IMI-Analyse 2021/038 - in: AUSDRUCK (September 2021)
Kalte Krieger am Ärmelkanal
NATO reaktiviert Militärstruktur der Blockkonfrontation
von: 13. September 2021
Die „veränderte strategische Situation in Europa“ erfordere eine „stärkere maritime Zusammenarbeit“ zwischen den deutschen, niederländischen, belgischen, britischen und französischen Seestreitkräften. Ziel sei es, die „Beziehungen auf allen Ebenen zu intensivieren“ und „Anstrengungen zu synchronisieren“.[1] Das war das Ergebnis eines weichenstellenden Treffens des sogenannten Channel Committee (CHANCOM) vor zwei Jahren. Im Rahmen dieses Komitees waren die Admiräle der fünf südlichen Nordsee-Staaten am 7. November 2019 in Hamburg zusammengekommen, um sich in einer gemeinsamen öffentlichen Erklärung einem weiteren Zusammenführen ihrer Seestreitkräfte zu verschreiben. Dazu brauche es einen „bessere[n] harmonisierte[n] Fähigkeitsaufbau“ bis hin zu „gemeinsamer Beschaffung und Konfiguration von militärischer Ausstattung“,[2] so die Einschätzung der Admiräle. Damit wollen die CHANCOM-Staaten nicht zuletzt ungewollte Doppelungen und Ineffizienz beim Hochrüsten im Rahmen der beiden Militärbündnisse NATO und EU vermeiden. Nach Angaben der Bundeswehr war auch die Aufwertung des Komitees zu einer regionalen Kommandostruktur der NATO im Gespräch.[3] Die deutsche Marine zieht Parallelen zur „Ostseeinitiative“: ein kontinuierlicher und andauernder Militarisierungsprozess der Ostseeregion durch die NATO, an dem die Bundesrepublik maßgeblich beteiligt ist.[4] (Mehr zur Ostsee im Text von Horst Leps) Zwischen ihren Marinekräften streben die CHANCOM-Admiräle umfassendere Austausch-, Ausbildungs-, Trainingsprogramme und gemeinsame Manöver an. Dabei können sie auf bestehenden Programmen aufbauen.[5] Generell wollen die fünf Seestreitkräfte ihre Informationen und ihr Wissen zusammenführen. Gemeinsam werden die fünf CHANCOM-Marinen nicht nur die ihnen von der NATO zugewiesene Region um den Ärmelkanal und die südliche Nordsee „sichern“, heißt es in der Erklärung weiter, sondern auch „Macht über die Region hinaus projizieren“ – alles, um die „Völker in Europa zu beschützen“. Um dieser geteilten Schutzverantwortung gerecht zu werden, stehen die Admiräle „Schulter an Schulter“, denn „zusammen sind [sie] stärker“.[6] Dabei zählen die Admiräle das russische Volk nicht zu den europäischen Völkern – zumindest nicht zu den schützenswerten.
Geografie und machtpolitische Bedeutung
Das „Channel“ aus Channel Committee (Kanal Komitee) meint den Ärmelkanal; ein Meeresarm, der den Nordatlantik mit der südlichen Nordsee verbindet. Setzt ein Schiff von der US-amerikanischen Ostküste Kurs auf Zentral- oder Osteuropa, muss es zunächst mehrere tausend Kilometer hohe See durchqueren: den Nordatlantik. Will das Schiff nach dem Atlantik seine Reise fortsetzten – zum Beispiel durch die Nordsee nach Bremerhaven oder über die Ostsee nach Polen – muss es in jedem Fall zunächst die sogenannte GIUK-Lücke oder den Ärmelkanal durchqueren. Mit GIUK-Lücke bezeichnen Militärs und Geostrategen eine gedachte Linie, die sich von Grönland (G) über Island (I) bis nach Schottland im Norden Großbritanniens (UK) erstreckt. (Mehr zur GIUK-Lücke im Text von Christina Bogner) Verlängert man diese Linie durch England über den Ärmelkanal nach Frankreich und damit bis zum europäischen Festland, befinden sich auf dieser Linie die drei Tore vom Nordatlantik nach Nord-West-Europa: das erste zwischen Grönland und Island, das zweite zwischen Island und Großbritannien und das letzte, der Ärmelkanal, zwischen Frankreich und England. Um Nord- oder Ostsee und damit wesentliche Routen nach Nord-West- und Osteuropa zu erreichen, muss das amerikanische Schiff also entweder die GIUK-Lücke oder den Ärmelkanal durchfahren. Während die beiden Passagen zwischen Grönland, Island und Großbritannien jeweils mehrere hundert Kilometer breit sind, misst der Ärmelkanal an seiner engsten Stelle gerade um die 30 Kilometer. Die Kreidefelsen der südenglischen Stadt Dover lassen sich über den Meeresarm hinweg von der französischen Küste mit bloßem Auge erkennen. Durchquert das US-amerikanische Schiff die GIUK-Lücke, befindet es sich am Rande des Einflussgebiets des Militärbündnisses und ist für hunderte Kilometer umgeben von Wasser. Verlässt es den Nordatlantik über den Ärmelkanal, befindet es sich im Kerngebiet der NATO. Aufgrund seiner Lage im Herzen des NATO-Gebiets und seiner geringen geografischen Ausdehnung ist der Ärmelkanal für das Militärbündnis leichter und umfassender zu kontrollieren als die GIUK-Lücke.
Mit ihrer Expansionspolitik haben EU und NATO dieser geografischen Beschaffenheit der Region eine machtpolitische Bedeutung gegeben. Die fünf CHANCOM-Admiräle halten sich in ihrer Erklärung sehr bedeckt, was genau die „veränderte sicherheitspolitische Lage in Europa“ ist, mit der sie ihren militärischen Schulterschluss begründen. Sie beschwören eine abstrakte Bedrohungslage herauf, ohne aber konkrete Gefahrenquellen oder feindliche Kräfte zu benennen. Schaut man ein bisschen genauer auf die grundlegenden sicherheitspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre in Europa, ist die Sache trotzdem klar. Mit dem nicht näher benannten „staatlichen Akteur“, den die Admiräle als eine Bedrohung für die transatlantisch dominierte Weltordnung zeichnen, kann nur Russland gemeint sein. Der Verweis auf die „veränderte sicherheitspolitische Lage“ in Europa ist ein Wink mit dem Zaunpfahl. Dahinter steckt die in NATO-Kreisen viel beschworene Rückbesinnung auf die sogenannte „Landes- und Bündnisverteidigung“.[7] Nach dem Ende des Ersten Kalten Krieges hatte das Militärbündnis einen grundlegenden strategischen Kurswechsel vollzogen und sich von der Fokussierung auf Block- und damit Großmachtkonfrontation abgewendet. Aufstandsbekämpfung und die Absicherung des Zugangs westlicher Unternehmen zu Arbeitskraft, Märkten und Rohstoffen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas war neuer Schwerpunkt der Organisation. Die NATO führte zunehmend Krieg gegen nicht-staatliche Akteure „out-of-area“, also außerhalb des offiziellen Bündnisgebiets. Mit der Phrase der Rückbesinnung auf Landes- und Bündnisverteidigung verschleiert die NATO ihre Rückbesinnung auf Großmachtkonfrontation, die sie seit 2014 offen vollzieht. Die NATO hatte die durch ihre Unterstützung des Putsches in der Ukraine ausgelöste Krim-Krise 2014 zum Anlass genommen, eine sich schon länger anbahnende neue Phase der transatlantischen Ostexpansion einzuleiten: Ihre Gebietserweiterungen über politische Verträge und Wirtschaftsabkommen ergänzt und festigt sie zunehmend durch militärische Präsenz in der Region. Die militärischen Spannungen zwischen der NATO und Russland sind dabei logische Konsequenz und damit absehbare Folge von drei Jahrzehnten der Ausdehnung von EU und NATO in ehemaliges Sowjetgebiet. Der NATO-Machtblock hat unter der Führung der USA den Konflikt mit Russland um die Kontrolle über Osteuropa zu einem Zweiten Kalten Krieg eskaliert. Vor diesem Hintergrund kommt den eben beschriebenen Seewegen von den USA Richtung Russland, die nebenbei bemerkt auch von zentraler Bedeutung für die europäische Wirtschaft sind, eine militärstrategische Bedeutung zu.
Strategische Seewege
Die russische Nordflotte, angesiedelt im Oblast Murmansk, könnten NATO-Schiffe beim Passieren der GIUK-Lücke stören oder sie vielleicht sogar daran hindern, so zumindest die Sorge in NATO-Kreisen.[8] Vor allem russische U-Boote und Seeminen könnten die NATO-Flotte vor Herausforderungen stellen. Wären diese Passagen tatsächlich dicht, oder eine Durchfahrt mit einem hohen Risiko behaftet, dann wäre der Ärmelkanal das letzte Tor für die NATO aus dem Nordatlantik Richtung Osten. Aufgabe des Channel Committee ist es, diesen „kritischen Engpass“ auf der transatlantische Brücke[9] unter Kontrolle, und damit die Verbindung zwischen den USA, Großbritannien und dem europäischen Festland, aufrecht zu erhalten. Dabei geht es einerseits um die wirtschaftliche Verbindung. Entlang der Ärmelkanal-Route liegen die größten europäischen Häfen: Rotterdam in den Niederlanden, Antwerpen in Belgien und Hamburg und Bremerhaven in der Bundesrepublik. Andererseits sieht sich das Channel Committee dafür verantwortlich, die militärische Verbindung zu gewährleisten, indem es einen gefahrlosen Zugang US-amerikanischer und britischer Kriegsschiffe zum europäischen Festland sichert. Die geopolitische Bedeutung ist dabei keine natürliche, unveränderliche Eigenschaft des Ärmelkanals und der südlichen Nordsee. Erst die Politik der NATO hat der Region diese Bedeutung (zurück)gegeben. Die deutsche Marine würde nach Angaben der Bundeswehr im Kriegsfall Truppen- und Materialtransporte entlang der Nord-/Ostsee-Route eskortieren.[10]
Die NATO-Staaten wenden zunehmend Ressourcen auf, um diese transatlantischen Nachschubrouten zu festigen. Das Großmanöver Defender EUROPE 20 im Jahr 2020 stellt einen Meilenstein in diesem Militarisierungsprozess dar: Ziel der Kriegsübung war es, das Verlegen großer Truppenverbände aus den USA und Europa über die verschiedenen Nord- und Ostseerouten Richtung Russland zu proben. Indem sie ihre militärische Infrastruktur rund um die transatlantischen Nachschubrouten ausbaut, erhöht die NATO ihre militärische Einsatzbereitschaft und Handlungsfähigkeit gleichermaßen. Das Militärbündnis macht sich mit den Routen nach Osten vertraut, sammelt Erfahrungen, entdeckt Hürden auf dem Weg und baut sie ab. Dadurch verringert es seine Reaktionszeiten und befähigt sich zu umfangreichen und schnellen Truppenverlegungen nach (Ost-)Europa. Gleichzeitig verweben die transatlantischen Verbündeten dabei ihre einzelnen nationalen Armeen vermehrt zu einer geeint handlungsfähigen NATO-Streitmacht: Das Bündnis baut eigene Kommandostrukturen auf, klärt multinationale Befehlsketten und Rangfolgen, führt Lagebilder und Wissen seiner Mitglieder systematisch zusammen und stimmt die nationalen Waffensysteme aufeinander ab. Die NATO bereitet sich darauf vor, in großen Truppenverbänden in Europa aktiv zu werden. Das CHANCOM-Treffen in Hamburg mit seiner Erklärung ist Teil ebendieser zunehmenden Ausrichtung des Militärbündnisses auf eine Konfrontation mit Russland.
Wurzeln im Ersten Kalten Krieg
Vor dem Ende der Blockkonfrontation 1990 war das Channel Committee unter dem Namen Allied Command Channel eines der drei höchsten NATO-Kommandos des Kalten Krieges. Die Struktur wurde 1952 ins Leben gerufen. Nach dem Zusammenbruch des Feindes im Osten dampfte die NATO das Kommando 1994 zu einem Beratergremium ein: Aus Allied Command Channel wurde das Channel Committee. Mit dem Sieg des NATO-Machtblocks über die Sowjetunion hatte sich die sicherheitspolitische Lage in der Welt und damit auch in Europa grundlegend geändert. Den militärischen Ambitionen der USA stand keine Großmacht mehr im Weg. Im Zuge der sich in diesem Zusammenhang vollziehenden Verschiebung des militärischen Fokus der NATO vor allem Richtung Mittlerer Osten verlor der Ärmelkanal seine machtpolitische Bedeutung für das Bündnis. Auf alljährlichen CHANCOM-Treffen blieben die fünf NATO-Admiräle dennoch im Austausch, „in weiser Voraussicht“, wie der deutsche Vizeadmiral Krause sich zitieren lässt.[11] Insgesamt war die sicherheitspolitische Bedeutung des Komitees bis jetzt gering. Mit der Rückkehr der NATO zur Großmachtkonfrontation könnte sich das ändern. Die Aufgabe, der sich die fünf Admiräle mit ihrer Erklärung vor zwei Jahren verschrieben haben, ist deckungsgleich mit der Aufgabe, die Allied Command Channel im Ersten Kalten Krieg übernommen hatte. Damit hat sich CHANCOM 2019 in Hamburg auf den Weg zurück zu alter Größe gemacht. Die NATO hat den Zweiten Kalten Krieg längst begonnen. Anders als die Admiräle verkünden, hat das nichts mit der Sicherheit der „Völker Europas“ zu tun – im Gegenteil.
Anmerkungen
[1] Channel Committee (CHANCOM) declaration between all CHANCOM member on the further enhancement of CHANCOM relations in the area of naval cooperation, 07.11.2019, abrufbar über bundeswehr.de.
[2] Ebd.
[3] Bundeswehr: CHANCOM 2019 – Admiralsgremium setzt auf Neustart, 08.11.2019, bundeswehr.de.
[4] Merle Weber: Die Militarisierung der Ostsee, IMI-Analyse 2019/33, imi-online.de.
[5] Bundeswehr: CHANCOM 2019, 08.11.2019.
[6] Channel Committee declaration, 07.11.2019.
[7] Vergleiche zum Beispiel; Bundesregierung: Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr, 2016, bundesregierung.de.
[8] Beispielsweise formuliert in; Human Security Centre: Fire and Ice – A New Maritime Strategy for NATO’s Northern Flank, 2018, hscentre.org.
[9] Channel Committee declaration, 07.11.2019.
[10] Bundeswehr: CHANCOM 2019 – Frischer Wind für ein strategisches Seegebiet, 01.11.2019, bundeswehr.de.
[11] Ebd.