IMI-Analyse 2021/25 - in: AUSDRUCK (Juni 2021)
Taktiken der Grenzkontrolle
Die Kriminalisierung der Seenotrettung in Italien
von: Judith Gleitze und Kristina Di Bella, borderline-europe | Veröffentlicht am: 7. Juni 2021
„Die italienischen Behörden versuchen, die humanitären Organisationen – die nur versuchen, Leben auf See zu retten, wie es das internationale Seerecht verlangt – zu stoppen, während sie ihre eigenen Rettungsverpflichtungen missachten, und das mit der Zustimmung, wenn nicht gar der vollen Unterstützung, der europäischen Staaten“. (Marco Bertotto, verantwortlich für humanitäre Angelegenheiten von MSF[1])
Die europäische Kontrolle des Mittelmeeres
Hilfe bei illegalen Pushbacks in der Ägäis und geheime Treffen mit Lobbyist*innen: die Vorwürfe gegen Frontex wurden in den vergangen Monaten immer lauter. Die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache steht zunehmend unter öffentlicher und medialer Beobachtung. Im starken Kontrast zu dieser Aufmerksamkeit steht jedoch die verdächtige Ruhe, wenn es um Operationen im zentralen Mittelmeer geht. Dort ist Frontex seit Februar 2018 mit der Operation „Themis“ aktiv. Sie ist das Nachfolgeprojekt der Operation „Triton“, die von 2014 bis Februar 2018 andauerte und ihrerseits als Antwort auf die Beendigung der Operation „Mare Nostrum“ galt. Im Verlauf dieser drei Missionen lässt sich eine gravierende Entwicklung beobachten: von dem primären Ziel, Menschenleben zu retten (Mare Nostrum) hin zu dem „Schutz der Grenzen“ (Triton und Themis).[2] Diese Tendenz hat sich parallel zu dem Wandel im politischen und sozialen Klima entwickelt. Die Operation „Mare Nostrum“ wurde, so wie die Arbeit der Seenotrettungsorganisationen heutzutage, zunehmend als „Pull-Faktor“ (Anziehungskraft) wahrgenommen. Die Folgemissionen verlagerten ihre Einsatzschwerpunkte dementsprechend. Die Operation Themis sieht vor allen Dingen die Sicherung der Außengrenzen vor, zudem konzentriert sie sich auf den Bereich der „Terrorismusbekämpfung“.
Doch wie sehen die Aktivitäten von Frontex im zentralen Mittelmeer konkret aus? Informationen darüber sind kaum zu finden. Bekannt ist, dass Frontex in den Hotspots aktiv die Identifizierung von Personen unterstützt. Außerdem ist die Agentur vor allem in Luftmissionen über dem zentralen Mittelmeer unterwegs. Mithilfe von Kleinflugzeugen werden Gebiete entlang befahrener Routen unter anderem um Algerien, Tunesien, Libyen beflogen und Lagebilder erstellt. Dabei soll Frontex eine sogenannte „Bedrohungskarte“ führen,[3] die mithilfe einer Software bespielt wird, welche Daten selbstständig auswerten und einspeisen kann. Jegliche Form von „ungewöhnlichen“ Aktivitäten auf dem Mittelmeer wird darin verarbeitet und festgehalten. Diese Überwachung des Mittelmeers wird durch den Einsatz von Drohnen ergänzt (s.a. „Überwachung für die Festung Europa“). [4][5] In einer neuen Ausschreibung der EMSA (EU-Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs) sind zudem Infrarotkameras, mit denen beispielsweise die Anzahl von Personen auf Schlauchbooten erkennbar sein soll, vorgesehen. Dass diese Technologien für die Rettung von Menschenleben eingesetzt werden, ist jedoch angesichts der sich häufenden Menschenrechtsverletzungen durch Frontex zu bezweifeln. Es bestehen vielmehr enge Kooperationen mit der sogenannten libyschen Küstenwache, die Satellitendaten und Überwachungsbilder zugespielt bekommt oder sogar direkt an die Überwachungssysteme angeschlossen ist.[6] Mehrfach hat Frontex in der Vergangenheit die sog. libysche Küstenwache kontaktiert, um sie über abgefahrene Boote zu informieren, die daraufhin abgefangen und zurück nach Libyen gebracht wurden.
Eine weitere, militärische Operation ist EUNAVFOR MED (European Union Naval Forces) IRINI, welche seit März 2020 im Einsatz ist und deren Mandat erst kürzlich auf weitere zwei Jahre verlängert wurde.[7] Vor Kurzem haben Frontex und EUNAVFOR ihre Kooperationsvereinbarung erweitert.[8] IRINI hat das vorrangige Ziel, das Waffenembargo gegen Libyen zu kontrollieren und dabei Schiffe auf Schmuggelware zu durchsuchen. Ziel des Embargos ist es, den Friedensprozess in Libyen voranzubringen. Die Mission IRINI hat nach zwei Jahren Einsatz kein einziges Menschenleben gerettet.[9] Ihre Vorgängerin SOPHIA rettete hingegen in ihrer Laufzeit 45.000 Personen aus Seenot.
Die Routen der Geflüchteten
In den letzten drei Jahren kamen vor allem tunesische Staatsbürger*innen an den italienischen Küsten an. Häufig wagen sie die gefährliche Überfahrt auf kleinen Booten mit zehn bis zwanzig Personen. Aus Libyen fahren weiterhin viele Geflüchtete aus west- und ostafrikanischen Ländern sowie ehemalige Arbeitnehmer*innen aus Bangladesch ab, die dort keinerlei Lebensgrundlage mehr finden. Bis 2014 versuchten auch syrische Geflüchtete, die in Libyen keine Überlebensmöglichkeit fanden, von dort nach Europa zu gelangen. Eine weitere Route, die in den letzten Jahren vor allem von Algerier*innen genutzt wird, ist die von Algerien nach Sardinien. Auch hier handelt es sich um meist sehr kleine Boote und um verhältnismäßig wenige Ankünfte. Die ägyptische Route hingegen, die bis noch vor einigen Jahren vor allem von großen Fischerbooten mit mindestens 100 Personen befahren wurde, wird derzeit nicht genutzt. Dies mag einerseits an stärkeren Kontrollen, andererseits aber auch an der Gefährlichkeit der weiten Überfahrt liegen.
Die zivile Seenotrettung gibt es seit dem Jahr 2014. Vorausgegangen waren zwei Unglücke im Oktober 2013, die mehr als 600 Menschen das Leben kosteten. Das erste ereignete sich nur wenige Meter vor Lampedusa, bei dem zweiten Unglück warteten die meist syrischen Geflüchteten über Stunden auf eine Rettung, die aufgrund eines Kompetenzgerangels zwischen Italien und Malta nicht erfolgte. Die ganze Zeit befand sich ein Kriegsschiff der italienischen Marine in der Nähe, griff aber erst ein, als das Boot schon untergegangen war.[10] Nach diesen Ereignissen rief der italienische Staat die militärische Rettungsoperation „Mare Nostrum“ ins Leben, die jedoch nach nur einem Jahr am 31.Oktober 2014 auslief.
Die Organisation Sea-Watch hat von 2015 bis 2019 nach eigenen Angaben 32.000 Menschenleben im Zentralen Mittelmeer gerettet,[11] die NGO Sea-Eye 14.000 Menschen.
Die Kriminalisierung der Seenotrettung
Die vielen Facetten der „Migrationskontrolle“ zeigen sich nicht nur durch EU-Missionen. Auch mit der Kriminalisierung der Rettung durch nationalstaatliche Behörden wird versucht, Einreisen von Geflüchteten zu verhindern. Dabei gibt es drei Fallkonstellationen: den so genannten standoff, d.h. die Blockade eines Schiffes, dem mit Geretteten an Bord die Einfahrt in einen sicheren Hafen verweigert wird; das Festlegen des Schiffes/Blockade durch die italienischen Behörden und die Kriminalisierung der Besatzung mit oder ohne Haft und ggf. Konfiszierung des Schiffes.
Im Sommer 2017 erfand der italienische Innenminister von der demokratischen Partei, Marco Minniti, einen sogenannten „Code of Conduct“[12]. Alle Seenotrettungs-NGOs (SAR-NGOs) sollten diesen Verhaltenskodex unterschreiben, der u.a. auch vorsah, bewaffnetes Sicherheitspersonal/Polizei an Bord der NGO-Schiffe zu lassen. Sea-Watch und Ärzte ohne Grenzen (MSF), die zu dem Zeitpunkt noch mit einem eigenen Schiff Seenotrettung betrieben, weigerten sich, zu unterzeichnen.
Vom 1. Juni 2018 bis zum 5. September 2019 war Matteo Salvini von der rechtsgerichteten Lega Innenminister Italiens. Unter seiner Ägide wurden als erstes die Häfen für Seenotretter*innen geschlossen. Das betraf nicht nur Schiffe von NGOs, sondern auch jene der italienischen Küstenwache. Des Weiteren führte er ein neues Sicherheitsgesetz ein, welches hohe Strafen für SAR-NGOs vorsah. Im Jahr 2020 wurde unter der aktuellen Innenministerin Lamorgese das neue Gesetz Nr. 173 auf den Weg gebracht, wonach das Innenministerium mit Zustimmung der Verteidigungs- und Verkehrsminister*innen das Einlaufen von Schiffen in nationale Häfen weiterhin untersagen kann. Darüber hinaus ist im Falle eines Verstoßes ein Strafverfahren möglich, was dann doch zu einer Geldstrafe von bis zu 50.000 Euro für SAR-NGOs führen kann.[13]
Über die Jahre wurden von verschiedenen Staatsanwaltschaften Untersuchungsverfahren gegen SAR-NGOs eröffnet. Der erste war Staatsanwalt Carmelo Zuccaro aus Catania im Jahr 2017, der die zivile Seennotrettung allen Ernstes wie organisierte Kriminalität darstellt: „Meiner Meinung nach könnten einige NGOs von den Menschenhändlern finanziert werden, und ich weiß von Kontakten. Ein Verkehr, der heute genauso viel Geld produziert wie der Drogenhandel. […] Einige NGOs verfolgen unterschiedliche Ziele: die italienische Wirtschaft zu destabilisieren, um sie auszunutzen“.[14]
Eine weitere Methode, um NGOs an der Seenotrettung zu hindern, ist der Entzug der Flagge des Schiffes. Dies wurde mehrfach praktiziert, so z.B. bei der Aquarius, dem Schiff der Organisation SOS Méditerranée, die seit Februar 2016 Menschenleben auf See rettet. Im Jahr 2018 verlor die Aquarius zweimal ihre Flagge – erst entzog Gibraltar die seine, dann Panama. Ohne Flaggenstaat kann ein Schiff nicht fahren. Die Aquarius musste ihre Arbeit endgültig im Dezember 2018 einstellen, da es keine Hoffnung auf eine neue Flagge gab.
Doch der Hauptgrund, warum zivile Seenotrettungsschiffe in Häfen liegen, sind seit der Nach-Salvini-Ära 2019 die sogenannten administrativen Stopps.[15] Behörden blockieren die in den Hafen eingelaufenen Schiffe mit meist fadenscheinigen Begründungen. So finden sie, wie zuletzt am 18. April 2021 bei der Open Arms (Proactiva Open Arms), angebliche technische Mängel, die es zu beheben gelte. Auch, dass zu viele (!) Rettungswesten an Bord seien, war z.B. ein Grund für einen administrativen Stopp der Sea-Watch 4.
Neue Regierung, alles wird anders?
Am 13. Februar 2021 wurde Mario Draghi, ehemaliger Notenbankchef der Europäischen Zentralbank, Italiens neuer Ministerpräsident. Es schien, dass die „Verwaltungsblockaden“ gut für die Behörden funktioniert hatten unter der vorherigen Mitte-Links Regierung. Umso mehr erstaunte es, dass nach dem Arbeitsbeginn der neuen Regierung plötzlich eine neue Kriminalisierungswelle der Solidarität und Rettung Italien durchläuft. Was stutzig macht, ist der Zeitpunkt dieser massiven Welle der erneuten Kriminalisierung auch auf juristischer Ebene: Alle folgenden Fälle wurden in der ersten Märzwoche publik. Derzeit kann man sich nur wundern, warum nach den bisher für die Behörden erfolgreichen verwaltungstechnischen Blockaden nun doch auch wieder juristische Schritte folgen. Das kann diverse Gründe haben, über die wir bisher nur spekulieren können. Die nächsten Monate werden zeigen, worin die wahren Gründe der Ermittlungen und Prozesse liegen.
Anmerkungen
[1] MSF (Italien): Sea-Watch 4: ‚Il fermo della quinta nave umanitaria in cinque mesi condanna le persone a morire in mare‘, medicisenzafrontiere.it (20.09.2020).
[2] Emmanuel Jackson Foltz: The Frontex Paradox – Operation Themis in Historical Context, pennpoliticalreview.org/ (16.05.2020).
[3] Matthias Monroy: Frontex baut Systeme zur Meeresüberwachung aus, netzpolitik.org (17.01.2021).
[4] Airbus: European Border and Coast Guard Agency (Frontex) selects Airbus and its partner IAI for Maritime Aerial Surveillance with Remotely Piloted Aircraft Systems (RPAS), airbus.com (20.10.2020).
[5] Matthias Monroy: EU zahlt mehr als 300 Millionen für Überwachung mit Drohnen, netzpolitik.org (01.02.2021).
[6] Andrej Hunko: Frontex-Operation ‚Themis‘ im Mittelmeer – Bruch des Völkerrechts durch die Hintertür, Pressemitteilung vom 02.02.2018, andrej-hunko.de.
[7] Bundesregierung: Bundeswehr setzt Beteiligung an Irini fort, Mitteilung vom 17.03.2021, bundesregierung.de.
[8] Homeland Security Today: Frontex and EUNAVFOR Sign Maritime Security Cooperation Agreement, hstoday.us (19.01.2021).
[9] Emma Wallis: Irini mission – One year, no migrant rescues, infomigrants.net (07.04.2021).
[10] Nello Scavo: La strage in mare dei bimbi siriani – Ecco le verità nascoste, avvenire.it (11.08.2020).
[11] Sea Eye: Vier Jahre Seenotrettung, sea-eye.org/.
[12] Code of conduct for NGOs involved in migrants‘ rescue operations at sea, humanrightsatsea.org
[13] Cecilia Claudia Poli: Il ‚Decreto Lamorgese‘: luci e ombre delle modifiche ai decreti sicurezza, meltingpot.org (13.01.2021).
[14] La Repubblica (Palermo): Migranti, il procuratore Zuccaro, ‚Ong forse finanziate da trafficanti‘, palermo.repubblica.it (27.03.2017).
[15] Mauro Seminara: Aumento partenze di migranti, finita la bufala sul ‚pull factor‘ delle ONG, mediterraneocronaca.it (01.06.2020).