IMI-Standpunkt 2021/017
Mali: Bounti war ein Massaker
Untersuchungsbericht bestätigt Vorwürfe gegen Frankreich
von: 1. April 2021
Französische Luftschläge in Mali Anfang Januar trafen laut der UN-Mission MINUSMA primär Zivilisten. Frankreich bleibt bei seiner Darstellung, dass nur Terroristen getötet wurden und verweist auf Drohnen-Aufnahmen, die nicht öffentlich sind.
Anfang Januar 2021: Nachdem kurz zuvor die erste weibliche Angehörige der französischen Operation Barkhane in Mali getötet worden und die Zahl der französischen Gefallenen dort auf insgesamt 50 gestiegen war, führt die französische Armee nahe dem Dorf Bounti im Osten Malis Luftschläge durch. Nach Angaben des französischen Verteidigungsministeriums wurden dabei etwa 30 Menschen „neutralisiert“, die zuvor zweifelsfrei als Angehörige einer terroristischen Gruppe (groupes armés terroristes, GAT) identifiziert worden waren. Später legte auch die französische Verteidigungsministerin dafür ihre Hand ins Feuer und setzte noch einen drauf: Wer anders lautende „Gerüchte“ verbreite, spiele den „Terroristen“ in die Hände. Auch die malische Regierung, deren Truppen in jener Zeit und in jener Region gemeinsam mit Barkhane die Operation Éclipse durchführten, machte sich die französische Darstellung zu eigen und bezeichnete abweichende Berichte als „tendenziös“, mit dem Ziel, „die gute Arbeit der malischen Armee und ihrer Partner“ zu diskreditieren.
Allerdings erschienen die Berichte, nach denen im betreffenden Ort zeitgleich eine Hochzeitsfeier stattgefunden habe und deren Gäste Opfer der Luftschläge wurden, einigen großen nationalen und internationalen Medien glaubhaft genug, um sie zu zitieren. Auch die humanitäre Organisation „Ärzte ohne Grenzen“, die einige der Verwundeten versorgte, deutete subtil an, dass Zweifel an der französischen Darstellung gerechtfertigt sein könnten. Die UN-Truppe MINUSMA, die mit gut 15.000 bewaffneten Kräften vor Ort ist und an sich eng mit der malischen und französischen Armee kooperiert, sah sich genötigt, die Luftschläge zu untersuchen. Am 30. März stellte deren Abteilung für Menschenrechte und den Schutz der Zivilbevölkerung ihren Bericht vor und veröffentlichte eine Zusammenfassung. Demnach waren unter den 22 Menschen, die bei den Luftschlägen getötet wurden, 19 Zivilisten gewesen, von denen die Mehrheit in Bounti lebt. Mindestens acht weitere Zivilisten seien im Zuge der Luftangriffe verletzt worden. Bei drei der Getöteten hingegen habe es sich um mutmaßliche Angehörige der Gruppe Katiba Serma gehandelt, die als djihadistisch gilt. Insgesamt seien rund einhundert Männer anwesend gewesen, von denen fünf bewaffnet gewesen seien.
Anlass für die Versammlung war demnach tatsächlich eine Hochzeit, bei der Männer und Frauen getrennt voneinander zusammen kamen. Auch diesbezüglich widersprechen die Ermittlungen der UN-Mission explizit der Darstellung der französischen Verteidigungsministerin. Diese hatte sich festgelegt: „Man hört immer wieder von einer Hochzeit, es gab aber kein kein festliches Beisammensein, als die Luftschläge stattfanden“. Die Zusammenfassung des UN-Berichts bleibt allerdings diplomatisch und stellt fest, dass der Vorfall in Bounti „erhebliche Bedenken“ an der Einhaltung des humanitären Kriegsvölkerrechtes aufwerfe und empfiehlt der französischen und der malischen Regierung, eine „unabhängige Untersuchung“ einzuleiten. Der Begriff selbst taucht in dem Dokument nicht auf, letztlich wirft die UN-Mission ihren Verbündeten in Mali aber ein Kriegsverbrechen vor und nach allen vorliegenden Fakten liegt ein solches auch vor. Die einzigen, die dies bestreiten, sind letztlich die französische Regierung und die von ihr gestützte malische Politik. Frankreich beruft sich dabei auf „Aufklärungsergebnisse in Echtzeit“ – womit sie vor allem Drohnenaufnahmen meint – die sie aber natürlich nicht öffentlich machen will. Frühere Berichte von Augenzeugen, wonach auch ein Helikopter am Angriff auf die Bewohner*innen beteiligt gewesen sei, werden durch den Bericht der MINUSMA nicht bestätigt.
Bislang hält sich die internationale Berichterstattung über das Massaker bei Bounti in Grenzen. Das hat bereits Mitte Januar den Journalisten Azad Essa, der in New York für Middle East Eye schreibt, empört: „Frankreich hat womöglich eine Hochzeitsfeier bombardiert – und niemanden scheint das zu stören“, entrüstet er sich bereits im Titel.
Besonders eklatant allerdings ist das Desinteresse in Deutschland, denn die Bundeswehr ist mit etwa 1.500 Kräften ebenfalls in Mali vor Ort, um seinen „Partner“ Frankreich zu unterstützen. Dabei wird auch auf praktischer Ebene kooperiert: Frankreich und Deutschland unterhalten im benachbarten Niger einen gemeinsamen Lufttransportstützpunkt mit gemeinsamer Kantine, sie nutzen beide den Flughafen Gao, neben dem sie jeweils ihre Feldlager errichtet haben. Deutschland hat dort in Kooperation mit Airbus Aufklärungsdrohnen vom Typ Heron-1 stationiert, die sie im Rahmen des MINUSMA-Mandats einsetzt. Neben dieser abbildenden Aufklärung ist Deutschland innerhalb der MINUSMA auch mit dem nachrichtendienstlichen Lagebild beauftragt. Es ist davon auszugehen, dass auch hierbei Informationen mit Frankreich ausgetauscht werden. Eine Antwort auf die schriftliche Frage der Bundestagsabgeordneten Christine Buchholz, ob Bounti zum Operationsgebiet der deutschen Heron-Drohne gehöre, ließ die Bundesregierung als Verschlussache deklarieren. Auf die Frage, welche Kenntnisse die Bundesregierung zu den Vorfällen in Bounti habe, verwies sie lediglich auf die Erklärung des französischen Verteidigungsministeriums und ergänzte: „Die Bundesregierung hat keinen Anlass, an dieser Darstellung zu zweifeln“. Entweder wurde die Bundesregierung von ihrem „Partner“ Frankreich angelogen – oder sie hat selbst gelogen.
Dieser Umgang mit der Wahrheit macht den Vorfall in Bounti auch zu einem wichtigen Beispiel zum Umgang mit Nachrichten und „Gerüchten“: Im Krieg wird gelogen und offenbar wird auch von den Verbündeten Deutschlands gelogen. Im Falle Bounti war es offenbar die Wahrheit, die von den Regierungen als Propaganda der Terroristen und Fake News gebrandmarkt wurde. Zugleich wird aktuell darum gerungen, deren Verbreitung zu kriminalisieren und Plattformen zu verpflichten, sie zu unterbinden. Ein Strategiepapier im Auftrag des EU-Parlaments z.B. träumt schon davon, über ganz Europa verteilt Zentren zur Überprüfung von Nachrichten mit insgesamt 50.000 Vollzeitstellen aufzubauen, was es ermöglichen könne, dass „bis 2025 geschätzte 95% aller Falschnachrichten innerhalb von fünf bis sieben Minuten“ nach ihrem Erscheinen bzw. dem Erreichen „europäischer Öffentlichkeiten“ entfernt werden könnten. Ob diese Zentren dann auch im Stande wären, die Lügen der eigenen Regierungen zu entlarven oder von diesen auch instrumentalisiert werden könnten, die eigene Propaganda gegen „alternative Fakten“ durchzusetzen, erscheint vor diesem Hintergrund fraglich. Denn im Falle Bounti stand durchaus auf der Kippe, ob die betroffene Bevölkerung vor Ort Gehör findet, es tatsächlich eine unabhängige Untersuchung gibt und es steht bis heute auf der Kippe, in wie weit der Wahrheit (nach aktuellem Stand) überhaupt Beachtung geschenkt wird.
Auch in der Debatte um die Bewaffnung von Drohnen der Bundeswehr könnte das Beispiel Bounti eine größere Rolle spielen. Zwar wurden nach Darstellung Frankreichs die Bomben von Kampfflugzeugen abgeworfen, die Aufklärung im Vorfeld erfolgte jedoch durch eine Reaper-Drohne, welche zuerst zwei Individuen verfolgt und anschließend jene Gruppe über 90 Minuten beobachtet hatte, die dann bombardiert wurde. Auf der Grundlage dieser Bilder wurden nach aktueller Beweislage die Hochzeitsgäste fälschlicher Weise als „Terroristen“ identifiziert. Das ist durchaus relevant für die deutsche Drohnendebatte, weil hier die Befürwortenden einer Bewaffnung immer wieder damit argumentieren, dass dies angeblich die Präzision von Luftschlägen erhöhen würde. Im Falle Bountis zeigt sich, dass dies zumindest nicht in dieser Pauschalität zutrifft. Hier hält die 90-minütige Beobachtung einer Personengruppe als Legitimation her, diese zu bombardieren. Tatsächlich ist fraglich, ob herkömmlichere Aufklärungsmittel der militärischen Führung ausreichend „Sicherheit“ geboten hätten, um eine 40-100 Menschen umfassende Personengruppe, von der offenbar nur fünf bewaffnet waren, zum Abschuss freizugeben. Jedenfalls wurde bereits an anderer Stelle (vom Autor) angedeutet, dass mit dem zunehmenden Einsatz von Drohnen Frankreich verstärkt dazu übergegangen ist, Personengruppen zu bombardieren, die Zahl der Opfer lediglich in Zehnerschritten („etwa zwanzig“, „etwa dreißig“) anzugeben und diese allesamt als Terroristen zu klassifizieren. Zentral bei dieser Klassifizierung scheinen Alter und v.a. das Geschlecht zu sein. Denn eine Angabe der französischen Verteidigungsministerin traf zu, als sie vehement behauptete, dass es keine zivilen Opfer und keine Hochzeit gegeben habe: Es waren keine Frauen und Kinder unter den Opfern. Damit waren das aus Sicht der französischen Regierung offenbar zweifelsfrei Terroristen.