IMI-Analyse 2025/03

Rekrutierungsprobleme, Reserve und der Neue Wehrdienst

von: Martin Kirsch und Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 17. März 2025

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Die Bundeswehr steht vor enormen Rekrutierungsproblemen: Obwohl sie ihre personellen Planziele schon seit Jahren deutlich verfehlt, sollen diese allem Anschein nach sogar noch weiter angehoben werden. Abhilfe sollen der neue Wehrdienst und später womöglich die Re-Aktivierung der Wehrpflicht schaffen. Sie sollen nicht nur dazu dienen, zusätzliche Soldat*innen zu rekrutieren, sondern sie sind auch dafür gedacht, die Reserve massiv auszubauen.

NATO-Planziele …

Schon 2019 gab die Bundeswehr angesichts der zunehmenden Konflikte mit Russland das Ziel vor, bis zum Jahr 2025 203.000 aktive Soldat*innen zu haben. Da es ihr allerdings bislang gerade einmal mit Müh und Not gelingt, den aktuellen Bestand von rund 180.000 auch nur stabil zu halten, musste dieses Datum zuerst auf 2027 und dann auf 2031 verschoben werden.

Das alles geschah, bevor die NATO infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine ihre Zielvorgaben mit der Verabschiedung eines ab 2025 gültigen Neuen Streitkräftemodells (New Force Model, NFM) im Juni 2022 massiv erhöhte. Wurden bislang im Rahmen der Schnellen NATO-Eingreiftruppe „nur“ 40.000 Soldat*innen vorgehalten, sieht das NFM nun drei Bereitschaftsgrade vor: 100.000 Soldat*innen sollen innerhalb von nur 10 Tagen in Bewegung gesetzt werden können; bis Tag 30 will die NATO dann in der Lage sein, bis zu 200.000 weitere Truppen hinterherzuschicken; und bis Tag 180 sollen noch einmal 500.000 Soldat*innen mobilisiert werden können.

… und deutsche Beiträge

Bislang hat Deutschland für das neue Streitkräftemodell 35.000 Soldat*innen (v.a. eine Division und die geplante Brigade in Litauen) für die ersten beiden Bereitschaftsgrade und bis 2031 zehn Kampfbrigaden zugesagt – aktuell verfügt die Bundeswehr über acht, eine neunte wird derzeit aufgebaut.

Doch schon länger Pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass der von der NATO geforderte deutsche Beitrag deutlich größer sein dürfte. So berichtete die Welt im Oktober 2024, die NATO sei dabei, ihre Kapazitätsziele („Minimum Capability Requirements“, MCR) anzuheben, zu denen Deutschland knapp 10 Prozent beitrage. Gegenüber bisherigen Planungen wolle das Bündnis künftig insgesamt über 15 Armeekorps (Anstieg um 9), 38 Divisionen (+14), 131 Kampfbrigaden (+49), 1467 bodengebundene Flugabwehreinheiten (+1174) und 104 Hubschrauberverbände (+14) verfügen. Für Deutschland bedeute das u.a. „fünf bis sechs weitere Kampftruppenbrigaden“ mit je rund 5.000 Soldat*innen, zitiert das Blatt aus einem Dokument des Verteidigungsministeriums.[1]

Schon länger wurde zudem über die Aufstellung einer vierten Heeresdivision gemunkelt, außerdem leitet sich aus der für Frühjahr 2025 geplanten neuen „Division für den militärischen Heimatschutz“ („HSchDiv“ abgekürzt) weiterer Personalbedarf ab. Sie soll am 1. April 2025 dem Heer mit zunächst 6.000 Soldat*innen und Reservist*innen unterstellt werden, absehbar aber auf knapp 10.000 anwachsen. Zum Aufgabenprofil der HSchDiv ließ sich der Presse entnehmen: „Im Spannungs- und Verteidigungsfall oder auch bei einer krisenhaften Entwicklung sollen Heimatschutzkräfte Häfen, Bahnanlagen und Güterumschlagplätze schützen, auch Pipelines, Straßen für den Truppenaufmarsch, Brücken, Verkehrsknotenpunkte und digitale Infrastruktur. Sie sollen damit auch die Rolle Deutschlands als Operationsbasis und Drehscheibe der NATO absichern. Im Frieden können die Heimatschützer bei der Amtshilfe – schweren Unglücksfällen, Terrorlagen oder Pandemien – eingesetzt werden.“[2]

Um diese vier oder gar fünf Heeresdivisionen bestücken zu können, müsste die Bundeswehr weit über die bisherigen Planungen hinaus aufgestockt werden. Obwohl jede Bundesregierung auch das Recht hätte, die NATO-Vorgaben abzulehnen, scheint genau dies geplant zu sein. So berichtete Spiegel Online bereits im Sommer 2024, aus „vertraulichen Papieren des Verteidigungsministeriums“ gehe hervor, „dass aktuelle Nato-Planungen ein Ziel von »tendenziell deutlich über 272.000« Soldaten erfordern“ würden.[3] Ganz so weit wollte Verteidigungsminister Boris Pistorius dann doch nicht gehen, allerdings deutete er Ende Dezember 2024 an, ein Aufwuchs auf 230.000 Soldat*innen sei womöglich erforderlich.[4] Gleichzeitig soll die Reserve laut Patrick Sensburg, dem Präsidenten des Reservistenverbandes, massiv ausgebaut werden: „Die Reserve gliedert sich einerseits in die Truppenreserve und die Territoriale Reserve – also alle Reservisten, die auf einem Dienstposten eingeplant (beordert) sind – sowie andererseits in die Allgemeine Reserve. […] Beorderte Reservisten gibt es derzeit ca. 40.000. Dieser Bedarf wächst bis 2027 auf ca. 60.000. Darüber hinaus wird der Bedarf zukünftig auf insgesamt 260.000 beorderte Reservisten ansteigen.“[5]

Wehrdienst, Wehrerfassung, Wehrüberwachung

Ohne drastische Maßnahmen ist eine Umsetzung der Bundeswehr-Personalziele völlig illusorisch. Der im Juni 2024 vorgeschlagene Neue Wehrdienst soll dabei zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Er soll zunächst 5.000, später dann 10.000 zusätzliche Rekrut*innen für eine Dienstzeit zwischen sechs und 23 Monaten generieren. Zusammen mit dem bereits existierenden Freiwilligen Wehrdienst (FWDL) sollen hierüber also jährlich zunächst 15.000 und dann 20.000 neue Rekrut*innen gewonnen werden, die nach dem Ausscheiden aus dem Dienst dann auch noch für mindestens sechs Jahre die Reserve verstärken sollen.

Hierfür sollen im Zuge der „Wehrerfassung“ ab 2025 jährlich alle Jugendlichen beginnend mit dem Jahrgang 2007 angeschrieben werden. Für die rund 300.000 männlichen Jugendlichen ist die Beantwortung Pflicht, für alle anderen freiwillig, wie aus dem Referentenentwurf für das Gesetz zum Neuen Wehrdienst vom Oktober 2024 hervorgeht: „Personen anderen Geschlechts erhalten […] den identischen Fragebogen (Online-Fragebogen nach § 15a WPflG) und sind eingeladen, die Fragen freiwillig zu beantworten und damit ihr Interesse an einem Dienst in der Bundeswehr zu bekunden.“[6]

Abgefragt werden sollen dabei Dinge wie Gesundheitszustand, Sportlichkeit, Ausbildungen, Hobbys, vor allem aber der Grad des Interesses an einem Dienst bei der Bundeswehr. Aus den Interessierten, so die Hoffnung der Bundeswehr, sollen dann die 5.000 und später 10.000 zusätzlichen Wehrdienstleistenden gewonnen werden. Bei einer Verpflichtung von 6 bis 12 Monaten sollen sie als sogenannte „Gewehrträger“ im Heimatschutz und damit wohl vor allem in der neuen Heimatschutzdivision eingesetzt werden. Bei einer Dienstzeit zwischen 12 und 23 Monaten erfolgt eine Ausbildung in anderen Truppenteilen.

Im Zuge der Wehrerfassung will die Bundeswehr nicht zuletzt wieder eine Datenbank mit Informationen von allen jungen Männern aufbauen, um sie im Kriegsfall – und dann womöglich auch diejenigen, die wenig bis keine Bereitschaft für einen Dienst an der Waffe an den Tag gelegt hatten – mobilisieren zu können. Im bereits zitierten Referentenentwurf für das Gesetz zum Neuen Wehrdienst heißt es dazu: „Aktuell verfügt die Bundeswehr nicht über ausreichende Daten darüber, wer im Spannungs- und Verteidigungsfall einberufen und herangezogen werden kann, wie geeignet die Männer sind und welche Qualifikationen sie haben. Dies muss sich ändern. Notwendig ist eine modernisierte Wehrerfassung, um effektiver und zielgerichtet das Potenzial der Wehrpflichtigen sowie der jetzigen und künftigen Reservistinnen und Reservisten zu erfassen. Damit wird eine wesentliche Voraussetzung dafür geschaffen, bei einer Reaktivierung der Wehrpflicht im Spannungs- und Verteidigungsfall unmittelbar auf einen belastbaren Datenbestand und bestehende administrative Strukturen zurückgreifen zu können.“[7]

Dabei geht es auch darum, die Reserve aufzufrischen, die seit der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 deutlich in die Jahre gekommen und dementsprechend auch geschrumpft ist. Um dem entgegenzuwirken, wurde bereits im Oktober 2021 die Grundbeorderung ausscheidender Soldat*innen eingeführt, die dadurch der Reserve für weitere sechs Jahre zur Verfügung stehen müssen und für konkrete Dienstposten eingeplant werden. Das Ziel war es darüber die Zahl von damals 34.000 Reservist*innen deutlich zu erhöhen, allerdings ist eine Teilnahme am aktiven Reservistendienst in Form von Übungen oder auch Einsätzen bis zum konkreten Kriegsfall – bislang zumindest noch – freiwillig. Die Bundeswehr schreibt dazu: „Eingeplant werden alle Ausscheidenden, aber niemand wird gegen ihren oder seinen Willen zu einem Reservistendienst herangezogen. […] Im Bereitschafts-, Spannungs- oder Verteidigungsfalls können Reservistinnen und Reservisten jedoch auch gegen ihren Willen herangezogen werden.“[8]

Diese Regelung wird auch für die neuen Wehrdienstleistenden gelten, weshalb hierüber in einigen Jahren eine erkleckliche Anzahl zusätzlicher Reservist*innen generiert werden soll. Über die „Wehrüberwachung“ soll dann nicht nur der künftig neu hinzukommende Datenbestand aktuell gehalten werden, auch die Informationen über Altgediente sollen auf den neuesten Stand gebracht werden. Hierfür sollen rund 600.000 ehemalige Soldat*innen unter 60 Jahren angeschrieben und dazu aufgefordert werden, sich für einen Posten bei der Reserve zu melden. Die Bundeswehr verspricht sich darüber 100.000 bis 150.000 zusätzliche Reservist*innen.[9]

Aus Sicht der Bundeswehr könnte somit dann durchaus der anvisierte Pool von 260.000 Reservist*innen zusammenkommen – nur stellt sich die mehr als berechtigte Frage, ob die Annahmen des Verteidigungsministeriums realistisch sind.

Vom Wehrdienst zur Wehrpflicht

Tatsächlich sind die Berechnungen des Verteidigungsministeriums mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Sand gebaut: Zunächst einmal erscheint die Annahme, 100.000 ehemalige Soldat*innen wären für eine Reservistentätigkeit bereit, doch überaus optimistisch. Selbst dann wäre es erforderlich, über den Wehrdienst jährlich mindestens 10.000 zusätzliche Rekrut*innen zu gewinnen, um in die Nähe des angestrebten Umfangs für die Reserve zu kommen.

Selbst dadurch wäre die Bundeswehr aber nicht einmal imstande das derzeitige Planziel von 203.000 aktiven Soldat*innen zu erreichen (und schon gar nicht die anderen im Raum stehen Zahlen zwischen 230.000 oder gar 272.000). Die vorgezogenen Neuwahlen haben den Plänen für den neuen Wehrdienst jetzt zunächst einmal ohnehin einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nach dem Urnengang ist aber nicht nur mit der Einführung des Wehrdienstes zu rechnen, sondern auch mit einer zum Beispiel von der Union ohnehin schon lange geforderten vollumfänglichen Re-Aktivierung der Wehrpflicht (nebst Ausweitung auf Frauen und der Einführung einer Allgemeinen Dienstpflicht). Clemens Speer etwa, der Betreiber des militärnahen Blogs Sicherheit & Verteidigung, schreibt: „Auch wenn der ‚Neue Wehrdienst‘ sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung ist, wird uns die Debatte über die Wiedereinführung der Wehrpflicht oder eine allgemeine Dienstpflicht sehr wahrscheinlich in der nächsten Legislaturperiode wieder begegnen. Jetzt vor den Wahlen wird sich keine Partei lautstark dafür aussprechen. Aber die militärische Notwendigkeit ist eigentlich allen bewusst. Ich sehe zumindest keine realistische Option, eine aktive Truppenstärke von 272.000 oder den erforderlichen Verteidigungsumfang von 460.000 Soldatinnen und Soldaten [inkl. Reserve] ohne eine wie auch immer geartete Wehrpflicht oder Dienstpflicht zu erreichen.“[10]

Anmerkungen


[1] Jungholt, Thorsten: Nato fordert 49 weitere Kampftruppen-Brigaden, Die Welt, 6.10.2024.

[2] Bundeswehr stellt neuen Großverband für Heimatschutz auf, n-tv, 11.1.2025.

[3] Bundeswehr will 60.000 ehemalige Soldaten schnell einsatzbereit halten, Spiegel Online, 9.6.2024.

[4] Wiegold, Thomas: Pistorius peilt höhere Bundeswehr-Personalstärke von 230.000 an (Nachtrag), Augengeradeaus, 18.12.2024.

[5] Sensburg, Patrick: Die Reserve in der Europäischen Union, Europäische Sicherheit & Technik, 22.8.2024.

[6] Referentenentwurf des Bundesministeriums der Verteidigung Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung wehrersatzrechtlicher Vorschriften und zur Einführung eines neuen Wehrdienstes, Bearbeitungsstand: 13.10.2024.

[7] Ebd.

[8] Die Grundbeorderung: Schwerpunkt für das Personalmanagement, bundeswehr.de, 12.5.2021.

[9] Neuer Wehrdienst: Verteidigungsminister Boris Pistorius nach Sitzung des Verteidigungsausschusses, phoenix, 12.06.2024

[10] Speer, Clemens: Der neue Wehrdienst erklärt, https://suv.report, 29.12.2024.