IMI-Standpunkt 2025/056
Die NATO in der Arktis
Eine „Friedensbotschaft“ von Admiral Giuseppe Cavo Dragone
von: Ben Müller | Veröffentlicht am: 4. November 2025
In der isländischen Hauptstadt Reykjavík wird jedes Jahr im Oktober die „Arctic Circle Assembly“ ausgerichtet, die größte jährlich stattfindende internationale Konferenz zur Arktis. Seit 2022 ist auch regelmäßig der höchste militärische Vertreter der NATO als Redner zu Gast, der diese Gelegenheit traditionell nutzt, um von einer wachsenden Bedrohung durch Russland und China zu sprechen.
Der italienische Admiral Giuseppe Cavo Dragone, der seit Januar den Vorsitz im NATO-Militärausschuss belegt, hatte 2025 seinen ersten Auftritt in diesem Rahmen. Die Videoaufzeichnung1 seines Vortrags zeigt, wie er seine Rede pflichtbewusst vorliest und in der anschließenden Diskussion allen gestellten Fragen elegant ausweicht. Aber wenn er einen Witz einstreuen kann, dann lebt er sichtlich auf.
„Militarisierung“ machen die anderen
Seine Rede beginnt mit schmeichelnden Worten für die unscheinbare Schönheit der Arktis, die durch den wachsenden Einfluss von Macht und Wirtschaft bedroht wird, und sie endet mit einem Appell für umsichtiges Handeln und Zusammenarbeit. Die Arktis befinde sich an einem Scheideweg, ob sie sich in Richtung Wettstreit und Ausbeutung entwickle, wofür Dragone auch die Bezeichnung „Sahara scramble“ verwendet, oder ob es zu internationaler Kooperation mit Sicherheit und Nachhaltigkeit komme.
Russland und China sind laut Dragone die Bedrohung, wobei Russland das Territorium und das Militär bereitstelle, während China mit seinem umfassenden Ehrgeiz für Kapital und Technologie sorge. Ihr gemeinsames Ziel sei es, die allgemeinen Regeln für Zugang und Einfluss zu ihren Gunsten zu verändern und die Rolle des internationalen Rechts zu schwächen. Die NATO stehe dagegen für Freiheit, Demokratie und Sicherheit und verteidige die Freiheit der Schifffahrt und das Recht auf freie Zugänge.
Bereits hier stellt sich die Frage, ob die NATO damit zum Beispiel auch freien Zugang zu den Erdgasvorkommen auf der zu Russland gehörenden Halbinsel Jamal beansprucht. Mit dem Vorwurf, das internationale Recht zu schwächen, meint Dragone wahrscheinlich unterschiedliche Interpretationen des UN-Seerechtsübereinkommens durch Russland (und NATO-Mitglied Kanada) einerseits und die meisten anderen NATO-Staaten andererseits.2 Den Vorwurf könnte man aber zum Beispiel auch an das NATO-Mitglied USA richten, das das Seerechtsübereinkommen bis heute nicht ratifiziert hat.
In seiner Rede erwähnt Dragone auch die Menschen, die in der Arktis leben und für die die Arktis seit Jahrtausenden Heimat ist. Ihnen solle aufmerksam zugehört werden, um ihre Lebensgrundlage und ihre Gemeinschaften zu bewahren. Dabei sagt er aber zum Beispiel nichts über die Haltung der NATO zur Bevölkerung von Grönland, die aktuell mit Annexionsdrohungen aus den USA konfrontiert ist. In der Arktis leben rund vier Millionen Menschen. Etwa die Hälfte davon befindet sich auf dem Gebiet der Russischen Föderation. Möchte Admiral Dragone ihnen auch zuhören?
Am deutlichsten wird Dragone, wenn er die Mission der NATO beschreibt: Die NATO will „andere von einer Militarisierung abhalten“. Dafür müsse die NATO Präsenz und Stärke aufbauen und sich an den Kampf unter arktischen Bedingungen gewöhnen. Er erwähnt auch konkrete Maßnahmen wie die Übung „Joint Viking“ im März 2025 mit 10.000 Soldaten aus neun Ländern oder die Eröffnung des neuen „Combined Air Operations Center“ im norwegischen Bodø. Aber er bezeichnet das nicht als „Militarisierung“. Nur Russland betreibe „Militarisierung“, indem es unter anderem arktische Militärbasen aus Sowjetzeiten wieder in Betrieb nimmt, Raketen und Radarsysteme aufbaut und seine Nordflotte mit Atom-U-Booten in der Arktis stationiert.
Neue NATO-Strukturen in der Arktis
Nach dem Ende des Kalten Kriegs spielte die Arktis im NATO-Bündnis für längere Zeit nur eine untergeordnete Rolle. Aber spätestens 2018 bekam die Region durch das NATO-Großmanöver „Trident Juncture“ und durch die Einrichtung einer neuen Kommandozentrale in Norfolk (Virginia) wieder stärkere Bedeutung für das Bündnis. Das „Joint Force Command“ Norfolk erfüllt dabei die gleichen Aufgaben wie die Kommandozentralen in Brunssum (Niederlande) und Neapel (Italien), konzentriert sich aber geographisch auf die Transport- und Kommunikationswege im Nordatlantik und wird auch für die nordeuropäischen Länder Norwegen, Schweden und Finnland zuständig sein.
Nach dem Beitritt von Finnland und Schweden zur NATO-Allianz entstehen im Norden weitere Bündnis-Strukturen. Admiral Dragone hat bereits das „Combined Air Operations Center“ (CAOC) erwähnt, das vorläufig in Bodø eingerichtet wurde und später zum Sitz des norwegischen Oberkommandos in Raitan umziehen soll.3 Wie die beiden anderen CAOC in Uedem (Deutschland) und Torrejón (Spanien) soll es die NATO-Luftoperationen in seinem Bereich koordinieren und befehligen. Mit dem „Multi-Corps Land Component Command Northwest“ (MCLCC-NW) wurde im finnischen Mikkeli ein ähnliches Kommandozentrum für die nordeuropäischen Landstreitkräfte errichtet.4 In Enköping (Schweden) soll außerdem ein Hauptquartier für die NATO-Logistik in der Region entstehen: das „Joint Logistics Support Group Headquarters“ (JLSG HQ).5
In Finnland wird außerdem eine NATO-Vorwärtspräsenz („Forward Land Forces“) aufgebaut, wie sie bereits in Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien stationiert ist. Dem Bataillon (400-1200 Personen), dessen Kommando von Schweden geführt wird, sollen Soldaten aus Norwegen, Frankreich, Großbritannien, Dänemark, Island und Italien angehören.6 Als Stationierungsorte sind Rovaniemi und Sodankylä im finnischen Lappland vorgesehen. Gegebenenfalls soll es auf Brigade-Stärke (bis 5000 Personen) erweitert werden.
Auch mit Militärübungen ist die NATO immer stärker im Hohen Norden präsent. Geübt wird unter anderem der Umgang mit extremer Kälte und unwirtlicher Landschaft sowie der Transport von Personen und Militärmaterial an die norwegische Küste und von dort weiter in Richtung russischer Grenze. Auch auf See finden regelmäßig NATO-Übungen statt, zum Beispiel die Manöver „Formidable Shield“ und „Dynamic Mongoose“.
„We can achieve or defend peace only if we are strong“
Für Admiral Dragone stellt dieser Ausbau der NATO im Hohen Norden aber keine Militarisierung dar. Anscheinend sind es für ihn lediglich Maßnahmen, die der Stabilität und Sicherheit dienen und vielleicht sogar internationale Kooperation ermöglichen. Wenn es der NATO aber wirklich um internationale Kooperation und Sicherheit ginge, dann müsste sie sich unter anderem dringend für multilaterale Rüstungskontrolle einsetzen. Das letzte Rüstungskontroll-Abkommen „New START“ zwischen den USA und Russland, das die Anzahl von atomaren Sprengköpfen und Trägersystemen begrenzt, läuft im Februar 2026 aus. Danach gibt es kein Abkommen mehr, das ein unkontrolliertes Wettrüsten verhindern könnte.
Es ist schön, wenn Dragone sagt, in der Arktis solle das internationale Recht regieren und nicht das Recht des Stärksten. Aber leider meint er diese Aussage nicht so. Vielmehr meint er: In der Arktis muss die NATO am stärksten werden, damit sie ihr Recht durchsetzen kann, weil nur ihr Recht das richtige ist. Deswegen möchte er die Stärke und Präsenz der NATO in der Arktis ausbauen. Und deswegen sagt er in der Diskussion: „Nur wenn wir stark sind, können wir Frieden erreichen oder verteidigen.“ So entschlüsselt wird seine oberflächlich als „Friedensbotschaft“ erscheinende Rede aber zu einer Kampfansage. Und internationale Kooperation in der Arktis wird dadurch leider noch schwieriger.
Anmerkungen
1 Arctic Circle: NATO in the Arctic, 22.10.2025 youtube.com
2 Vgl. Ben Müller: Streit um die nördlichen Passagen, 20.3.2023 imi-online.de
3 Hilde-Gunn Bye: Norway’s Minister of Defense: The Establishment of the NATO Air Operations Centre Is on Track,18.8.2025 highnorthnews.com
4 Clemens Speer: NATO eröffnet neues Hauptquartier in Finnland, 4.10.2025 suv.report
5 NATO to establish logistics headquarters in Sweden, 21.8.2025 government.se
6 Sweden welcomes Italy’s participation in NATO’s Forward Land Forces in Finland, 24.10.2025 government.se
