IMI-Analyse 2021/46 (Update: 16.12.21)

Die neue Nachrüstung

Für das reaktivierte 56. Artilleriekommando in Mainz-Kastel sollen wohl Hyperschall- und andere Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa stationiert werden

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 16. Dezember 2021

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Vor etwa vier Jahrzehnten lösten die von der deutschen Regierung unterstützten US-Pläne zur „Nachrüstung“ (oder treffender: „Aufrüstung“) atomarer Pershing-II-Mittelstreckenraketen Massenproteste aus. Dies konnte die Stationierung dieser Waffen aber leider nicht verhindern, sodass das 56. Artilleriekommando, damals noch mit Hauptsitz in Schwäbisch Gmünd, die Befehlsgewalt über die Pershing-Flotte in Europa übernahm. Die Proteste waren aber sicher zumindest dahingehend erfolgreich, dass sie zum Abschluss des INF-Vertrages im Dezember 1987 beitrugen, in dem sich die USA und die Sowjetunion auf ein Verbot nuklear bestückbarer landgestützter Kurz- und Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500km und 5.500km verständigten. Nachdem dadurch auch das 56. Artilleriekommando seines Zwecks beraubt worden war, wurde es schlussendlich im Jahr 1991 außer Dienst gestellt. 

Die Hoffnung, damit sei diese gefährliche Waffengattung ein für alle Mal vom europäischen Kontinent verbannt, hielt bis zum Jahr 2019. Mit Verweis auf die – zumindest reichlich fragwürdige – Anschuldigung, Russland habe sich zuerst einer Vertragsverletzung schuldig gemacht, kündigte die US-Regierung von Donald Trump den INF-Vertrag einseitig auf und machte damit den Weg für eine Renaissance dieser Waffengattung frei. Auch der seit diesem Jahr amtierende neue US-Präsident Joseph Biden macht keinerlei Anstalten, den Vertrag reaktivieren zu wollen – im Gegenteil. So hält er augenscheinlich an den Plänen im Rahmen der „Pazifischen Abschreckungsinitiative“ fest, konventionelle (aber nuklear bestückbare) Mittelstreckenraketen in Ostasien stationieren zu wollen.

Und auch auf dem europäischen Schauplatz sieht es keinen Deut besser aus: Auch hier bahnt sich eine Stationierung konventioneller Kurz- und Mittelstreckenraketen mit Siebenmeilenstiefel an, die eine wichtige Rolle in dem neuen operativen Einsatzkonzept der „Multi Domain Operations“ (MDOs) spielen. Über die daraus abgeleiteten „Multi Domain Task Forces“ (MDTFs) will die US-Armee die Dominanz gegenüber Russland und China wiedererlangen, die für Europa vorgesehene Einsatzgruppe mit Sitz in Wiesbaden wurde am 16. September 2021 aktiviert. Für die für notwendig erachtete Feuerunterstützung sollen künftig wohl neue Hyperschall- sowie weitere Kurz- und Mittelstreckenraketen sorgen, die erneut dem 56. Artilleriekommando unterstellt sein werden, das am 8. November 2021 mit Sitz in Mainz-Kastel reaktiviert wurde. Auch wenn eine Reihe von Details noch unklar sind, scheinen damit die Weichen für eine zweite Nachrüstung in Form einer Stationierung konventioneller, aber atomar bestückbarer Raketen gestellt zu sein.

Großmachtkonkurrenz und Mehrebenen-Einsätze

Spätestens mit der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ vom Dezember 2017 wurden die Auseinandersetzungen mit Russland und China auch in einem offiziellen Regierungsdokument zur wichtigsten Aufgabe der US-Politik auserkoren. Darauf folgte im Januar 2018 die „Nationale Verteidigungsstrategie“, in der es hieß: „Der langfristige strategische Konkurrenzkampf mit China und Russland ist die wichtigste Priorität für das Verteidigungsministerium.“ Explizit wird in der Verteidigungsstrategie auf die Bedeutung eines auf allen Ebenen vernetzten Vorgehens abgehoben – auch mittels Raketen: „Der Schutz von US-Interessen gegen China und Russland wird zusätzliche Investitionen erfordern, in die U-Boot-Flotte; in Fähigkeiten zur Informationsgewinnung, Überwachung und Aufklärung; Luftverteidigung; Plattformen für Langstreckenangriffe [long-range strike platforms]; und landgestützte Langstreckenfeuerkraft [long-range ground-based fires].“

Direkt aus der Nationalen Verteidigungsstrategie abgeleitet wurde dann im Dezember 2018 ein neues Einsatzkonzept mit dem Dokument „The U.S. Army in Multi-Domain. Operations 2028“ eingeführt. Es ist explizit als Antwort auf die sich verschärfenden Großmachtkonflikte gedacht und soll den USA die für verloren erklärte militärische Dominanz über seine erklärten Gegner wiederverschaffen. Der Wissenschaftliche Dienst des US-Kongresses schrieb dazu: „Im Dezember 2018 führte die Armee ihr operatives Konzept der Mehrebenen-Operationen (MDOs) ein. Laut der Armee wurden MDOs als Antwort auf die Nationale Verteidigungsstrategie aus dem Jahr 2018 entwickelt, die den bisherigen sicherheitspolitischen Fokus  der USA von der weltweiten Bekämpfung gewalttätiger Extremisten hin zur Konfrontation mit revisionistischen Mächten verschob – vor allem mit Russland und China.“

Auch wenn insgesamt viel Aufhebens um die MDOs gemacht wird, im Prinzip läuft das Konzept recht simpel darauf hinaus, dass eine optimale Schlagkraft dann entfaltet werden kann, wenn teilstreitkräfteübergreifend alle Fähigkeiten – Land, Luft, Maritim, Cyber und Weltraum – vernetzt und mit hohem Tempo zum Einsatz gebracht werden können.

Dementsprechend sollen auch vernetzte Einheiten – Multi-Domain Task Forces – aufgestellt werden, die jeweils einem der US-Regionalkommandos zugeordnet und im Detail auf den dortigen „Bedarf“ zugeschnitten werden sollen. Bei Soldat und Technik heißt es dazu: „Jede MDTF wird so konzipiert und zugeschnitten, dass sie auf der erforderlichen Ebene operieren kann, um die Anforderungen des Befehlshabers der unterstützten Streitkräfte zu erfüllen. Jede MDTF wird von Anfang an einem Kommandobereich zugewiesen oder zugeordnet und dann im Rahmen der Vorgaben des Kommandobereichs aufgebaut, ausgebildet und beübt.“

Ein erster MDTF-Testverband wurde bereits vor einiger Zeit aufgestellt, insgesamt soll es fünf geben: zwei für den Indo-Pazifik, einen für die Arktis, einen für globale Interventionseinsätze und einen für Europa.

Der MDTF-Einsatzverband Europa wurde, wie eingangs erwähnt, am 16. September 2021 mit Hauptquartier in Wiesbaden aktiviert. Zum spezifischen Zuschnitt dieses Verbandes heißt es ebenfalls bei Soldat und Technik: „Den Angaben der U.S. Army nach wird sich die Multi-Domain Task Force Europe aus Kräften des elektronischen Kampfes, der Feldartillerie, der Flug- und Raketenabwehr sowie Spezialisten für Cyberwarfare und Aufklärung zusammensetzen.“

Neue Raketensysteme in Europa?

Auch wenn jede MDTF für ihren Bereich spezifisch zusammengeschustert wird, lässt beispielsweise ein Papier der RAND-Corporation keine Zweifel aufkommen, dass Raketensysteme unterschiedlicher Reichweiten in allen Szenarien eine zentrale Rolle spielen sollen. Auch bei der Stiftung Wissenschaft und Politik lässt sich nachlesen: „Diese Task-Forces werden sich nach den Plänen des Heeres aus mehreren Bataillonen zusammensetzen, darunter einem mit weitreichender Artillerie, Raketen oder Marschflugkörpern.“

Bis kürzlich handelte es sich beim Army Tactical Missile System (ATACMS) noch um das Boden-Boden-Raketensystem der US-Armee, das mit 165km (in späteren Versionen 300km) über die größte Reichweite verfügte. Nach dem Ende des INF-Vertrages, der die Entwicklung von Systemen größerer Reichweite effektiv verhindert hatte, setzte unmittelbar eine (vermutlich schon länger unter der Hand vorbereitete) rege Geschäftigkeit ein, die dazu führen soll, dass in Kürze eine Reihe neuer Waffensysteme zur Verfügung stehen sollen. Mindestens drei dieser Programme sind in diesem Zusammenhang von Interesse, da sie sich auch dem Schema der ersten „Test-MDTF“ zuordnen lassen: HIMARS, MRC und LRHW (siehe Schaubild).

Für das Raketen-Abschusssystem HIMARS (High Mobility Artillery Rocket System) befindet sich aktuell eine Boden-Boden-Rakete (Precision Strike Missile, PrSM) mit einer Reichweite über 500km in Entwicklung, deren vorläufige Einsatzbereitschaft 2025 erreicht werden soll. Für Entwicklungskosten von 895 Mio. Dollar sollen knapp 2.500 Raketen zum Preis von nochmaligen 2,038 Mrd. Dollar beschafft werden. Ob dieses Waffensystem auch der EU-MDTF zugeordnet werden soll, ist unklar, wahrscheinlicher sind zwei andere Waffensysteme: Typhoon und Dark Eagle.

Bei Typhoon handelt es sich um ein Abschusssystem, das unterschiedliche Raketen mittlerer Reichweite wie Tomahawk-Marschflugkörper abfeuern kann. In Entwicklung befindet sich hierfür auch die Standard Missile (SM)-6, für die Lockheed Martin bislang 339 Mio. Dollar erhielt, um bis 2023 einen Prototypen mit einer Reichweite zwischen 500km und 1.500km fertig zu stellen.

Für rund 700 Mio. wurde außerdem Dynetics und wiederum Lockheed Martin mit der Entwicklung einer Überschallwaffe (LRHW) beauftragt. Die Dark Eagle genannte Waffe soll ebenfalls als Prototyp 2023 zur Verfügung stehen und könnte mit bis zu fünffacher Schallgeschwindigkeit von Europa aus Moskau in rund 20 Minuten erreichen, wie die britische Sun zwar reichlich reißerisch, aber dennoch nicht falsch berichtete.

Die gewöhnlich gut informierte regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik geht augenscheinlich davon aus, dass diese beiden Systeme Teil der EU-MDTF sein werden und damit in Europa stationiert werden dürften: „Die Größe und der Zuschnitt der MDTF in Europa scheinen noch nicht festzustehen; die Entsendung von nur einigen Hundert Soldatinnen und Soldaten deutet darauf hin, dass es zunächst nur um Führungs- und Planungsfähigkeiten geht. Durchaus von Belang ist allerdings, dass vorgesehen ist, diese Task-Forces mit zwei neuen landgestützten, nicht­atomaren Waffensystemen auszustatten. Die sogenannte Mid-Range Capability (MRC) soll auf Grundlage der bestehenden Standard Missile 6 (SM‑6) und des Tomahawk-Marschflugkörpers entwickelt werden und eine Reichweite zwischen 500 und 1.500 km haben. Zur weiteren Ausstattung der MDTF soll eine neue landgestützte Hyperschallrakete – die Long-Range Hypersonic Weapon (LRHW) – gehören, die eine Reichweite von mehr als 2.700 km hätte. Für beide Waffensysteme wird angestrebt, dass bis spätestens 2023 ein einsatzbereiter Prototyp zur Verfügung steht.“

Ein deutliches Signal, dass der EU-MDTF bislang vom INF-Vertrag verbotene Raketen unterstellt werden sollen, stellt die am 8. November 2021 erfolgte Reaktivierung des 56. Artilleriekommandos dar. Seither hat das Kommando seinen Sitz in Mainz-Kastel und es soll laut Stiftung Wissenschaft und Politik als „Theater Fires Command“ (Gefechtsfeldfeuerkommando) fungieren, als „ein Hauptquartier, das im Kriegs­fall den Ein­satz von Raketen unter­schiedlicher Reich­weite zwischen den Teil­streitkräften der USA sowie zwischen den Nato-Verbündeten koordinieren würde (Theatre Fires Command). Das US-Heer hat dafür im November das 56. Artillerie­kommando reaktiviert. Dessen Vorläufer bestand von 1986 bis 1991 als europäisches Kommando der US-amerika­nischen Pershing-Raketen.“

Reaktiviertes Artilleriekommando

Unklar ist allerdings, ob die augenscheinlich angedachten Raketensysteme auch in Mainz-Kastel oder anderswo in Deutschland stationiert werden sollen. Auf Nachfrage des Wiesbadener Lokalportals Merkurist wurde dies dementiert: „Fragt man die Stadt Wiesbaden dazu, teilt die Pressestelle mit, dass ‚keine Auskünfte erteilt‘ werden können. Das amerikanische Militär indes verneint die Frage, dass sich Waffen wie die Hyperschallrakete ‚Dark Eagle‘ in Mainz-Kastel befinden. Auf Merkurist-Anfrage meldet eine Pressesprecherin, dass das Artilleriekommando für die Koordination, Integration und Synchronisation der Einheiten in Europa und Afrika zuständig sei. ‘Im Gegensatz zum 56. Feldartilleriekommando während des Kalten Kriegs ist das aktuelle Headquarter kein Raketenkommando‘, so Public Affairs Officer Aimee J. Valles. Es gebe derzeit auch keine Pläne, Waffensysteme in Mainz-Kastel zu stationieren. Alle Entscheidungen, die künftig über die Stationierung getroffen würden, würden üblicherweise mit dem Gastgeberland koordiniert.“

Es ist allerdings überhaupt nicht zwingend erforderlich, die entsprechenden Raketensysteme ebenfalls in Mainz-Kastel oder an einem anderen Standort in Deutschland zu stationieren – aus einem Papier der airforcenahen Rand-Corporation lässt sich zum Beispiel herauslesen, dass dessen Autoren Polen als den wahrscheinlicheren Standort betrachten.

Dass aber solche Waffen entweder hierzulande oder irgendwo sonst in Europa stationiert werden sollen, davon ist mit hoher Sicherheit auszugehen, ist auch die Stiftung Wissenschaft und Politik der Ansicht: „Die US-Streitkräfte, insbesondere das Heer, setzen bei ihren Modernisierungsanstrengungen auf weitreichende Abstandswaffen – sogenannte Long-Range Precision Fires (LRPF). Dazu zählen auch die oben erwähnte Mid-Range Capability sowie die neue Hyperschallwaffe. Stationierungsentscheidungen auf amerikanischer Seite stehen noch aus. Doch würde es aus der Perspektive der USA wenig Sinn ergeben, solche Waffen zu entwickeln, ohne sie später in Europa stationieren zu wollen.“

Gerade bei der Reaktivierung des ehemaligen Pershing-Kommandos handelt es sich um einen symbolträchtigen Schritt, der nicht ohne Folgen bleiben und den ohnehin bereits vom Zaun gebrochenen Rüstungswettlauf weiter befeuern wird. Zwar redet aktuell (noch) niemand davon, diese Systeme auch mit Atomwaffen auszustatten, fähig dazu wären sie aber, wie etwa der ehemalige Waffeninspekteur Scott Ritter kritisiert: „Während die USA angeben, dass die Dark Eagle mit konventionellen Sprengköpfen bewaffnet sein wird, besteht das Potenzial dieser Waffe und des bodengestützten Tomahawks, nukleare Sprengköpfe zu tragen, und kann daher von russischen Militärs und politischen Führern nicht ignoriert werden und man kann erwarten, dass die russische Führung entsprechend reagieren wird.“

Und in der Tat, Mitte Dezember 2021 wurde schließlich der russische stellvertretende Außenminister Sergei Ryabkow zitiert, er sehe in der Re-Aktivierung des 56. Artillerieregimentes ein „indirektes Zeichen“ dafür, dass die NATO plane, neue Mittelstreckenraketen zu stationieren. Gleichzeitig bot er – zum wiederholten Mal im Übrigen – ein Moratorium für die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen an, kündigte allerdings an, Russland werde eigene Raketen aufstellen, sollte dies abgelehnt werden: „Gibt es keinen Fortschritt in Richtung einer politisch-diplomatischen Lösung für dieses Problem, wird dies eine militärische Reaktion unsererseits zur Folge haben“, gab Ryabkow an. „Das bedeutet, es wird sich um eine Konfrontation handeln, in der nächsten Runde wird es zur Aufstellung solcher Werkzeuge unsererseits kommen.“

Es scheint als würde hier dem Westen eine letzte Chance angeboten, ein neues Wettrüsten zu vermeiden – und es hat den Anschein, als würde dieses Angebot einmal mehr ausgeschlagen.