IMI-Analyse 2019/33

Die Militarisierung der Ostsee

Die NATO und das Marinekommando in Rostock

von: Merle Weber | Veröffentlicht am: 18. Oktober 2019

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In den letzten Jahren hat sich in der Ostseeregion einiges getan: Die Anzahl der militärischen Übungen hat zugenommen, in den Anrainerstaaten sind neue militärische Strukturen entstanden, Truppen wurden stationiert und auch die Nachschubkontingente und -wege wurden ausgebaut. Kurz: Die NATO baut gerade die militärische Infrastruktur für einen Krieg in Osteuropa auf. Deutschland ist hier unter anderem mit dem neuen Marinekommando in Rostock ganz vorne mit dabei.

Teil 1: Die Bedeutung der Region für die NATO

Die sicherheitspolitische Bedeutung der Ostsee entwickelt sich geradezu deckungsgleich mit den drei Phasen der NATO. In der ersten Phase, von der Gründung des Bündnisses 1949 bis zum Ende der Sowjetunion 1990, dominierte die Großmachtkonfrontation das Denken und Handeln der Militärs. Die Ostsee war in diesem Kontext potenzieller Schauplatz einer direkten militärischen Konfrontation der beiden Großmächte in Europa. Ab den 1990ern passte sich die NATO an die neue weltpolitische Lage an. In dieser zweiten Phase entwickelte sie den Anspruch, überall auf der Welt in ihrem Interesse militärisch einzugreifen. Sie wird zum globalen Interventionsbündnis: Aufstandsbekämpfung und Regimechange ersetzen die Großmachtkonfrontation. Vor diesem neuen Hintergrund verlor die Ostsee zeitweilig ihre sicherheitspolitische Relevanz.

Seit einigen Jahren befinden wir uns in der dritten Phase: Am Horizont erstarkt China, der NATO-Block und Russland geraten zunehmend aneinander. Die „Wiederkehr der Konkurrenz großer Mächte“ sei das prägende Merkmal der heutigen Zeit. Dafür müssten sich Deutschland und die NATO rüsten, ohne dabei die globalen Interventionsansprüche fallen zu lassen, verkündete beispielsweise Ursula von der Leyen, damals noch als Verteidigungsministerin, Anfang 2019 bei der Münchner Sicherheitskonferenz.[1]

Für die Ostsee bedeutet die zunehmende Eskalation des Konflikts zwischen NATO und Russland eine Rückkehr zu ihrer einstigen sicherheitspolitischen Bedeutung. Der strategische Umschwung des westlichen Militärbündnisses hat für die Ostseeregion eine voranschreitende Militarisierung und zunehmende Kriegsgefahr zur Folge. Damit beginnt nicht nur für die NATO ein neues historisches Kapitel der Sicherheitspolitik.

Militärische Strukturen um die Ostsee               

Analog zur Eskalation der westlich-russischen Beziehungen hat in den letzten Jahren ein Prozess der umfassenden Militarisierung der Region eingesetzt. Der erste Schub wurde 2014 als „Readiness Action Plan“ auf dem NATO-Gipfel in Wales beschlossen und dann auch umgesetzt. Zunächst erhöhte die NATO ihre militärische Präsenz vor Ort in Form von Übungen unter, auf und über der Ostsee. Darüber hinaus wurde die „NATO Response Force“ von 13.000 auf 40.000 Soldaten aufgestockt, also ein Anstieg auf 300 Prozent. Diese Truppenstruktur ist innerhalb von 5 bis 30 Tagen weltweit einsetzbar und damit die Schnelle Eingreiftruppe der NATO. Sie wurde jedoch nicht nur vergrößert, sondern auch intern umstrukturiert. Mit der Very High Readiness Joint Task Force (VJTF), umgangssprachlich Speerspitze genannt, gibt es jetzt innerhalb der NATO Response Force eine Unterorganisation, die noch schneller in jeweilige Einsatzgebiete verlegbar sein soll. Um den Kameraden der Speerspitze die Verlegung und vor allem das Ankommen zu erleichtern, gibt es zusätzlich noch die „NATO Force Integration Units“ in den potenziellen Einsatzländern. Deren Aufgabe ist es, den ankommenden NATO-Truppen im Einsatzland schnell Orientierung zu geben, sowie vor Ort Unterstützungsnetzwerke aufzubauen. Mit dem Readiness Action Plan wurde für Europa der Aufbau acht solcher Andockstationen beschlossen, vier davon in den östlichen Ostseeanrainern (Polen und Baltische Staaten). Darüber hinaus wurden die stehenden Marinekräfte der NATO ausgebaut. In einem ersten Schritt hat die NATO also ihre Präsenz in der Ostseeregion erhöht, die Nachschubtruppen vergrößert und ihre Verlegzeiten verringert, sowie an der russischen Grenze Strukturen aufgebaut, die diesen Nachschub in Empfang nehmen.[2]

Auf dem nächsten NATO-Gipfel 2016 in Warschau folgte die „Enhanced Forward Presence“. Mit diesem Programm wurde die Präsenz der NATO an ihrer Ostflanke noch einmal drastisch verstärkt. Mit jeweils einem Bataillon in Polen und den drei Baltischen Staaten sind jetzt insgesamt rund 4.000 NATO-Soldaten an der Ostflanke stationiert (dazu kommen noch im Rahmen der „European Deterrence Initiative“ bilateral von den USA verlegte Truppen). Die Soldaten rotieren zwar, das ändert jedoch nichts daran, dass das Bündnis damit eine nach der NATO-Russland-Grundakte unzulässige permanente Truppenpräsenz direkt an der russischen Grenze aufgebaut hat.[3]

Dritte Runde: NATO-Gipfel in Brüssel 2018. Die „Initiative zur Reaktionsfähigkeit“, auch „4×30“ genannt, wird beschlossen. 2020 sollen 30 Flugzeugstaffeln, 30 Kriegsschiffe und 30 Infanterie-Bataillone (bis zu 36.000 Soldaten) plus Unterstützungskräfte „in eine Reaktionsfähigkeit von 30 Tagen oder weniger“ versetzt werden. Zudem wurde ein Logistikkommando in Ulm beschlossen, das schnelle Transporte „nach, durch und aus Europa“ organisieren soll, d.h. vor allem reibungslose Truppen- und Materialverlegungen nach Osteuropa.[4] Für den Fall eines Konflikts mit Russland heißt das alles: Nach 3 bis 5 Tagen ist die Speerspitze vor Ort und wird von den Integration Units eingegliedert, nach 30 Tagen ist der Rest der NATO-Response Force vor Ort, und ab dann die 3×30 der Initiative Reaktionsfähigkeit. Nebenbei bemerkt bedeutet dieser ausgebaute Nachschub unabhängig von der Ostseeregion prinzipiell mehr NATO-Truppen in höherer Bereitschaft, die sich natürlich auch in anderen Krisenregionen einsetzen lassen.   

NATO, Russland und die Ostsee

In unterschiedlicher Form liest und hört man hier im Westen immer dasselbe: Eigentlich war Europa ein Hort von Demokratie und Dialog, von Kommunikation und Kompromissen – alles Friede, Freude, Völkerrecht in der Keimzelle der westlichen Wertegemeinschaft. Bis 2014, dem Jahr, das alles anders machte. Mit der Annexion der Krim entscheidet sich Putin eindeutig gegen das Völkerrecht und macht knallharte Machtpolitik wieder zum Standard des zwischenstaatlichen Umgangs. Mit Bedauern sehen sich die NATO-Staaten durch diese Provokation gezwungen, selbst zu überwunden gehofften, drastischeren Mitteln zurückzukehren. Also beschließt man bei nächster Gelegenheit den Readiness Action Plan. Auf Putins Demonstration der Kompromisslosigkeit muss eine Demonstration der entschlossenen Stärke aus dem Westen folgen. Nach damaligem Stand des Kräfteverhältnisses könnten Russlands Truppen ohne Probleme in 60 Stunden in Tallinn und Riga und damit den Hauptstädten zweier NATO-Staaten stehen.[5] Also beschließt man die Enhanced Forward Presence, schickt vier Bataillone an die russische Grenze. Was sonst soll Russland davon abhalten, als nächstes in die baltischen Staaten einzumarschieren?

So erzählt sich jedenfalls die NATO ihre Geschichte. Mit der Realität hat das alles wenig zu tun. Hinter der Annexion der Krim steht nicht vorrangig Putins „knallharte Machtpolitik“, sondern die kompromisslose Expansionspolitik der NATO und der EU. Die Politik des NATO-Machtblocks steuert auf eine Konfrontation mit Russland zu, seit man sich ab den frühen 1990ern für die Osterweiterungen entschieden hat. Die nächste Runde der Großmacht-Konfrontation war in der Expansion von NATO und EU von Beginn an angelegt. Das veranlasst NATO und EU damals wie heute jedoch nicht, von diesem brandgefährlichen Kurs abzulassen. Was ist das, wenn nicht „knallharte Machtpolitik“? Russlands Verhalten in der Ukraine-Krise ist nebenbei bemerkt keineswegs der erste Warnschuss aus Moskau Richtung Westen. 2014 ist nicht das magische Jahr, zu dem die NATO es erklärt. Vor 2014 kam 2011, vor 2011 kam 2008; vor der Ukraine-Krise kamen der Libyen- und der Syrienkrieg und davor der Georgien-Krieg. Russland und NATO geraten seit Jahren verstärkt aneinander. Aber anscheinend ist die Krim der erste Warnschuss, den die NATO zum Anlass nimmt, ihren Kurs zu ändern. Aber nicht etwa hin zu Kooperation und Deeskalation. Im Gegenteil: Seit 2014 hat offene Konfrontation das oberflächlich friedliche, fast schon stillschweigende Ringen um Osteuropa ersetzt. 1990 verlief die Trennlinie der Einflusssphären der beiden Großmächte noch durch Deutschland. Heute ist Deutschland fest im NATO-Block verankert und die Linie ist gut tausend Kilometer nach Osten verschoben. Viel Platz gibt es nicht mehr zum Ausdehnen: Ukraine, Moldawien, Weißrussland und dann, dann bleibt fast nur noch Russland. Der Fokus der NATO verschiebt sich also von Osterweiterung zu Ostabsicherung. Die Militarisierung der Ostseeregion durch die NATO lässt sich nicht mit dem unwahrscheinlichen Szenario einer plötzlichen, unbegründeten russischen Invasion Estlands erklären, jedenfalls nicht überzeugend.[6]

Viel überzeugender ist da ein anderes Szenario: Der ungelöste Konflikt um die Ukraine eskaliert weiter, ähnliche Krisen entwickeln sich in Moldawien und Weißrussland vielleicht sogar Russland. Und auch wenn die baltischen Staaten in Europa tatsächlich das schwächste Glied der NATO sind, ist das allein noch kein Grund zu erwarten, dass Russland plötzlich NATO-Staaten angreift und damit de facto der NATO den Krieg erklärt. Außer natürlich, man geht davon aus, dass die NATO die ohnehin schon angespannte Lage noch weiter eskaliert. Da NATO und EU keinen Anschein machen, von ihren Ansprüchen auf Osteuropa (und den Rest der Welt) abzulassen, ist das leider gar nicht so unwahrscheinlich.

2024: Die Ostsee im Krieg mit Russland

Schon im Jahr 2010 wurde durch bei Wikileaks veröffentlichte Depeschen des US State Department und von diversen US-Botschaften weltweit bekannt, dass die NATO unter dem Codenamen „Operation Eagle Guardian“ Pläne für militärische Auseinandersetzungen mit Russland um Polen und die baltischen Staaten angefertigt hatte.[7] Im Zentrum dieser Pläne steht der schnelle Einsatz von neun Divisionen aus den USA, Großbritannien, Deutschland und Polen falls es in Europa zu einem militärischen Konflikt mit Russland kommen sollte. Weitere Details zu Eagle Guardian sind nicht bekannt, insbesondere auch nicht, welche Rolle genau die Ostsee in einem solchen Szenario spielen soll. Bemerkenswert ist dabei, dass man sich in NATO-Kreisen schon vier Jahre vor der Krim-Krise um die militärische Infrastruktur im Baltikum gesorgt hat, mit der die Militarisierung der baltischen Staaten heute ja begründet wird.

Einen Eindruck, welche Rolle die Ostsee in einem solchen militärischen Konflikt haben könnte, liefert ein Blick in die Publikation „Fire and Ice – A New Maritime Strategy for NATO’s Northern Flank“. Veröffentlicht wurde das im militärstrategischen Diskurs relativ ausführlich rezipierte Papier Ende 2018 von der britischen Denkfabrik „Human Security Centre“. Auch wenn es sich also dabei um kein offizielles NATO-Papier handelt, gibt es wohl aktuell mit den „besten“ Einblick, wie sich Militärplaner einen möglichen Konflikt zwischen Russland und der NATO in der Ostsee ausmalen.

Im Papier wird das folgende Szenario ausgebreitet: In einem Krieg der NATO gegen Russland wäre die Ostseeregion „Hauptschauplatz“, wenngleich davon auszugehen sei, dass der Konflikt sich nicht auf die Ostsee begrenzen würde. Die Nachschubtruppen der NATO müssten auf ihrem Weg nach Europa den Atlantik überqueren und könnten dort schon von russischen U-Booten angegriffen werden. Darüber hinaus sei es für die NATO strategisch vorteilhaft, eine sogenannte „horizontale Eskalation“, also eine geographische Ausweitung des Konfliktes, in diesem Szenario über die Ostsee und auch über den Atlantik hinaus, gezielt voranzutreiben. So könne die NATO ihre zahlenmäßige militärische Überlegenheit ausnutzen, indem sie die russischen Streitkräfte nötige, sich über den Globus zu verteilen. Eine gezielt herbeigeführte Globalisierung des Krieges also.

Bei Kampfhandlungen in der Ostsee wären vor allem kleinere Schiffe und amphibische Fahrzeuge gefragt, um die Operationen an Land zu unterstützen, indem sie beispielsweise Truppenkonvois in die Region eskortieren sowie sich an der Abwehr der von Kaliningrad abgefeuerten russischen Raketen beteiligten. Mit seinen in Kaliningrad stationierten Raketensystemen könne Russland große Teile der Ostsee, aber auch die Baltischen Staaten und Polen bombardieren. Damit habe Russland die Fähigkeit, sowohl über das Meer, den Luftraum und über Land die Nachschubrouten der NATO zum Baltikum abzuschneiden. Es könnte die NATO-Staaten militärisch und ökonomisch aus den östlichen zwei Dritteln der Ostsee verbannen und Truppen der Landstreitkräfte unter Beschuss nehmen, die versuchen würden, das kleine Stück polnisch-litauische Grenze zwischen Kaliningrad und Weißrussland zu passieren (die sogenannte Sulwalki-Lücke). Die Aufgabe, die russische Blase um Kaliningrad zu zerbersten, läge jedoch nicht vorrangig bei der Marine, sondern bei der landbasierten Luftwaffe. In diesem Kampf um den Zugriff auf die Ostsee komme auch der Minenkriegsführung eine besondere Bedeutung zu, denn die begrenzten und flachen Seestraßen der Ostsee ließen sich mit Minen effektiv dichtmachen. Und wäre dieses Ringen um die Ostsee erst einmal gewonnen, „hätten von Schiffen gestartete konventionelle Cruise-Missiles eine Reichweite, um St. Petersburg und Moskau zu erreichen“.[8]

Größte Sorge des Autoren Rowan Allport ist dabei nicht etwa der drohende Krieg zwischen Atommächten, sondern dass es der NATO nicht gelingt, sicherzustellen, dass die „Kosten für Russland langanhaltend“ sind, also dass das Land nachhaltig ökonomisch, politisch und militärisch geschwächt aus einem solchen Krieg ginge. Auch wenn es sich hier, wie gesagt, um kein offizielles NATO-Dokument handelt, spricht einiges dafür, dass innerhalb des Bündnisses ganz ähnlich auf den Konflikt im Allgemeinen und die Ostsee im Besonderen geblickt wird. Mit Verteidigung hat das alles wenig zu tun, umso schlimmer ist es, dass Deutschland hier eine prominente Rolle spielt.

Teil 2: Deutschland: Randmeerkriege und das NATO-Marinekommando in Rostock

Die Bundeswehr wird derzeit systematisch für großangelegte Auseinandersetzungen mit Russland hochgerüstet: Nach gegenwärtigen Planungen soll 2023 eine erste schwere Brigade (ca. 5.000 Soldaten) in die NATO eingebracht werden, 2027 dann die erste Division (10.000 bis 20.000 Soldaten) und 2031 will die Bundeswehr dann drei Divisionen „beisteuern“.[9] Darüber hinaus wird auch das Material der Bundeswehr wieder auf sogenannte Randmeerkriege, also auf eine Konfrontation mit Russland auf der Ostsee, ausgerichtet.

Die am 20. Juli 2018 erlassene „Konzeption der Bundeswehr“ lässt in diesem Zusammenhang wenig Zweifel an der Relevanz der Ostsee aufkommen: „[Die] Befähigung zur Randmeerkriegführung […] bleibt unverändertes Ziel für die Ausgestaltung der deutschen SeeSK [Seestreitkräfte]. Im Rahmen der LV/BV [Landes-/Bündnisverteidigung] spielen dabei der Nordflankenraum der NATO und die Ostsee […] zunehmend eine wichtige Rolle.“ Vor allem sei es erforderlich, für die „Baltischen Staaten“, falls nötig, eine „Nachversorgung über die Ostsee“ sicherzustellen.[10]

Wie auch in der zuvor beschriebenen Studie „Fire and Ice“ angedeutet, werden für Auseinandersetzungen in der verhältnismäßig engen Ostsee kleinere Schiffe benötigt – und genau für diesen Zweck wurde bereits 2017 der Ankauf von fünf weiteren Korvetten der Klasse K130 („Braunschweig-Klasse“) beschlossen. Zum Baubeginn im Februar 2019 erklärte die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen: „Die Marine muss die Ostsee wieder stärker in den Blick nehmen.“[11]

Rostock: NATO-Ostseekommando

All diese Soldaten und ihre Schiffe müssen koordiniert und befehligt werden. Dazu etabliert die Bundesrepublik in Rostock gerade ein neues Zentrum zur Kriegsführung auf der Ostsee, das ihren regionalen Führungsanspruch in der Region untermauern soll. Zunächst hat die deutsche Marine all ihre Kommandostrukturen räumlich und strukturell in Rostock zusammengefasst. Bis 2025 soll dieses neue Marinekommando zu einem NATO-Marinekommando für die Ostseeregion aufgestockt werden.  Dadurch versucht die Bundesregierung, sich als zentraler Akteur zu positionieren. Rostock soll zur Schaltzentrale für NATO-Aktivitäten im Baltikum werden.

Zentraler Bestandteil des Marinekommandos ist bereits und soll auch in Zukunft der Stab DEU MARFOR sein. Er wurde am 23. Januar 2019 in Dienst gestellt und ist Produkt eines Konzentrationsprozesses der Kommandostrukturen der deutschen Marine. Diese waren vor 2019 noch auf Rostock, Kiel und Wilhelmshaven und damit auch auf mehrere, kleinere Stäbe verteilt. Seit Januar sind sie jetzt im DEU MARFOR räumlich und strukturell zusammengefasst. Allein das extra zu diesem Zweck errichtete Gebäude kostete 66 Mio. Euro, ganz zu schweigen von den Unterhaltskosten und den Kosten der multinationalen Manöver, die Rostock auch in Zukunft noch abhalten wird. Zurzeit besteht der Stab aus 100 Posten, von denen 25 für Soldaten aus Partnerstaaten vorgesehen sind. Bis 2025 soll er jedoch auf bis zu 180 Posten, mit wiederum 75 für Partnerstaaten anwachsen. Denn aus dem konzentrierten, nationalen Stab mit internationalem Anteil soll bis dahin eine offizielle NATO-Kommandostruktur (BMCC, Baltic Maritime Component Command) für die Ostseeregion werden. DEU MARFOR soll dabei das „Kernelement“ dieses NATO-Marinekommandos bilden. Die Admirale in Rostock befehlen also in Zukunft nicht nur die gesamte deutsche Marine, sondern werden darüber hinaus auch NATO-Einsätze kommandieren. Aber nicht nur die Matrosen der NATO werden ihre Befehle in Zukunft aus Rostock erhalten. Das Marinekommando plant, auch in anderem Rahmen und „auch in anderen Regionen“[12] multinationale Einsätze zu führen. Beispielsweise in der EU, oder aber auch einfach mit den anderen Ostsee-Anrainern (ausgenommen Russland natürlich). So etwa die im September 2019 abgehaltene Übung „Northern Coasts“. Diese Militärübung findet seit 2007 jährlich statt. 2019 wurde sie vom DEU MARFOR geplant und kommandiert. Sie gilt als erster Testlauf des neuen Stabes. Das Szenario spricht dabei Bände über die Funktion des (NATO-)Marinekommandos in der Region: Ein Staat (gemeint ist Russland) besetzt eine Ostseeinsel und „bedroht“ damit die Seewege bis in den westlichen Teil der Ostsee hinein. Gleich bei erster Gelegenheit proben die Herren in Rostock also den Kampf mit Russland um die Kontrolle über die Ostsee. Die Seewege der Ostsee sind für die Anrainer nicht nur von wirtschaftlicher Bedeutung, sie haben darüber hinaus auch militärstrategische Relevanz: Sie sind die Verbindungslinien vom Atlantik zu den baltischen Staaten, von der NATO zu ihren östlichen Mitgliedern.

Fazit: Steigende Kriegsgefahr

Krieg gegen Russland, soweit ist es noch nicht. Relevanz hat das Marinekommando in Rostock jedoch schon jetzt. Schon heute organisiert es die Präsenz von Soldaten und Kriegsschiffen auf der Ostsee, und treibt damit die Militarisierung der Region voran. Schon heute organisiert es die militärische Zusammenarbeit der Anrainer-, EU- und NATO-Staaten und gliedert auch gerade die „neutralen“ Staaten Finnland und Schweden in den NATO-Block ein. Damit leistet es auch einen Beitrag zur militärischen Integration der EU-Staaten und treibt also die Militarisierung der EU voran. NATO und Deutschland bereiten sich auf einen Krieg mit Russland vor, und zwar schon lange nicht mehr nur auf dem Papier. Die Bundesregierung beteiligt sich tatkräftig an dieser Kriegstreiberei. Das hat Berlin mit dem Aufbau des Marinekommandos erneut eindeutig bewiesen. Wer nicht ernsthaft über einen Krieg in Osteuropa nachdenkt, wer einen Krieg mit der Atommacht Russland ausschließt, braucht auch kein NATO-Marinekommando in Rostock.


Anmerkungen

[1] vgl. Rede von Ursula von der Leyen auf der 55. Münchner Sicherheitskonferenz, 15.2.2019.

[2] vgl. Abschlusserklärung des NATO-Gipfels in Wales.

[3] vgl. Abschlusserklärung des NATO-Gipfels in Warschau.

[4] vgl. Abschlusserklärung des NATO-Gipfels in Brüssel.

[5] vgl. RAND Corporation, 2016: Reinforcing Deterrence on NATO’s Eastern Flank. Wargaming the Defense of the Baltics.

[6] Prominent wird in Deutschland die Sichtweise eines auf Aggression in Osteuropa ausgerichteten Russlands  zum Beispiel von dem ehemaligen hohen NATO-Offizier Heinrich Brauß und von Joachim Krause vertreten, dem Chef des „Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel“ (ISPK). Dem trat unter anderem der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur entgegen: „Als ‚einseitig, unvollständig und einer rationalen Überprüfung nicht standhaltend‘ hingegen kritisiert der einstige Vorsitzende des Nato-Militärausschusses, Harald Kujat, vor allem die Schlussfolgerungen der Analyse. […] Das Szenario eines regional begrenzten Angriffs auf ein Nato-Mitgliedsland sei es ‚völlig absurd‘, sagte er im Gespräch mit FOCUS Online. Denn bei einem Angriff auf ein Natomitglied würde sofort der Bündnisfall erklärt, Russland riskierte also einen Konflikt mit der Nato. ‚Putin weiß, dass dies die völlige internationale Isolation zur Folge hätte – mit unübersehbaren politischen und wirtschaftlichen Folgen für das Land‘.“ („Russland bereitet sich auf Kriege in Europa vor“: So realistisch ist das Horror-Szenario, Focus.de, 15.7.2019)

[7] WikiLeaks cables reveal secret Nato plans to defend Baltics from Russia, The Guardian, 6.12.2010.

[8] vgl. Human Security Centre, 2018: Fire and Ice – A New Maritime Strategy for NATO’s Northern Flank

[9] vgl. Wagner, Jürgen: Bundeswehr: Per Fähigkeitsprofil in den Neuen Kalten Krieg, in: AUSDRUCK (Oktober 2018).

[10] vgl. Konzeption der Bundeswehr, Berlin, 20.7.2018.

[11] Mal was Nettes für die Marine, Die Welt, 7.2.2019.

[12] Vgl. DEU MARFOR – unersetzlich für die Deutsche Marine der Zukunft, Pressemitteilung des Presse- und Informationszentrum Marine vom 18.06.2019.