IMI-Standpunkt 2022/012

Merkwürdigkeiten der Aufrüstungsdebatte

von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 16. März 2022

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Am 21. Januar 2022 hatte der Inspekteurs der deutschen Marine, Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach, bei einer Veranstaltung einer militärnahen indischen Denkfabrik einen Vortrag gehalten und sich anschließend den Fragen des überschaubaren Publikums gestellt. Auf die deutsche Perspektive zur NATO-Osterweiterung angesprochen, positionierte er sich gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine und stellte die These in den Raum, Putin wolle v.a. Respekt. Diesen solle man ihm erweisen, das koste nichts und könne im eigenen Interesse liegen, denn: „wir brauchen Russland gegen China“. Noch am selben Tag landete ein Video seiner Aussagen auf Twitter, dann ging alles ganz schnell: Das ukrainische Außenministerium bestellte die deutsche Botschafterin ein, die deutsche Verteidigungsministerin beriet sich mit dem Generalinspekteur, dieser bestellte Schönbach zur Unterredung, welcher zwischenzeitlich in mehreren Tweets seine Aussage öffentlich bereut hatte. Bereits am Abend des Folgetages bat er jedoch die Ministerin um seine Entlassung und ist damit – so z.B. der Tagesspiegel – „der peinlichen Situation … aus dem Wege gegangen, von der Ministerin in den Ruhestand versetzt zu werden“.(1) Dass diese Versetzung oder eine Entlassung bevorstand, daran zweifelt bis heute eigentlich niemand. Auf dem militärnahen Blog augengeradeaus.net werden in den Kommentaren gleich mehrere Paragraphen des Soldatengesetzes zitiert, die als Grundlage dienen könnten (darunter §10, §15, §17, §50 …). Ein häufiger Kommentator unter dem Pseudonym „Koffer“ fasst die dort dominante Position so zusammen: „Ein Inspekteur muss in sicherheitspolitschen Fragen die Position der Breg [Bundesregierung] vertreten oder die Klappe halten oder halt die Konsequenzen tragen“.(2)

Ganz anders hingegen verhielt es sich gut zwei Monate später. Am Tag des Beginns der russischen Invasion der Ukraine ging der Inspekteur des Heeres, Alfons Mais, mit einem Kommentar bei LinkedIn hart mit der Bundesregierung ins Gericht: „Wir haben es alle kommen sehen und waren nicht in der Lage mit unseren Argumenten durchzudringen, die Folgerungen aus der Krim-Annexion zu ziehen und umzusetzen… Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da. Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten können sind extrem limitiert.“ Diese Aussagen, insbesondere dass die Bundeswehr „mehr oder weniger blank“ dastehen würde, wurde viel beachtet und oft zitiert – aber nicht wirklich auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft. Das galt auch noch, nachdem bereits zwei Tage später öffentlich angekündigt worden war, dass die Bundeswehr der ukrainischen Armee 1.000 Panzerfäuste und 500 Boden-Luft-Raketen überlassen würde. Man steht blank da und verschenkt zugleich Waffen?

Dann kam der Überraschungscoup des Bundeskanzlers: In einer Regierungserklärung verkündete er ein Sondervermögen von 100 Mrd. Euro zur Aufrüstung der Bundeswehr und eine dauerhafte Erhöhung des Rüstungsetats auf über 2% des BIP. Das würde wohl mehr als 70 Mrd. Euro jährlich bedeuten.

All dies vollzieht sich, während in Deutschland und anderen NATO-Staaten zugleich die Wahrnehmung dominiert, dass der russische Vormarsch in der Ukraine ins Stocken geraten sei und sich deren Streitkräfte erstaunlich gut hielten. Der ukrainische Rüstungshaushalt lag bis 2014 meist unter 2,5 Mrd. Euro und stieg dann rasch auf gut 5 Mrd. Euro. Sicher mag das Geld hier „effizienter“ ausgegeben worden sein und weitere Faktoren eine Rolle spielen. Zugleich muss aber auch einbezogen werden, dass die Ukraine von einem (mit Belarus sogar zwei) direkten Nachbarn angegriffen wurde, der darüber hinaus bereits zuvor Gebiete auf ukrainischem Territorium besetzt hielt und grenzüberschreitende Infrastrukturen nutzen konnte. So oder so zeigt sich in der Ukraine, dass bei einem Angriffskrieg fast immer eine deutliche militärische Überlegenheit notwendig ist, um zumindest Aussichten auf einen Erfolg zu haben.

Vor allem aber ist die Ukraine kein Mitgliedsstaat der NATO. Zwar erhält sie im aktuellen Krieg umfangreiche materielle, militärische und ideelle Unterstützung von der NATO und ihren Verbündeten – diese ist jedoch nicht im Ansatz vergleichbar mit der Unterstützung, die ein NATO-Staat in solch einem Szenario erhalten würde, der sicherlich den Bündnisfall auslösen würde. Schließlich ist ja immer von Bündnisverteidigung die Rede und tatsächlich sind die militärischen Strukturen der NATO-Mitgliedsstaaten gerade für den Fall eines Angriffs – z.B. in der Luftverteidigung – sehr weitgehend integriert.

Falls sich die NATO als Verteidigungsbündnis verstünde, so müsste man davon doch eigentlich Einsparungen bei den Ressourcen erwarten, die aufgebracht werden müssen, um vor einem Angriff abzuschrecken. Bemerkenswerter Weise verhält es sich bei der NATO anders herum. Vermeintlich um die Bündnisverteidigung sicherstellen zu können, soll künftig alleine die Bundesrepublik mehr Geld für Militär und Rüstung ausgeben, als der vermeintlich einzige potentielle Angreifer, Russland, dessen Rüstungshaushalt in den vergangenen zehn Jahren ohne klare Tendenz zwischen 56 Mrd. und 73 Mrd. Euro fluktuierte. Erklären lässt sich dies nur in Teilen durch die Erweiterung des Bündnisses. Natürlich wird – streng im militärischen Narrativ gedacht – der Ressourcenbedarf insgesamt größer, wenn sich die Fläche des zu verteidigenden Gebiets erhöht und dies gilt umso mehr, wenn man Staaten mit geringeren Ressourcen aufnimmt, die auch noch unmittelbar an den potentiellen Feind grenzen. Dass allerdings bereits 2020 die Rüstungsausgaben alleine der EU-Staaten in der NATO insgesamt 198 Mrd. Euro betragen und damit gut das Dreifache Russlands, lässt sich auch damit nicht rechtfertigen. Dazu kommen dann noch einmal 700 Mrd. Euro alleine aus dem US-Rüstungshaushalt. Vor diesem Hintergrund ist die Aussage, man stehe „mehr oder weniger blank da“, im Grunde ebenso absurd, wie deren weitgehend unhinterfragte Rezeption im medialen und politischen Diskurs.

Der unglaubliche Ressourcenbedarf der NATO lässt sich letztlich auch nicht damit erklären, dass sich weder das Bündnis, noch dessen Mitgliedsstaaten tatsächlich auf die Landes- und Bündnisverteidigung beschränken. Beispiele sind der NATO-Angriffskrieg 1999 gegen Rest-Jugoslawien, der desaströse Libyen-Einsatz und das zwei Jahrzehnte währende Desaster in Afghanistan. Jenseits des Bündnisses kommen Interventionen der Mitgliedsstaaten im Irak, verschiedenen afrikanischen Staaten und auch Syrien hinzu. Die Grenzen sind allerdings fließend. Während die Türkei (und andere NATO-Staaten) im syrischen Bürgerkrieg mit dem offenen Ziel eines Regimewechsels aufständische Gruppen unterstützten, verlegte Deutschland auf Grundlage eines NATO-Beschlusses Flugabwehrraketen in die Türkei, um mögliche Vergeltungsangriffe aus Syrien abzuschrecken. Heute hält die Türkei Teile des syrischen Staatsgebietes besetzt.

Selbst wenn man in Deutschland wie behauptet „mehr oder weniger blank“ dastünde, gäbe es also nach zwei Jahren Pandemie und angesichts einer sich entfaltenden Klimakatastrophe auch eine Alternative dazu, einfach neue Schulden ausgerechnet für die Rüstung aufzunehmen. Dies bestünde in einer gründlichen Abkehr der Mitgliedsstaaten vom Interventionskonzept und einer tatsächlichen Fokussierung auf die Landes- und Bündnisverteidigung. Auch mit Machtdemonstrationen wie der Entsendung einer deutschen Fregatten ins Südchinesischen Meer müsste dann Schluss sein.

Erstaunlich auch, dass die Kritik des Inspekteurs des Heeres nicht auf ihn selbst zurückfällt. Seit Alfons Mais sein Amt im Februar 2020 angetreten hat, ist er v.a. mit Forderungen nach einer weiteren Digitalisierung der Truppe und dem Einsatz Künstlicher Intelligenz in Erscheinung getreten. Dabei handelt es sich um enorm kostspielige Projekte, die gerade im Heer seit gut fünf Jahren mit viel Druck vorangetrieben werden und für die bereits immense Geldsummen ausgegeben und bewilligt wurden – und deren praktischer Mehrwert keineswegs sicher ist. Wenn Mais nun die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr generell und des Heeres im Besonderen in Zweifel zieht, weil u.a. Munition und Fahrzeuge fehlten, dann ließe das auch auf eine falsche Prioritätensetzung der Heeresführung in den vergangenen Jahren schließen. Aber Prioritäten, Nachdenken und Vernunft spielen in der augenblicklichen Kriegshysterie und Aufrüstungsbegeisterung ganz offenbar keine Rolle mehr. Wenn die ganz große Koalition mal eben 100 Mrd. Euro für die Rüstung ausgeben kann, dann gibt es eben mehr von allem: Mehr klassische Hardware und mehr sündhaft teure Digitalisierungsprojekte, mehr Landesverteidigung und mehr Kapazitäten für Interventionen. Mit dem Krieg in der Ukraine oder einer Bedrohung durch Russland hat das alles nichts mehr zu tun. Vielleicht schon eher mit einer Ausrichtung der NATO auf den nächsten, großen Rivalen: China. Gegenüber dem Handelsblatt stellte Mais im vergangenen Juli die Frage: „Wollen Sie sich junge Menschen Europas vorstellen, die zum Beispiel gegen chinesische Roboter kämpfen müssen“?(3) Mit den 100 Mrd. Euro und der weiteren Aufrüstung der NATO werden wir diesem Szenario ein bisschen näher kommen.

Quellen:

(1) Marinechef Kay-Achim Schönbach räumt seinen Posten, tagesspiegel.de vom 23.1.2022.

(2) Kommentar von Koffer (23.01.2022 um 21:21 Uhr) auf augengeradeaus.net.

(3) Bundeswehrgeneral fordert: „Auch bei klassischen militärischen Problemen jetzt mit Start-ups zusammenarbeiten“, handelsblatt.com vom 29.7.2021.