IMI-Analyse 2022/02 (Update: 15.2.2022)

NATO-Aggression und Russlands Reaktion

Warum sich Russland betrogen und bedroht fühlt – und warum da einiges dran ist

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 24. Januar 2022

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Ob ein russischer Angriff auf die Ukraine tatsächlich vor der Tür steht, wie es diverse Akteure derzeit glauben machen wollen, lässt sich nur schwer beurteilen, auch wenn vieles darauf hindeutet, dass Moskau nicht die Absicht hat, in Kiew einzumarschieren. Was sich aber sicher sagen lässt ist, dass die jüngste Eskalation von der NATO dazu benutzt wird, um genau die Maßnahmen weiter auszubauen, die Russland ohnehin bereits als eklatante Verletzung seiner Sicherheitsinteressen empfindet. Und was sich ebenfalls sagen lässt ist, dass viele der russischen Vorwürfe, die derzeit so empört als Hirngespinste zurückgewiesen werden, alles andere als aus der Luft gegriffen sind. Man muss deshalb die militärische Drohkulisse, die Moskau an der ukrainischen Grenze und jetzt auch in Belarus errichtet hat, noch lange nicht gutheißen und kann dennoch verstehen, dass die Ursachen für die neuerliche Eskalation bei der NATO liegen.

Betrachtet man die am 17. Dezember 2021 präsentierten Vorschläge zur Entschärfung der Lage so wird deutlich, dass Russland vor allem drei Dinge umtreiben: Erstens die sukzessive Aufrüstung und Eingliederung weiterer osteuropäischer Staaten in die NATO, insbesondere der Ukraine; zweitens die Sorge vor einer Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Osteuropa; und drittens vor allem die dauerhafte, aber auch die temporär im Zuge immer häufigerer Manöver erfolgende Ansammlung massiver NATO-Truppenverbände an seinen Grenzen. Betrachtet man weiter die jüngsten Entwicklungen wird ebenfalls deutlich, dass diese Sorgen nur allzu berechtigt sind und zwar in allen drei Dimensionen. Dennoch treffen die russischen Bedenken aktuell nur bei wenigen westlichen Akteuren auf offene Ohren, mehrheitlich wird für einen harten Kurs plädiert und die Aufrüstung der NATO-Ostflanke weiter vorangetrieben.

Ursünde NATO-Osterweiterung

Seit Jahren ist die NATO eifrig darum bemüht, die Aussage, Russland bzw. der Sowjetunion sei Anfang der 1990er zugesagt worden, es werde zu keiner Erweiterung der westlichen Militärallianz nach Osten kommen, als Falschmeldung zu diskreditieren. Auch die Medien, angefangen von Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung über Thomas Hanke im Handelsblatt bis hin zu Michael Thumann in der Zeit wissen es ganz genau: die russische Sichtweise entbehre jeder vernünftigen Grundlage, so der Tenor.

Über diverse Winkelzüge versucht die NATO dem Problem beizukommen, dass sie mit der schlussendlich 1999 vollzogenen Osterweiterung schlicht wissentlich ihre einstigen Zusagen eklatant verletzt hat. Da wäre einmal die Behauptung, die (nicht nur) von US-Außenminister James Baker gemachte Versicherung, die NATO werde sich nicht nach Osten erweitern, habe sich lediglich auf das Gebiet der ehemaligen DDR bezogen, von anderen Ländern in Osteuropa sei nie die Rede gewesen. Der genaue Wortlaut des Gesprächs lässt eine solche Interpretation aber nur mit viel Phantasie zu, er ließ sich schon vor über zehn Jahren zum Beispiel in der Frankfurter Rundschau nachlesen: „Als US-Außenminister James Baker bei KP-Generalsekretär Michail Gorbatschow am 8. Februar 1990 um dessen Zustimmung für den Verbleib des wiedervereinigten Deutschlands in der Nato warb, versicherte Baker, es werde ‚keine Ausweitung der gegenwärtigen Nato-Jurisdiktion nach Osten geben‘. Gorbatschow setzte nach: ‚Jede Erweiterung der Zone der Nato ist unakzeptabel.‘ Bakers Antwort: ‚Ich stimme zu’“.

Tatsächlich war es völlig klar, dass die gegenüber der Sowjetunion gemachten Zusagen sich auf jede Form einer NATO-Osterweiterung bezogen, wie unter anderem der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher seinem sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse in einem Gespräch am 10. Februar 1990 klipp und klar versichert hatte. Aus der zugehörigen Aktennotiz zitierte unter anderem Spiegel Online: „‘BM (Bundesminister): Uns sei bewusst, dass die Zugehörigkeit eines vereinten Deutschlands zur Nato komplizierte Fragen aufwerfe. Für uns stehe aber fest: Die Nato werde sich nicht nach Osten ausdehnen.‘ Und da es in dem Gespräch vor allem um die DDR ging, fügte Genscher ausdrücklich hinzu: ‚Was im Übrigen die Nichtausdehnung der Nato anbetreffe, so gelte dieses ganz generell.‘“

Als weiteres Argument führt die NATO ins Feld, es habe nie eine formale Zusage der NATO existiert, insofern habe man sich mit den Erweiterungsrunden auch nichts zuschulden kommen lassen. Das ist zwar keine glatte Lüge, aber dennoch keineswegs wahr. Schließlich haben VertreterInnen nahezu aller großen NATO-Staaten Russland die besagte Garantie gegeben, wie sich in 2017 freigegebenen Dokumenten nachlesen lässt. Zu ihnen gehörten u.a. George Bush, Hans-Dietrich Genscher, Helmut Kohl, Robert Gates, Francois Mitterrand, Margaret Thatcher, John Major, Manfred Wörner und andere. Insofern war es zwar eine geopolitische Dummheit allersten Ranges, sich diese Zusagen nicht in rechtlich bindender Form geben zu lassen, dass sie aber gemacht wurden und hätten eingehalten werden müssen, entspricht ebenso den Tatsachen. Augenscheinlich ging auch der sowjetische Generalsekretär Michael Gorbatschow von der Gültigkeit der westlichen Garantien aus: „Die Entscheidung der USA und ihrer Verbündeten, die NATO nach Osten auszudehnen, wurde 1993 letztlich gefällt. Ich habe das damals von Anfang an als großen Fehler bezeichnet. Es war definitiv eine Verletzung des Geistes der Statements und Versicherungen, die uns gegenüber 1990 gemacht wurden.“

Als letzter Pfeil im NATO-Köcher fungiert dann noch die Behauptung, die turbulente Zeit im Februar 1990 sei von vielen Missverständnissen geprägt gewesen, etwaige damals getätigte Aussagen ließen sich heute nicht mehr auf die Goldwaage legen. Allerdings zeigen 2018 freigegebene und beim „National Security Archive“ veröffentlichte Dokumente, dass auch mit Gorbatschows Nachfolger Boris Jelzin in Sachen NATO-Osterweiterung ein falsches Spiel getrieben wurde. Der Journalist Andreas Zumach schreibt dazu: „Aus den Dokumenten wird deutlich, wie Jelzin und seine Regierung von den damaligen US-Administrationen von George Bush und Bill Clinton im Unklaren gelassen oder gar vorsätzlich in die Irre geführt wurde über die damaligen Absichten mit Blick auf eine Erweiterung der NATO.“

Es ist also völlig nachvollziehbar, dass sich Russland hier betrogen fühlt, was sicherlich weit weniger problematisch wäre, würde es die NATO-Politik insbesondere in der letzten Zeit nicht als überaus bedrohlich empfinden.

Ostexpansion und Aufrüstung der Ukraine

Der Fortgang der NATO-Expansionsgeschichte dürfte weitgehend bekannt sein: 1999 erfolgte die Aufnahme von Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn und 2004 kam es zur zweiten NATO-Erweiterungsrunde um weitere sieben Länder. Darunter befanden sich mit den drei baltischen Ländern auch ehemalige Sowjetstaaten, was von Russland immer als rote Linie bezeichnet wurde. Im April 2008 beging die NATO dann die Dummheit, der Ukraine und Georgien eine Beitrittsperspektive zu eröffnen. Es folgte im August der Georgien-Krieg, in dem Russland eine von Georgien initiierte Offensive gegen die abtrünnige Provinz Süd-Ossetien mit harten militärischen Mitteln zurückschlug.

Vor allem aber die geopolitische Bedeutung der Ukraine als einer der Schlüsselstaaten in der Region steht außer Frage – und ebenso die Reichweite einer Entscheidung, ob sich das Land dem westlichen Block oder Russland zuwendet oder ob es einen neutralen Status bewahrt (siehe IMI-Studie 2015/6). Genau diese Frage war Auslöser der Eskalation im Jahr 2014, die ihren Anfang darin nahm, dass der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch sich entschied, die Unterzeichnung eines Assoziationsabkommens mit der EU auf Eis zu legen, mit dem sein Land nahezu irreversibel in den westlichen Block integriert worden wäre. Die unmittelbar darauf mit massiver westlicher Unterstützung (und unter Ignorierung der regen Beteiligung faschistischer Kräfte) einsetzenden Maidan-Proteste führten dann zur unter Gewaltandrohung erfolgten Flucht des gewählten Präsidenten Janukowitsch. Obwohl das erforderliche Quorum für eine Absetzung Janukowitschs im ukrainischen Parlament nicht erreicht wurde, wurde eine – nach russischer durchaus nachvollziehbarer Lesart damit illegale – pro-westliche Übergangsregierung eingesetzt. Umgehend kündigten die neuen Machthaber in Kiew an, schnellstmöglich die NATO-Mitgliedschaft anzustreben und den – eigentlich unkündbaren – Pachtvertrag für die russische Schwarzmeerflotte auf der Krim aufzukündigen.

Dies alles ging der russischen Reaktion voraus, die vor allem in der Aufnahme der Krim und der Unterstützung separatistischer Kräfte in der Ostukraine bestand, was zu einem Bürgerkrieg führte, der mit dem Minsker Waffenstillstandsabkommen vom 12. Februar 2015 endete, das von der Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland unterzeichnet wurde und den Status quo erst einmal einfror. Bis heute liefert das Minsker Abkommen die Grundlage für den extrem brüchigen Waffenstillstand. In diesem Zusammenhang ist es entscheidend, dass zwar ausführlich über den erstmals im April 2021 begonnenen russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze berichtet wurde, in den Medien aber kaum davon zu lesen war, dass dem ein folgenschweres Dekret vorangegangen war. Einzig der Berliner Zeitung war etwas über den Vorgang zu entnehmen: „Seit Mitte Februar gibt es wieder verstärkt Kämpfe zwischen pro-russischen Einheiten und der Regierungsarmee in der Ostukraine. Für besondere Aufmerksamkeit sorgt das Dekret Nr. 117 vom 24. März 2021, mit dem Selenskyj die Entscheidung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine vom 11. März 2021 (‚Zur Strategie der Entbesetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol‘) umsetzen will. In dem Dekret wird die Vorbereitung von Maßnahmen angekündigt, um ‚die vorübergehende Besetzung‘ der Krim und des Donbass zu beenden. Laut der staatlichen ukrainischen Nachrichtenagentur Ukrinform erhielt die Regierung den Auftrag, einen entsprechenden ‚Aktionsplan‘ zu entwickeln.“

Ohne es mit letzter Sicherheit wissen zu können macht es vor diesem Hintergrund einigen Sinn, den russischen Truppenaufmarsch als eine klare Drohung in Richtung der ukrainischen Regierung zu interpretieren, dass ein versuchter Angriff auf die von separatistischen Kräften gehaltenen Gebiete (oder gar die Krim) von Russland mit aller Härte beantwortet werden würde. Auch das muss man nicht schön finden, es ist aber etwas gänzlich anderes als die derzeit omnipräsente Behauptung, Russland plane einfach so in die Ukraine einzumarschieren. Ganz ähnlich sah dies wohl auch Marineinspekteur Kay-Achim Schönbach – auch wenn es ihm vor allem um die Sorge ging, Russland nicht zu weit in die Arme Chinas zu treiben. Der Militär sorgte mit folgenden, u.a bei tagesschau.de zitierten Äußerungen Ende Januar 2022 für Furore, für die er kurz darauf seinen Hut nehmen musste: „‘Die Halbinsel Krim ist weg, sie wird nicht zurückkommen.‘ Den von westlichen Staaten befürchteten Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine bezeichnete er als ‚Nonsens‘. Was Russlands Präsident Wladimir Putin wirklich wolle, sei ‚Respekt auf Augenhöhe‘, sagte der Vizeadmiral. ‚Es ist leicht, ihm den Respekt zu geben, den er will – und den er wahrscheinlich auch verdient.‘“

Auf der anderen Seite des Atlantiks forderte zum Beispiel Samuel Charap von der dem US-Militär nahestehenden RAND Corporation bereits im November 2021 eine Kursänderung in der Ukrainepolitik: „Verschiedene US-Regierungen haben erpresserische Instrumente ausprobiert […]. Gleichzeitig hat Washington Kiew wirtschaftlich, politisch und militärisch unterstützt […]. Die Gefahr eines großen Krieges scheint groß genug, um eine neue US-Herangehensweise zu rechtfertigen. […] Wo die USA einen entscheidenden Einfluss haben, ist auf die Ukraine – und dieser Einfluss wird im Großen und Ganzen nicht genutzt. Anstatt sich ausschließlich auf die Erpressung Russlands zu fokussieren, sollte die Biden-Regierung auch Kiew drängen Schritte in Richtung einer Implementierung des Minsker-Abkommens zu unternehmen, wozu die Ukraine bislang wenig Bereitschaft an den Tag gelegt hat.“

Aktuell handelt es sich bei derlei Stimmen aber noch um einsame Rufer und auch hier ist es verständlich, dass die weitere Aufrüstung der ukrainischen Armee in Russland nicht gerade Begeisterungsstürme auslöst. Bereits ein kurzer Überblick bei German-Foreign-Policy.com zeigt, wieviel in dieser Hinsicht bereits unternommen wurde: „So haben die USA inzwischen Militärhilfe im Wert von mehr als 2,5 Milliarden US-Dollar geleistet, darunter die Lieferung Hunderter Panzerabwehrraketen des Typs Javelin. Polen und Tschechien haben Dutzende gebrauchte Schützenpanzer beschafft; die Türkei liefert Kiew ihre berüchtigten Drohnen des Typs Bayraktar TB2. Großbritannien wiederum hat begonnen, die Aufrüstung der ukrainischen Seestreitkräfte zu unterstützen; unter anderem will es die Ukraine beim Erwerb neuer Kriegsschiffe und beim Bau einer neuen Marinebasis unterstützen.“

Die neuerliche Eskalation diente der ukrainischen Regierung dazu, ihre Forderungen nach noch mehr Waffenlieferungen noch einmal deutlich lauter als bislang zu artikulieren. Großbritannien hat bereits mit der Lieferung von Panzerabwehrwaffen begonnen und am 20. Januar 2022 gab Washington den baltischen Ländern die Zustimmung, US-Waffen an die Ukraine weitergeben zu können. Auch die direkte Lieferung von weiteren US-Waffen im Wert von noch einmal 200 Millionen Dollar soll am selben Tag genehmigt worden sein. Laut FAZ lieferte Frankreich zwischen 2014 und 2020 Rüstungsgüter im Wert von 1,631 Mrd. Euro, im Falle Polens waren es 657,5 Millionen Euro.

Direkt wird auch Deutschland zu Waffenlieferungen aufgefordert, was hierzulande vor allem aus der CDU unterstützt wird, aber auch Teile der FDP können dem etwas abgewinnen: „Wir sollten über die Lieferung von Defensivwaffen an die Ukraine nachdenken“, äußerte sich etwa die FDP-Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Abseits der eher vernachlässigbaren Lieferung von 5.000 Schutzhelmen beharrt Kanzler Olaf Scholz aber bislang noch auf der ablehnenden Haltung der Bundesregierung: „Die deutsche Bundesregierung verfolgt seit vielen Jahren eine gleichgerichtete Strategie in dieser Frage. Und dazu gehört auch, dass wir keine letalen Waffen exportieren.“ Dennoch beharrt die Ukraine auf dieser Forderung und präzisierte laut Tagesspiegel auch, was es denn genau an „defensiven“ Waffen von Deutschland hätte: „‘Es geht in erster Linie um deutsche Kriegsschiffe, die zu den besten der Welt gehören, die wir für die robuste Verteidigung der langen Küste im Schwarzen und Asowschen Meer dringend brauchen‘, sagte Botschafter Andrij Melnyk der Deutschen Presse-Agentur.“

Doch nicht nur was Kriegsschiffe anbelangt ist klar, dass es so etwas wie defensive Waffen eigentlich überhaupt nicht gibt. Bereits letztes Jahr hatte Grünen-Chef Robert Habeck die Lieferung von „defensiven“ Waffen in die Ukraine gefordert. Im Zuge der damaligen Debatte stellte zum Beispiel Carlo Masala, Professor an der Bundeswehr-Universität in München, klar: „Die Unterscheidung zwischen Defensiv- und Offensivwaffen stammt aus früheren Jahrhunderten, wo sie noch Sinn ergeben hat. Mittlerweile lässt sich nahezu jede Waffe defensiv oder offensiv nutzen, das hängt immer von der Art und Weise der Operationsführung ab. […] Die Gefahr ist eben, dass diese Waffen doch für offensive Operationen eingesetzt werden […], was dann sicherlich eine massivere russische Antwort bedeuten würde […] Der Krieg in der Ostukraine würde also nochmals eskalieren. Diese Gefahr ist durchaus existent.“ Auch in der aktuellen Debatte äußerte sich Masala ähnlich: „Es sind Waffen. Diese Defensiv/Offensiv Debatte dient nur der Beruhigung der deutschen pazifistischen Gemüter. Es sei denn wir reden über Helme und Nachtsichtgeräte. Die machen aber wenig Unterschied.“

Raketenstationierungen: Neue (Nach)rüstung

Nimmt man die russischen Äußerungen zur Abwechslung einmal ernst, so fällt auf, wie scharf darin vor der Stationierung von Kurz- oder Mittelstreckenraketen in der Ukraine oder einem anderen osteuropäischen Land gewarnt wird: „Sollten Raketensysteme in der Ukraine auftauchen, wird deren Flugzeit bis Moskau 10 Minuten betragen, fünf im Falle von Hyperschallwaffen“, äußerte sich der russische Präsident Wladimir Putin bereits am 30. November 2021.

Wir erinnern uns: 2019 stiegen die USA mit lautem Getöse aus dem INF-Vertrag aus, der eine Stationierung landgestützter Kurz- und Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500km und 5.500km bis zu diesem Zeitpunkt verbot. Als Begründung wurde angegeben, Russland habe den Vertrag bereits verletzt. Moskau bestritt die Vorwürfe und gab an, die infrage stehenden Marschflugkörper 9M729 (NATO-Codename SSC-8) hätten eine Reichweite unter 500km. Gleichzeitig bot es Vor-Ort-Inspektionen an, mit denen diese Frage hätte geklärt werden können. Stattdessen beharrten die USA und ihre Verbündeten aber auf ihren Anschuldigungen, kündigten den Vertrag auf und schlugen auch ein – bis heute – immer wieder von Russland angebotenes Moratorium für die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen barsch aus (siehe IMI-Analyse 2019/25).

Schon 2019 wurden Forderungen nach einer erneuten Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa laut und aktuell sieht alles danach aus, als würden die USA dies auch bald umsetzen – es liegt deshalb nahe, die Aufkündigung des INF-Vertrages als Resultat dieser Ambitionen und nicht als Ergebnis bis heute nicht sattelfest bewiesener russischer Vertragsverletzungen zu begreifen. Ein deutliches Zeichen für diese Bestrebungen war die am 8. November 2021 erfolgte Re-Aktivierung des 56. Artilleriekommandos mit Sitz im Wiesbadener Stadtteil Mainz-Kastel. Der Schritt hat einigen Symbolwert, schließlich war das Kommando bis zu seiner vorläufigen Auflösung 1993 für die Pershing-Raketen zuständig, die im Zuge der „Nachrüstung“ (oder treffender: „Aufrüstung“) in den 1980er Jahren stationiert wurden. Die heutige Aufgabe des Kommandos besteht darin, im Kriegsfall Raketeneinsätze der US-Streitkräfte und ihrer NATO-Verbündeten zu koordinieren. Das legt natürlich nahe, dass die US-Armee auch über die entsprechenden Waffen verfügen will, weshalb der Schritt nur in Verbindung mit der nahezu gleichzeitigen Aktivierung der ebenfalls in Wiesbaden ansässigen „Multi-Domain Task Force“ (MDTF) Sinn macht. Denn geplant ist es diesen Einheiten, die explizit mit dem Anspruch konzipiert wurden, in Großmachtkonflikten mit Russland oder China die Oberhand erlangen zu können, drei Kurz- und Mittelstreckensysteme, die aktuell noch in der Entwicklung befinden, zuzuordnen (siehe dazu ausführlich IMI-Analyse 2021/46).

Die US-Armee hat mehrfach versichert, es sei keine Stationierung konventioneller (aber atomar bestückbarer) Raketen in Deutschland geplant, zuletzt bestätigte dies auch das Verteidigungsministerium auf Anfrage der Stadt Wiesbaden, wie diese in einer Pressemitteilung am 27. Januar 2022 mitteilte. Das macht aber die Annahme umso plausibler, dass eine Dislozierung dieser Raketensysteme weiter im Osten möglichst nahe an den russischen Grenzen ins Auge gefasst wird. Es ist deshalb nachvollziehbar, wenn Russland über diese Entwicklung beunruhigt ist, zumal es sich bei einem der in Entwicklung befindlichen US-Systeme („Dark Eagle“) um eine Hyperschallrakete handelt, die in extrem kurzer Zeit und damit fast ohne die Möglichkeit von Abwehrmaßnahmen Ziele in Russland treffen könnte. Aus diesem Grund kritisierte der russische stellvertretende Außenminister Sergei Ryabkow am 13. Dezember 2021, er sehe in der Re-Aktivierung des 56. Artillerieregimentes ein „indirektes Zeichen“ dafür, dass die NATO plane, neue Mittelstreckenraketen zu stationieren, was er als eine ernste Bedrohung wertete.

Russische Vorschläge zur Deeskalation

Russland wiederum reagiert auf alle diese Entwicklungen auf der einen Seite indem es in Form des stellvertretenden Außenministers Sergej Rjabkow betont, man habe „keine Intentionen, die Ukraine anzugreifen“, was außerhalb einer ukrainischen Offensive wohl auch zutreffen dürfte. Auf der anderen Seite warnt Russland aber auch scharf, es werde nicht ohne Folgen bleiben, sollten seine Sicherheitsbedenken vom Westen nicht adressiert werden. Eine wichtige Rolle spielen dabei augenscheinlich auch die an Zahl immer weiter zunehmenden westlichen Manöver – allein Für 2021 waren ursprünglich über 300 Übungen (95 der NATO und 220 der Einzelstaaten) vorgesehen, pandemiebedingt mussten allerdings einige davon abgesagt werden. Immer wieder kommt es dabei zu gefährlichen Beinahe-Zusammenstößen zwischen russischen und westlichen Einheiten. Dennoch nehmen die Manöver nicht nur an Zahl, sondern auch an Umfang zu: „Cold Response 2022“ zum Beispiel soll im März und April mit knapp 40.000 SoldatInnen in Norwegen abgehalten werden.  Kurz darauf geht es unter anderem mit dem Manöver „Defender Europe 2022“ weiter, über das German-Foreign-Policy.com schreibt: „Laut Angaben der NATO wird Defender Europe 22 am 8. Mai beginnen und am 16. Juni zu Ende gehen. Schwerpunktländer sind demnach, wie schon 2020, Polen und die baltischen Staaten. Das Pentagon kündigt die Teilnahme von 33.000 Soldaten aus 26 Staaten an […]. Kern ist wie in den Vorjahren die schnelle Verlegung von US-Truppen über den Atlantik und ihr weiterer Vormarsch in Richtung russische Grenze; dabei sollen die beteiligten Truppen auch zeigen, dass sie in der Lage sind, schnell zu Kampfhandlungen überzugehen.“

Die gesammelten Bedenken wurden in Form russischer Vorschläge bzw. Forderungen Mitte Dezember 2021 formuliert und u.a. in einer Erklärung des russischen Außenministeriums zusammengefasst. Darin ist zu lesen: „Es wurde der Weg gewählt, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, was mit der Stationierung von Raketen mit minimaler Flugzeit nach Zentralrussland und anderen destabilisierenden Waffen verbunden ist. […] Anstatt ihre ukrainischen Schützlinge zu zügeln, treiben die NATO-Staaten Kiew zu aggressiven Schritten an. Die zunehmende Zahl ungeplanter Übungen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten im Schwarzen Meer kann nicht anders interpretiert werden. Die Flugzeuge der NATO-Mitglieder, darunter auch strategische Bomber, führen regelmäßig provokative Flüge und gefährliche Manöver in unmittelbarer Nähe der russischen Grenzen durch. […] In diesem Zusammenhang bestehen wir, wie Präsident Wladimir Putin betonte, darauf, dass ernsthafte langfristige rechtliche Garantien gegeben werden, die ein weiteres Vordringen der NATO nach Osten und die Stationierung von Waffen an den westlichen Grenzen Russlands, die eine Bedrohung für Russland darstellen, ausschließen würden. […] Wir fordern Washington auf, sich dem einseitigen Moratorium Russlands für die Stationierung von Boden-Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa anzuschließen“.

Gleichzeitig schlug Russland einen Sicherheitsvertrag vor, mit dem diese Sicherheitsbedenken rechtlich bindend adressiert würden. In der erst am 26 Januar sowohl von den USA als auch der NATO überreichten schriftlichen Antwort auf die Initiative wurde den russischen Forderungen wie zu erwarten war, eine Absage erteilt, allerdings gleichzeitig Gesprächsbereitschaft signalisiert. Etwas ergiebiger war da das Treffen im „Normandie-Format“, das nach längerer Sendepause am 26. Januar 2022 stattfand. Positiv ist allein schon, dass sich die VertreterInnen Russlands, der Ukraine, Deutschlands und Frankreichs dort nach achtstündigen Verhandlungen auf eine gemeinsame Erklärung einigen konnten, die – sofern es sich nicht nur um Lippenbekenntnisse handelt – durchaus einen Beitrag zu Deeskalation leisten kann: „Die Berater der Staats- und Regierungschefs des Normandie-Formats […] bekräftigen, dass die Minsker Vereinbarungen die Grundlage für die Arbeit des Normandie-Formats bilden, und bleiben engagiert, um die derzeitigen Meinungsverschiedenheiten in der künftigen Arbeit abzuschwächen. Sie unterstützen die bedingungslose Einhaltung des Waffenstillstands und die volle Unterstützung der Maßnahmen zur Stärkung der Stärkung des Waffenstillstands vom 22. Juli 2020, ungeachtet der Differenzen in anderen Fragen.“

Außerdem erklärten die vier Länder dort die Bereitschaft, weiter zu verhandeln und in zwei Wochen erneut zusammenzukommen, allerdings verliefen die anschließenden Gespräche am 10. Februar 2022 ergebnislos und mussten vertagt werden. Parallel dazu schreitet die Aufrüstung der NATO-Ostflanke rasant voran, was etwaigen diplomatischen Bemühungen auch nicht unbedingt dienlich sein dürfte.  

NATO: Aufmarsch an der (Süd)Ostflanke

Einige wenige bisherige VerfechterInnen eines harten NATO-Kurses gegenüber Russland sind wohl inzwischen selber erschreckt über die Brisanz, die die Lage mittlerweile angenommen hat. So initiierten 27 teils recht prominente SicherheitsexpertInnen, von denen eine ganze Reihe nicht im Verdacht steht, besonders russlandfreundlich zu sein, Anfang Dezember 2021 den Aufruf „Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland“: „Ziel muss es sein, Russland und auch die NATO wieder aus einem konfrontativen Kurs herauszuführen. […] Die NATO sollte aktiv auf Russland zugehen und auf eine Deeskalation der Situation hinwirken.“

Mehrheitlich stieß dieser Deeskalationsversuch aber leider auf taube Ohren. Im Gegenteil, wie bereits angedeutet, wird derzeit eifrig über nochmalige Truppenstationierungen diskutiert. Und das, obwohl bereits die 2014 beschlossene „Enhanced Forward Presence“, die Stationierung von vier NATO-Bataillonen à etwa 1.000 bis 1.500 SoldatInnen in den drei baltischen Staaten und Polen, einen Bruch der NATO-Russland-Akte aus dem Jahr 1997 darstellte (zusätzlich haben die USA bilateral bislang noch mindestens 4.500 SoldatInnen Polen stationiert). Diese völkerrechtliche Absichtserklärung wurde damals vereinbart, um russische Bedenken gegenüber der sich anbahnenden ersten NATO-Osterweiterung abzumildern, wozu insbesondere folgende Stelle dienen sollte: „Die NATO wiederholt, dass das Bündnis in dem gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld seine kollektive Verteidigung und andere Aufgaben eher dadurch wahrnimmt, dass es die erforderliche Interoperabilität, Integration und Fähigkeit zur Verstärkung gewährleistet, als dass es zusätzlich substantielle Kampftruppen dauerhaft stationiert.“

Im Prinzip war die NATO-Russland-Akte mit den NATO-Bataillonen in Osteuropa bereits 2014 hinfällig, nun wird aber intensiv darüber diskutiert, diese Präsenz noch einmal auszubauen, wie Ende letzten Jahres gemeldet wurde: „Nach SPIEGEL-Informationen schlug US-General Tod D. Wolters, der Supreme Allied Commander für Europa (kurz: Saceur), kürzlich in einer geheimen Videoschalte mit den Militärchefs der Partnernationen vor, ähnlich wie im Baltikum und Polen auch in Rumänen und Bulgarien die Nato-Präsenz über die Mission ‚Enhanced Forward Presence‘ (EFP) zu erweitern. Der Vorschlag des Generals ist recht konkret. Demnach solle die Nato wie im Baltikum auch in Bulgarien und Rumänien eigene EFP-Kontingente von gut 1500 Personen aufbauen.“

Bereits entschieden wurde die Vergrößerung des deutschen EFP-Kontingentes in Litauen, das um 350 SoldatInnen aufgestockt wird, wie Verteidigungsministerin Christine Lambrecht am 7. Februar 2022 verkündete. Schon am 21. Januar 2022 war gemeldet worden, auch in der britischen Regierung existierten bereits fortgeschrittene Überlegungen in eine solche Richtung: „Die britische Regierung erwägt offenbar, Hunderte weitere Soldaten in die baltischen Staaten und nach Polen zu entsenden. Damit solle die Abschreckung gegenüber Russland erhöht werden, berichtete die ‚Times‘ unter Berufung auf eine Quelle im Verteidigungsministerium in London.“ Wenig später hieß es dann, das 900 SoldatInnen starke britische Kontingent in Estland solle verdoppelt werden (unklar ist, ob dies auch für die mehr als 100 SoldatInnen in der Ukraine und die 150 in Polen gilt).

Die USA wiederum kündigten ebenfalls schon frühzeitig weitere Truppenverlegungen nach an. Zunächst war Anfang Februar 2022 von 2.000 SoldatInnen die Rede, die zusätzlich nach Polen verlegt werden sollten, kurze Zeit später wurde dann bereits über 5.000 zusätzliche Truppen berichtet. Allein in Polen befinden sich damit knapp 10.000 US-SoldatInnen. Auch darüber hinaus wurde schon am 24. Januar 2022 darüber informiert, zahlreiche EU-Staaten hätten Truppenverlegungen angeboten: „Demnach hat eine Reihe von Mitgliedern der aus 30 Ländern bestehenden Organisation Truppen und Ausrüstung angeboten. Dänemark schickt eine Fregatte in die Ostsee und stationiert F-16-Kampfflugzeuge nach Litauen. Spanien entsendet Schiffe, um sich den ständigen Seestreitkräften der NATO anzuschließen und erwägt die Entsendung von Kampfflugzeugen nach Bulgarien. Frankreich sei bereit, Truppen nach Bulgarien zu schicken, teilte die NATO mit.“

Die NATO und Russland sind endgültig an einem Punkt angelangt, an dem es so nicht mehr weitergehen kann, das gegenseitige hochschaukeln ist brandgefährlich und muss endlich ein Ende haben. Eine wichtige Voraussetzung hierfür wäre aber ein Eingeständnis der NATO-Staaten, dass sie die Hauptschuld an der brisanten Lage tragen oder dass sie wenigstens einsehen, dass es nachvollziehbare Gründe gibt, weshalb sich Russland bedroht fühlt. Der bereits zitierte Journalist Andreas Zumach schreibt dazu richtigerweise: „[D]ie westlichen Staaten [machen sich] sehr unglaubwürdig, wenn sie zwar Russlands Bestrebungen zur Ausweitung seiner Einflusssphären kritisieren, aber die mit der NATO-Osterweiterung vollzogene Ausweitung ihrer eigenen Einflusssphären unterschlagen oder schönreden […]. Nur wenn die westlichen Staaten diese Haltung aufgeben, ihre Mitverantwortung für die Verschlechterung der Beziehungen zu Russland anerkennen und daraus auch praktische politische Konsequenzen für die künftige Gestaltung dieser Beziehungen ziehen, besteht eine Chance, für deren dauerhafte Verbesserung und damit für Stabilität und Kooperation auf dem gemeinsamen eurasischen Kontinent.“

Bei diesem Text handelt es sich um eine erweiterte und aktualisierte Variante eines Artikels, der zuerst unter demselben Titel bei Telepolis erschien.