IMI-Standpunkt 2003/110
With or without you
Nach dem gescheiterten EU-Gipfel
von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 16. Dezember 2003
Schadenfreude ist leider nicht angebracht. Nach dem gescheiterten EU-Gipfel vergangenes Wochenende in Brüssel zeigen sich die Machtverhältnisse innerhalb der EU deutlicher als zuvor. Schröder und Chirac kündigten bereits vor dem Gipfel an, dass sie unabhängig von dessen Ergebnis zukünftig enger kooperieren wollen. Kerneuropa kommt, mit oder ohne die anderen Staaten. Wenn Chirac von einer „Gruppe von Pionieren“ spricht und Schröder von einem „Europa der zwei Geschwindigkeiten“, so ist das eindeutig eine Drohung. Die Verhandlungen um die Ratifizierung des vom Verfassungskonvent im Sinne Deutschlands und Frankreichs ausgearbeiteten Verfassungsentwurfs könnten bereits die letzte Möglichkeit für die schwächeren Staaten gewesen sein, ein Veto einzulegen. Wenn die selbsternannten Pioniere unter sich erst die Spielregeln ausgehandelt haben, sind die Einflussmöglichkeiten für die, die später dazustoßen wollen noch geringer.
Was sich gegenwärtig in Europa abspielt ist eiskalte Machtpolitik. Und sie zeigt ihre Wirkungen: Sobald das Wort Kerneuropa in den Agenturmeldungen auftauchte beeilten sich die Regierungschefs, dazuzugehören: Österreich, Ungarn und Tschechien meldeten bereits Interesse an, zu den Pionieren zu gehören, auch den Benelux-Staaten wird nichts anderes übrig bleiben.
Unmittelbar nach dem Gipfel kündigten die reichen Staaten Kerneuropas in einem Brief an Kommissionspräsidenten Prodi an, die Ausgaben für die EU auf dem Gegenwärtigen Niveau einzufrieren.[1] Damit setzen sie die Nehmerländer Spanien und Polen unter Druck, die sich gegen die von Deutschland und Frankreich gewünschte doppelte Mehrheit gewehrt haben. Diese doppelte Mehrheit hätte die Bevölkerungszahl der Staaten in die Stimmgewichtung einbezogen und damit die Bevölkerungsreichen Staaten Kerneuropas bei deren Einigkeit praktisch unüberstimmbar gemacht und ihnen so eine Dominanz zugesichert, welche sie ohne Verfassung aber ohnehin haben.
Dennoch birgt ein Kerneuropa ohne Verfassung in sich eine zusätzliche Gefahr: Es ist noch unklar, ob Italien und Großbritannien dabei wären, Spanien und Polen wären es jedenfalls definitiv nicht. Das sind genau die Staaten, welche die USA im Krieg gegen den Irak am offensten unterstütz und damit auch längerfristig Kooperation angeboten haben. Die USA hingegen sind spätestens seit der von der EU beschlossenen engeren militärischen Kooperation skeptisch gegenüber einer zu engen Europäischen Union, vor allem da diese offensichtlich auch militärisch als Herausforderer der hegemonialen Stellung der USA in Stellung geht.[2] Sie werden froh sein über Spanien und Polen, England und evtl. Italien einen Fuß in die europäische Tür zu bekommen. So könnte der sich bereits im Streit um Stahlzölle und Genveränderte Nahrung anbahnende Konflikt zwischen USA und Kerneuropa beschleunigen.
Dennoch ist die Verfassung mit dem Scheitern des letzten Gipfels noch nicht vom Tisch. Nun wird eben der Druck durch Kerneuropa erhöht. Eine Woche vor dem Gipfel ließ es verlauten, es werde keinen Kompromiss um jeden Preis geben,[3] besser keine Verfassung als eine schlechte. Vor Beginn des Gipfels trafen sich Schröder, Chirac und Blair noch einmal hinter verschlossenen Türen und gaben anschließend keinerlei Statements ab. Wahrscheinlich hatten sie das Platzen-lassen des Gipfels bereits beschlossen, falls sie sich nicht durchsetzen könnten. Diese vielbeachtete Vorabsprache war eine letzte Drohgebärde. Und die Drohung wurde wahr gemacht, der Gipfel scheiterte scheinbar rigoros, kurz nachdem die Verfassung überhaupt auf die Tagesordnung kam, es wurde nicht einmal ein Termin für Folgeverhandlungen bestimmt. Frühestens im März soll es zu neuen Verhandlungen kommen. Bis dahin wird Druck ausgeübt und Macht demonstriert werden, Kerneuropa wird als Schreckgespenst über den Abtrünnigen kreisen und spätestens, wenn in Polen die Wahlen vorüber sind, wird es einlenken. Es sei denn es kommen sehr attraktive Angebote aus den USA.
Man mag den gescheiterten Gipfel als überhastet bezeichnen, die EU hätte sich das Debakel sparen können, wären mehr Verhandlungen im Vorfeld gelaufen. Andererseits wurde mit ihm ein erster Versuch unternommen, die Verfassung möglichst schnell unter Dach und Fach zu bringen. Durch sein Scheitern hat Kerneuropa nun seine Entschlossenheit demonstriert, auch nach der bisher größten Erweiterung der EU Mitte nächsten Jahres um zehn Staaten, das Ruder in der Hand zu behalten. Natürlich wären die deutsche und französische Regierung zufrieden gewesen, ihre Vorstellungen von der EU bereits im Dezember ratifiziert zu sehen. Doch durch das Scheitern, für das ohnehin implizit Polen verantwortlich gemacht wurde („Die Staaten, die bei dem gescheiterten Verfassungsgipfel von Brüssel ihre nationalen Interessen vorangestellt haben“, Schröder), hat man nun die Möglichkeit zu demonstrieren: „Wir können zwar ohne euch, aber ihr nicht ohne uns“.
Über den machtpolitischen Interessengegensatz um die doppelte Mehrheit zwischen dem „neuen“ und dem „alten Europa“ (gerade von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2003 gekürt) darf man aber nicht vergessen, dass sich die Herrschenden Europas in den meisten Punkten einig sind. Das gilt nicht nur für die im Verfassungsentwurf festgeschriebene Aufrüstung und Militarisierung der EU:[4] „Zwar sind die Verhandlungen über eine Verfassung vorerst gescheitert – die Kooperation in der EU-Sicherheitspolitik wird dennoch intensiver werden“.[5] Das gilt ebenso für die Errichtung einer „europäischen Grenzschutzagentur“, welche die Abschottung der EU gegen Flüchtlinge koordinieren soll und die bereits im Sommer beschlossene biometrische Erfassung aller EU-Bürger, sowie neoliberale Wirtschaftspolitik. Auch die weitere Entfernung der Entscheidungsorgane von den Beherrschten, den Bürgern, ist durchaus politisch gewollt. Der Verfassungsentwurf bedeutete nämlich keinesfalls eine Demokratisierung der EU, sondern vergrößert im Gegenteil das bereits eklatante Demokratiedefizit indem die Entscheidungen über noch mehr Politikfelder, wie eben die Außen- und Sicherheitspolitik, auf eine höhere und für die Betroffenen kaum nachvollziehbare Ebene „vergemeinschaftet“ werden. Die Elemente über die sich die Regierungen der EU-Staaten einig sind, sind genau die Punkte, die bei der europäischen Zivilgesellschaft das blanke Grauen hervorrufen müssten. Deshalb regt sich nun langsam Widerstand gegen diese Verfassung.[6] Und in so fern gibt es vielleicht doch einen Grund, sich über das Scheitern des Gipfels zu freuen: Wir haben Zeit gewonnen, Widerstand gegen eine EU zu organisieren, die sich durch Militarisierung und Abschottung, Repression und Demokratieabbau konstituieren will und an der Gestaltung Europas von unten zu beteiligen.
Endnoten
[1] „Kerneuropa á la francaise“ in Junge Welt 17.12.03
[2] belegbar etwa durch folgende Zitate: „Wir können uns dieses Verzetteln nicht leisten. Wir fallen gegenüber den Amerikanern katastrophal ab, nicht nur in der Höhe des Geldes, das wir ausgeben für Wehrtechnik, sondern auch in der Effizienz.“ Michael Rogowski, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie sowie: „Es wird noch viele Jahre dauern, bis die Europäische Union ihre militärischen Defizite überwunden hat“ Verteidigungsminister Peter Struck.
[3] „Kein Kompromiß um jeden Preis“ in FAZ 8.12.03
[4] „Eine Militärverfassung für die Europäische Union – Oder auch die EU ist auf Kriegskurs.“ http://imi-online.de/download/IMI-Analyse-2003-036-EU-Verfass-Pflueger.pdf
[5] „EU koordiniert Rüstung“ http://www.dw-world.de/german/0,3367,1454_A_1063469_1_A,00.html
[6] z.B.: http://www.euverfassung.blogger.de