IMI-Standpunkt 2025/017

Joseph Fischer und der deutsch-europäische Aufrüstungswahn

von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 5. März 2025

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Stern: Herr Fischer, kann Deutschland führen?
Fischer: Wir werden führen müssen, allein wenn man unser Potenzial, unsere Bevölkerungsgröße und die geopolitische Lage bedenkt…

Zahlreiche Medien berichten aktuell über ein Interview, das der Stern mit dem ehemaligen deutschen Außenminister Joseph „Joschka“ Fischer geführt hat. Nur wenige Tage zuvor hatte der amtierende US-Präsident Trump vor der Weltöffentlichkeit den offenen Bruch mit dem amtierenden Präsidenten der Ukraine, Selenskyj inszeniert und unmittelbar daraufhin die deutsche Kommissionspräsidentin Von der Leyen ein 800 Mrd. schweres Aufrüstungsprogramm für die EU angekündigt. Zugleich wird in Deutschland darüber diskutiert, ob und wie der bereits abgewählte Bundestag die Verfassung noch ändern soll, um ebenfalls die Aufnahme von Schulden in dreistelliger Milliardenhöhe für die weitere Aufrüstung zu ermöglichen. Von einem „Schlafwandeln in den Krieg“ kann auch diesmal keine Rede sein.

Militarismus in Reinform

Joseph Fischer artikuliert gegenüber dem Stern jene militaristischen Forderungen, die von der deutschen Politik-Elite und der Kaste ihrer Expert*innen aktuell diskutiert, selten aber in dieser Vollständigkeit und Kompaktheit erhoben werden: Die Neueinführung der Wehrpflicht, nun „[f]ür beide Geschlechter“ (vermutlich sind alle Geschlechter gemeint), eine drastische Erhöhung des Militärhaushalts, die nukleare Aufrüstung Europas und die Bereitschaft, deutsche Truppen in die Ukraine zu entsenden. Dabei wiederholt er mehrfach eine aktuell gerne bemühte Denkfigur: Dass die Welt oder zumindest „Europa“ von Deutschland eine Führungsrolle erwarte, die man nun endlich bereit sein müsse, einzunehmen: „Das große Deutschland ist unverzichtbar“. Wohlgemerkt: das ist jener Joseph Fischer, der 1999 mit vermeintlichem Antifaschismus dafür warb, dass sich erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg deutsche Truppen an einem Angriffskrieg beteiligten – einem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien.

Auch heute begründet Fischer sein Appell zur Aufrüstung Deutschlands weniger mit Argumenten, denn durch Suggestion, etwa wenn es um die atomare Aufrüstung geht: „Der nukleare Schutzschirm ist die Rückversicherung gegen nukleare Erpressung, wie sie Moskau gerade im Wochenrhythmus mit Europa versucht.“ Das klingt vielleicht im ersten Moment plausibel: Ein „Schutzschirm“ gegen Erpressung. Die tatsächliche „nukleare Erpressung“, die jedoch von Moskau ausgeht, besteht darin, andere Staaten davon abzuhalten, sich unmittelbar bzw. noch unmittelbarer am Ukraine-Krieg zu beteiligen. Diese Erpressung wirkt: Gerade auch gegenüber den Atommächten USA, Frankreich und Großbritannien. Auch wenn deren Schutzschirm „ausgedehnt“ werden sollte, wie Fischer es vorschlägt, würde das nichts an der Tatsache ändern, dass Russland weiter über Atomwaffen verfügt und deshalb nicht angegriffen werden sollte – seine „Erpressung“ also im bisherigen Umfang fortsetzen könnte. Die wesentliche Änderung bestünde darin, dass künftig auch westeuropäische Akteure zu einer solchen „Erpressung“ imstande wären – und natürlich, dass noch mehr Akteure über noch mehr Atomwaffen verfügen und mit deren Einsatz drohen könnten. Ein hervorragender „Schutzschirm“!

Das zugrundeliegende Denken – man sollte vielleicht wirklich von einem zugrundeliegenden Wahnsinn sprechen – entlarvt Fischer gegenüber dem Stern stellvertretend für die politisch-mediale Elite hierzulande, als er die Notwendigkeit begründet, zugleich „am transatlantischen Westen“ festzuhalten: „Sonst schrumpfen wir als Europa auf unsere Randlage im eurasischen Kontinent zurück“.

Selbstüberschätzung „Europas“

Womöglich liegt hierin das oder zumindest ein Kern des Problems, das aktuell die ganze Welt bedroht. Deutschland und viele Eliten in Europa denken „Europa“ größer als es ist – bereits seit Jahrzehnten, Jahrhunderten sogar. Aus seiner faktischen Randlage heraus hat es große Teile der Welt kolonisiert – und in zwei Weltkriege gestürzt. Aus seiner faktischen Randlage heraus wollte es nach der deutschen „Wiedervereinigung“ als „Europäische Union“ auf Augenhöhe mit den USA und später auch China verhandeln, eine „regelbasierte Ordnung“ durchsetzen und sich zum führenden Akteur bei der Bekämpfung des Klimawandels stilisieren.

Stern: Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas forderte eine ’neue Führung für die freie Welt‘. Wer könnte das sein?
Fischer: Tatsächlich nur Europa, aber dies nur, wenn es aufrüstet, den politischen Willen dazu entwickelt und zur – auch militärischen – Macht wird.

Europas Drang, sich und seinen Einfluss auch geografisch auszudehnen, hat eigentlich bereits jetzt eine Schneise der Zerstörung, zumindest unklare Ränder latenter Kriegszustände hervorgebracht: Von der Sahelzone über ein Mittelmeer, wo gemeinsam mit islamistischen Milizen ein Krieg gegen Flüchtlinge geführt wird. Von der eher schweigenden Unterstützung für einen potentiellen Völkermord in Gaza und die völlige Aushebelung des Völkerrechts in der Levante über die ungeklärten Territorialkonflikte im ehemaligen Jugoslawien bis hin zum Krieg in der Ukraine. Selbst in der Ostsee kreuzen mittlerweile NATO-Flotten und bekämpfen einen unsichtbaren Feind: zivile Schiffe, die absichtlich oder unabsichtlich ihre Anker über Tiefseekabel ziehen. Für einiges davon mag man Russland verantwortlich machen, aber nicht für alles (offensichtlich z.B. nicht für die Sprengung der Nord Stream Pipelines). Die Ursachen vieler dieser Konflikte liegen auch an einem Europa, das in seinem Drang nach Ausdehnung und Geltung offenbar unfähig ist, irgendwo Frieden zu schließen.

Herfried Münkler – einer der Vordenker der deutschen Kriegstüchtigkeit – hat selbst vor Jahren darauf hingewiesen, dass solche Randzonen endemischer Konflikte typisch sind für ein Imperium im Niedergang, ein Imperium in Überdehnung. Mittlerweile ist dieser Niedergang bereits so weit fortgeschritten, dass die EU selbst in ihrem Zentrum ihr zentrales Versprechen an ihre Bevölkerung nicht mal mehr im Ansatz aufrecht erhält: An den Außengrenzen Deutschlands, in Zügen zwischen Straßburg und Karlsruhe etwa, werden wieder reguläre Grenzkontrollen durchgeführt. Im Herzen einer EU, die nun gemeinsam Schulden aufnehmen will, um gemeinsam Kriege zu führen, gemeinsam einen nukleare Schutzschirm aufspannen und ausdehnen soll.

Denn auch das gehört zum historischen Hintergrund der Aufrüstungshysterie im Allgemeinen und des Stern-Interviews im Besonderen: Wenige Tage zuvor stand „Europa“ im UN-Sicherheitsrat so alleine da, wie selten. Zur Abstimmung stand eine knappe, von den USA eingebrachte Resolution, die sehr allgemein ein schnelles Ende des Konflikts und einen dauerhaften Frieden zwischen der Ukraine und Russland forderte. Es war die erste Resolution des Sicherheitsrates zur Ukraine seit dem russischen Einmarsch. Sie wurde einstimmig beschlossen – nur die europäischen Mitglieder enthielten sich geschlossen.

„Uns erwartet Chaos“

Ein Imperium im Niedergang, ein Krieg in der Ukraine, den man (alleine) nicht gewinnen kann, aber auch nicht beenden will. Dazu jede Menge wirtschaftliche Probleme und eine massiv zunehmende Spaltung der Gesellschaften. Die einzige Antwort, die darauf im Raum steht, alle Probleme lösen soll, ist die schuldenfinanzierte Aufrüstung. Kein Wunder, dass sich diese Aufrüstung, diese Militarisierung des Denkens vor dem Hintergrund eines europaweiten und massiven Rechtsrucks vollzieht. Etwas absurd erscheint jedoch, dass die Aufrüstung als Rezept auch gegen den Rechtsruck verkauft wird.

Stern: CSU-Chef Markus Söder hat über die künftige, neue Regierung gesagt, sie sei die letzte Patrone der Demokratie…
Fischer: Richtig daran ist, dass die Parteien der Mitte die dramatischen Veränderungen ernst nehmen müssen. Wir müssen unsere Sicherheit endlich auf eigene Verantwortung aufbauen.
Stern: Das wird viel Geld kosten.
Fischer: Koste es, was es wolle. Sicherheit geht vor…

Die Frage, wie ein für „Europa“ akzeptables und zugleich realistisches Szenario zur Beendigung des Ukraine-Krieges aussehen könnte, geht in geradezu hysterischen Aufrüstungsdiskurs fast vollständig unter. Aus dem Interview mit Fischer lassen sich Konturen einer Vision erkennen, in der deutsche Soldaten unter einem europäischen „nuklearen Schutzschirm“ im Donbass stationiert werden, denn, so Fischer: „An der Waffenstillstandslinie wird auch die europäische Sicherheit hängen.“

„Sicherheit“, so wird suggeriert, ließe sich nur durch eine deutsche Führungsrolle gewährleisten und die werde von der Welt erwartet. Der latente Widerspruch einer vermeintlich äußerst prekären Sicherheit einerseits und einem Deutschland innewohnenden Führungsanspruch andererseits fällt gerne unter den Tisch. Beide sollen zugleich durch massive, schuldenfinanzierte Aufrüstung realisiert werden. Um diese zu legitimieren beschwört auch Fischer allein in dem Interview mit dem Stern gleich mehrfach die Figur eines „radikalen Zeitenbruchs“ (quasi die Potentierung der Zeitenwende). Deshalb müsse Deutschland sein „historisch bedingtes Identitätsproblem“ überwinden und endlich (wieder?) bereit sein, Führung zu übernehmen.

Stern: Welche Ordnung wird die alte ersetzen?
Fischer: Uns erwartet Chaos.

PS: Kontinuitäten und Brüche

Sicherlich sind der Ukrainekrieg, das erstarken des (Post-)Faschismus in Europa und die transatlantische Entfremdung – gerade auch vor dem Hintergrund einer sich entfaltenden Klimakatastrophe – Ausdruck einer tiefen und gefährlichen Krise. Gerade jedoch am Beispiel der politischen und anschließenden wirtschaftlichen Karriere des Joseph Fischer lassen sich aus deutscher Perspektive jedoch durchaus auch Kontinuitäten erkennen. Denn so lange war er gar nicht, der Weg des besiegten Deutschlands von der „Wiedervereinigung“ (da wurde nichts vereinigt, was vorher in dieser Form je existiert hatte – sondern ein Staat mit Ostbindung in einen NATO-Staat integriert) bis zum Anspruch einer Führungsrolle durch die Aufnahme von Kriegskrediten. Musste man den Siegermächten 1990 im Zwei-plus-Vier-Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland noch zusichern, sich niemals an einem Angriffskrieg zu beteiligen, verstieß Deutschland hiergegen bereits 1999 an der Seite seiner westlichen Verbündeten – ausgerechnet mit dem Verweis auf Auschwitz. Bereits zuvor hatte man den Zerfall Jugoslawiens durch die schnelle Anerkennung Kroatiens und Sloweniens bewusst vorangetrieben (und bereits dabei gegen den Zwei-plus-Vier-Vertrag verstoßen). 2002 bis 2021 wurde Deutschlands Sicherheit am Hindukusch verteidigt und auf diversen weiteren Kriegsschauplätzen „Verantwortung übernommen“, zugleich die NATO nach Osten erweitert. Nun soll Deutschland die Führung übernehmen, um Europas Sicherheit im Donbass zu verteidigen – gegen das flächengrößte Land der Erde, das nuklear bewaffnete Russland. Historisch ist das konsequent, politisch fatal.