IMI-Analyse 2021/10 - in: AUSDRUCK (März 2021)

(Tech)Geopolitik in der Pandemie

Mit Corona in die „Strategische Autonomie“

von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 8. März 2021

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Grundlage dieses Artikels war ein Vortrag, der beim IMI-Kongress „Politik der Katastrophe“ im November 2020 gehalten wurde. Die Beiträge des Kongresses finden sich gesammelt in der März-Ausgabe des IMI-Magazins AUSDRUCK.

Frühe Annahmen und vorläufige Indizien

Zu Beginn der Pandemie hatten wir auch bei der IMI Vorstellungen von deren geopolitischen Folgen, die rückblickend etwas naiv oder vorschnell waren. Abzusehen waren aus unserer Sicht massive wirtschaftliche Einbrüche, die auch zu grundlegenden Verschiebungen im globalen Machtgefüge führen würden. Außerdem gingen wir u.a. davon aus, dass die Pandemie besonders schwere Folgen im Globalen Süden haben und dortige Konflikte eskalieren könnte, womit sie dann typischerweise auch zu Stellvertreterkonflikten werden, da sich die Großmächte unterschiedlich positionieren und einmischen. Auch wenn davon bislang nichts ausgeschlossen ist, weisen erste Indizien und auch aktuelle Diskurse in eine andere Richtung: Besonders betroffen ist der Globale Norden, Europa, Nord- und Südamerika, während Afrika und Südostasien eher glimpflich davongekommen sind. Zumindest in den ersten Monaten der Pandemie konnte man meinen, bei den bisherigen Großmächten und der EU durchaus auch eine gewisse Selbstbeschäftigung erkennen zu können, die ihre Präsenz auf der Weltbühne in Mitleidenschaft zog. Gleichzeitig mehrten sich Stimmen aus dem und über den afrikanischen Kontinent, die von einem verstärkten Selbstbewusstsein geprägt waren und hervorhoben, dass afrikanische Länder in der Pandemie ihre Unabhängigkeit von europäischer und internationaler Hilfe demonstrieren konnten.

Auch die antizipierte massive internationale Wirtschaftskrise ist bislang ausgeblieben. Mitten in der Pandemie kletterte etwa der DAX Anfang Januar 2020 erstmals in seiner Geschichte über 14.000 Punkte und stabilisierte sich anschließend nur wenig unter diesem Wert. Von den Webseiten der großen (westlichen) Kapitalverbände wie dem World Economic Forum (WEF) oder Beratungsgesellschaften wie PricewaterhouseCoopers (PWC) schlägt einem ein geradezu bizarr anmutender Optimismus – fast schon eine Euphorie – angesichts der zu erwartenden Transformationen entgegen.

Nach aktuellem Stand scheint auch ökonomisch v.a. China gestärkt aus der Pandemie hervorzugehen. Der Aufstieg Chinas stellt allerdings sowohl als Trend wie auch als Diskurs weniger einen Bruch als eine Kontinuität zur Zeit vor Corona dar. Auch im geopolitischen Diskurs verstärkte sich zunächst die Tendenz, nur noch drei große, mächtige Blöcke – USA, China und die EU – wahrzunehmen, während der zwischenzeitlich viel beachtete Aufstieg anderer Schwellen- und Entwicklungsländer aktuell weniger Aufmerksamkeit erfährt. Wenn dies im Folgenden am Beispiel eines Papiers des Europäischen Instituts für Sicherheitsstudien (EUISS) dargestellt wird,[i] so muss dabei klar sein, dass es sich hier um eine explizit EU-europäische Sichtweise handelt, die vielleicht eher Ausdruck der bereits angesprochenen Selbstbeschäftigung ist, als eine zutreffende Analyse der globalen Machtverhältnisse.

Eurozentrische Szenarien

Die Studie des EUISS bzw. der Generaldirektion Auswärtige Angelegenheiten (DG EXPO) wurde im Auftrag des Europäischen Parlaments erstellt und untersucht – so auch der Titel – „die geopolitischen Implikationen der COVID-19-Pandemie“. Auch sie identifiziert zunächst fünf Trends, welche sich tendenziell durch die Pandemie beschleunigt hätten: Der Aufstieg Chinas, die Entfremdung zwischen den USA und der EU, die Zuspitzung der Konflikte mit Russland (u.a. durch dessen „Einmischung“ auf dem „westlichen Balkan“), die wachsende Instabilität in der „südlichen Nachbarschaft“ und ein qualitativer Niedergang der Demokratie. Auf dieser Grundlage entwarf die Studie vom September 2020 drei Szenarien.

Das Szenario einer „strategischen Distanzierung“ ging von einer Wiederwahl Trumps aus, welche zu einer mehr oder weniger neutralen Positionierung der EU zwischen den USA und China führt. Dadurch friert die Eskalation zwischen einem geschwächten Russland und der EU auf dem Niveau eines dauerhaften Informationskrieges ein. Russlands Einfluss in der „südlichen Nachbarschaft“ bzw. dem arabischen Osten geht zurück und der Iran implodiert, was als Chance gewertet wird. Die EU und China konkurrieren weitgehend friedlich um Einfluss auf dem afrikanischen Kontinent.

Ein „Europa in der Selbstisolation“, so das zweite Szenario, scheint v.a. von einem latenten Kriegszustand zwischen den USA und China geprägt, auch weil Europa seinen Gestaltungsanspruch auf der Weltbühne weitgehend aufgegeben hat. Europa ist autark, grün und demokratisch. Global gesehen jedoch gehen auch wegen der europäischen Selbstisolation der Klimawandel und der Niedergang der Demokratie weiter – letzteres u.a., weil v.a. China und Russland durch die Lieferung repressiver Technologien die Regime in der „südlichen Nachbarschaft“ stabilisieren und dadurch an Einfluss gewinnen. Auch hier wurde von einer Wiederwahl Trumps ausgegangen.

Das Szenario „Welt im Lockdown“ hingegen ging davon aus, dass in den USA Biden zum Präsidenten gewählt werde. Europa und die USA gründen gemeinsam mit allen „konsolidierten Demokratien“, nicht-staatlichen Akteuren und Unternehmen eine „Partnerschaft zur Verteidigung der Demokratie“ – was die Welt in zwei Teile spaltet. Die Rüstungsausgaben in der EU steigen stark, weil sie für die Eindämmung Russlands zuständig ist, während die USA sich mit China beschäftigen. Zwischen den beiden Blöcken findet kaum Kooperation, Handel und Informationsaustausch statt, beide konkurrieren aber dabei, den Klimawandel zu bekämpfen.

Tech-Geopolitik

Alle drei Szenarien gehen von einer technologischen und informationellen Blockbildung und einem damit verbundenen Umbau der Wertschöpfungsketten aus. Dies gilt natürlich auch für die Rüstungsindustrie. So geht etwa das Szenario der strategischen Distanzierung davon aus, dass die EU verteidigungsrelevante Rohstoffe zunehmend aus Grönland und Afrika statt aus China und Russland bezieht. Zugleich werden in strategischen Sektoren wie Künstlicher Intelligenz und Batterien durch Subventionen und Kreditprogramme umfangreich eigene Produktionskapazitäten und Zulieferketten aufgebaut. Besonders ausführlich werden in diesem Szenario der Informationskrieg mit Russland und seine technischen wie administrativen Voraussetzungen behandelt. So würden in der EU nur noch Plattformen zugelassen, die sich zur Entfernung von Fake News verpflichten. Über ganz Europa verteilt entstehen damit verbunden Zentren zur Überprüfung von Nachrichten mit insgesamt 50.000 Vollzeitstellen, was es ermöglicht, dass „bis 2025 geschätzte 95% aller Falschnachrichten innerhalb von fünf bis sieben Minuten“ nach ihrem Erscheinen bzw. dem Erreichen „europäischer Öffentlichkeiten“ entfernt werden.

Auch im Szenario der Selbstisolation verlässt sich Europa weitgehend auf eigene, geschlossene Wertschöpfungsketten und setzt bei der darüber hinaus notwendigen Versorgung mit Rohstoffen oder Vorprodukten v.a. auf geografische Nähe. Investitionen in den „Klimaschutz“ und erneuerbare Energien ermöglichen, dass die EU auch hinsichtlich der Energie zunehmend autark wird. Technologie spielt in diesem Szenario auch eine Rolle bei der Stabilisierung undemokratischer Regime durch China und Russland durch die Bekämpfung bzw. Verunmöglichung von Protest: „…insbesondere bei der Anwendung Künstlicher Intelligenz und Big Data haben autoritäre Regierungen [mit Hilfe Chinas und Russlands] so große Fortschritte gemacht, dass Demokratie – erstmals seit 1999 – eine Minderheit im globalen Regierungssystem“ (DG EXPO, S. 49) darstellt.

Im Szenario des Lockdowns existieren zwei Blöcke mit in sich weitgehend geschlossenen Lieferketten. „Obwohl der Austausch von Menschen und Informationen [zwischen diesen] technisch immer noch möglich ist“, findet er de facto kaum noch statt. Dementsprechend nimmt auch die Intensität des Informationskrieges ab, da die Menschen fast nur noch Nachrichten aus „ihren“ jeweiligen Blöcken und von „ihren“ jeweiligen Staatsführungen konsumieren („Vielleicht war dies eine ’natürliche‘ Reifung in einem Zeitalter des Überflusses an Informationen“, DG EXPO, S. 50). Nicht explizit ausgeführt, aber implizit angenommen wird hier, dass der wissenschaftliche und technologische Austausch weitgehend zum Erliegen kommt und Technologie fast völlig entkoppelten Entwicklungspfaden folgt. Auch die angenommenen großen Fortschritte bei der Bekämpfung des Klimawandels in diesem Szenario ergeben sich nicht aus Kooperation, sondern aus Wettbewerb, in dem „das Rennen um Klimaneutralität [carbon neutrality] zum Symbol für Fortschritt und systemische Überlegenheit wurde“ (DG EXPO, S. 50).

Ohnehin nimmt neben den Versorgungsketten und der Technologiepolitik die (damit verbundene) Energie- und Klimapolitik einen großen Raum in allen drei Szenarien ein. Sie erscheint geradezu als Gradmesser, der darüber bestimmt, als wie wünschenswert diese sich jeweils darstellen. So lautet ein zentraler Satz des Szenarios europäischer Selbstisolation: „Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels gehören zu den ersten Opfern einer Welt ohne Europa“ (DG EXPO, S. 49).

Strategische Autonomie

Allerdings handelt es sich bei den verschiedenen Bezugnahmen auf die Pandemie (auch) im vorgestellten Papier um Augenwischerei. Wie schon bei den einleitend identifizierten „Trends“ handelt es sich auch bei den vermeintlich aus den Szenarien abgeleiteten Imperativen um ohnehin dominante Diskurse und Strategien, die nun zusätzlich mit sich (vermeintlich) aus der Pandemie resultierenden Argumenten und mit den Corona-Konjunkturpaketen vorangetrieben werden.

So spielen die Versorgungs- und Wertschöpfungsketten, Technologie- und Klimapolitik unter dem Schlagwort der „Strategischen Autonomie“ bereits seit der Veröffentlichung der EU-Globalstrategie 2016 eine zentrale Rolle in der europäischen Politik.

Unter Strategischer Autonomie im engeren Sinne wird die Fähigkeit der EU verstanden, (notfalls) auch unilateral zu handeln, was im militärischen Sinne v.a. bedeutet, auch größere Konfrontationen ohne Unterstützung der USA und der NATO einzugehen. Konkret setzt dies etwa die Entwicklung einer europäischen Alternative zum von den USA kontrollierten GPS sowie Möglichkeiten zur globalen, militärisch gesicherten Weltraumkommunikation und weltraumgestützten Erdbeobachtung/Aufklärung voraus. Der damit angestrebte eigenständige „Zugang zum Weltraum“ beinhaltet wiederum eigene Trägersysteme, Weltraumbahnhöfe und Kapazitäten zur Überwachung und ggf. Verteidigung im Weltraum. Was hier für den Weltraum angedeutet wurde, gilt allerdings für die europäische Rüstungsindustrie insgesamt, die so umgebaut werden soll, dass sie „im gesamten Spektrum der Fähigkeiten“ von Kooperationen mit und Vorprodukten auch z.B. aus den USA unabhängig(er) wird. Es handelt sich dementsprechend um ein gewaltiges industriepolitisches Rüstungsprogramm.

Die Strategische Autonomie bleibt aber v.a. im sog. „Cyber- und Informationsraum“ nicht auf den Rüstungsmarkt beschränkt. Im Zuge des 5G-Netzausbaus sind umfangreiche Bemühungen erkennbar, etwa chinesische Anbieter so weit wie möglich außen vor zu halten. Dies dient natürlich der Cyber-Defence in Erwartung eines sich zuspitzenden Konflikts mit China. Die Bemühungen um „digitale Souveränität“ und den Aufbau eines „europäischen Datenraumes“ sind, wie oben am Beispiel der Regulierung der Kommunikationsplattformen beschrieben, auch Teil des Informationskrieges. Der Europäische Cyber- und Informationsraum soll nicht nur gegen das Eindringen von Schadsoftware, sondern auch vor Informationen/Nachrichten, die den hier herrschenden Narrativen widersprechen, gewappnet sein. Mit der industriellen geht eine technologische und informationell-ideologische Blockbildung einher und wird relativ offen angestrebt. Auch die Maßnahmen zur „Bekämpfung des Klimawandels“ durch erneuerbare Energien und Kreislaufwirtschaft dienen auf europäischer Ebene zumindest in Teilen dem Ziel der strategischen Autonomie, der militärischen Handlungsfähigkeit und damit der Möglichkeit, Konflikte zwischen Großmächten einzugehen und zu eskalieren. Das allerdings dient ebenso wenig dem Schutz des Klimas, wie die umfassenden Rüstungsprogramme mit dem Ziel einer eigenen, unabhängigen Rüstungsindustrie. Festzuhalten ist, dass die nun im Zuge der Corona-Konjunkturpakete vorangetriebene Industrie- und Rüstungspolitik mit den Zielen der strategischen Autonomie, der digitalen Souveränität und weiteren „Digitalisierung“, der Klimaneutralität und der Entwicklung „disruptiver Technologien“ ziemlich exakt jenen Zielvorstellungen entspricht, die bereits vor der Pandemie formuliert und umgesetzt wurden.

Impf-Geopolitik

Als bisher vermutlich eindeutigste Auswirkung der Pandemie auf die internationalen Beziehungen lassen sich allerdings die Lieferketten, Zulassungen und Distribution von Impfstoffen als neue Domäne der Geopolitik ausmachen. Hier deutet sich auch die – bislang eher ideologisch, als technologisch begründete – informationelle Blockbildung an. Vor der Zulassung hatte die EU-Kommission nur Lieferverträge mit Unternehmen abgeschlossen, die in der EU, Großbritannien und den USA ansässig sind. Nur diese Unternehmen wurden in größerem Maßstab finanziell unterstützt, obwohl sich Impfstoffe bspw. aus China und Indien bereits auf derselben Stufe der Erprobung befanden und für diese tw. bereits deutlich mehr Daten vorlagen. Zugelassen wurden in der EU bis Ende Januar ausschließlich drei Impfstoffe von jenen Unternehmen, mit denen Vorabverträge abgeschlossen worden waren (darunter zwei auf der Grundlage der neuen mRNA-Technologie), während Impfstoffe aus anderen Ländern – oft von öffentlichen Forschungseinrichtungen entwickelt und auf konventioneller(er) Technologie basierend – zu diesem Zeitpunkt bereits großflächig zur Anwendung kamen. Für die Wirksamkeit und/oder Nebenwirkungen der Impfstoffe aus China, Indien und Russland existiert im europäischen Informationsraum aktuell noch so gut wie keine Aufmerksamkeit. Sie erschöpft sich gerne in dem Hinweis, dass es sich um Notzulassungen handelt, bevor die klinischen Studien abgeschlossen wurden. Dies gilt allerdings vergleichbar für die in der EU zugelassenen und produzierten Vakzine.

V.a. bei der Verteilung der Impfstoffe an Drittstaaten und den dabei ausgehandelten Bedingungen lassen sich bereits jetzt bestehende und neue Konstellationen erkennen und wird sich in Zukunft eine ausgeprägte Impf-Geopolitik herausbilden. Die zugrunde liegende Logik stellt auch die hier vorgestellte Studie des EUISS dar: „Nachdem verschiedene Staaten die Erprobung von Impfstoffen vorangetrieben haben, zeichnet sich bereits ab, dass der erste erfolgreiche [Impfstoff] den Einfluss desjenigen Staates vergrößern wird, der ihn finanziert hat. Dies könnte weitere Spannungen anheizen, aber auch als weiteres Mittel dienen, das eigene Standing in der Welt zu verbessern“ (DG EXPO, S. 36). Was die Verteilung von Impfstoffen an Drittstaaten angeht, haben zum Stand Januar 2020 zunächst Russland, China und Indien das Rennen gewonnen, während sich die EU-Kommission mit den finanziell umfassend geförderten privaten Herstellern um Liefermengen zankte.

Anmerkung


[1] Policy Department for External Relations (DG EXPO): The geopolitical implications of the COVID-19 pandemic – Study requested by the AFET committee, europarl.europa.eu, 2020. Als Herausgeber fungiert die Generaldirektion Auswärtige Angelegenheiten (DG EXPO) des europäischen Parlaments, die Autor*innen stammen jedoch vom EUISS.