nicht nur die Menge an Truppen in den Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts, sondern schließt auch die Stationierung von Atomwaffen in der Region aus. In der NATO scheint es allerdings bereits Pläne zu geben, den Vertag mit Russland ohnehin spätestens auf dem Gipfel im Sommer in Madrid endgültig über den Haufen zu werfen. Während in Berlin davon ausgegangen wird, dass der Vertrag noch intakt sei, aufgrund der aktuellen Lage aber die Interpretation angepasst wurde, sieht beispielsweise die Regierung in Tallin das Abkommen bereits als gescheitert. Das würde die estnische Forderung nach einer dauerhaften (nicht rotierenden) Stationierung von NATO-Truppen in den östlichen Bündnisstaaten ermöglichen.

Mit der Verkündung seiner Pläne, die NATO-Truppen entlang der Ostflanke auch künftig weiter aufzustocken, bläst NATO-Generalsekretär Stoltenberg, dessen Amtszeit am 24. März außerplanmäßig um ein Jahr verlängert wurde, in ein ähnliches Horn.

In der FAZ wird bereits darüber spekuliert, die NATO könne im Juni in Madrid beschließen in den acht östlichen Bündnisstaaten je eine Brigade (~5.000 Soldat*innen) zu stationieren. Das wäre der endgültige Sargnagel für die NATO-Russland-Grundakte. Nach dem Ende des ABM- und INF-Vertrages zur nuklearen Abrüstung, würde der Westen damit einen weiteren Vertrag mit Komponenten der nuklearen Rüstungskontrolle begraben und damit die längst begonnene Rüstungsspirale weiter befeuern.