IMI-Analyse 2025/02
Brüchiger Waffenstillstand in Gaza – gibt es Hoffnung?
von: Pablo Flock | Veröffentlicht am: 14. Februar 2025
Am 19. Januar 2025 trat endlich wieder ein Waffenstillstand zwischen der israelischen Regierung und der Hamas in Gaza in Kraft. Einerseits bietet diese erst zweite Feuerpause in dem über 15 Monate dauernden Krieg eine lang ersehnte Erleichterung für die rund zwei Millionen im zerbombten Gazastreifen siechenden Menschen und ein Ende dieses Horrors für die israelischen Geiseln und ihre Familien. Zugleich wären die Absprachen tatsächlich geeignet, das Fundament für einen nachhaltigen Frieden zu bieten. Bisher sind auch alle Gefangenenaustausche erfolgreich und nur mit kürzeren Verzögerungen wegen Unstimmigkeiten zwischen Israel und den bewaffneten Gruppen in Gaza verlaufen und die Hamas kündigte Anfang Februar, also im Zeitplan, an, dass die Verhandlungen über die zweite Phase des Waffenstillstands mit Israel begonnen hätten.[1]
Jedoch scheint eine gütliche Einigung zwischen den Opponenten doch sehr fraglich, seitdem der neue US-Präsident Donald Trump bei einer Pressekonferenz während des Besuchs des israelischen Premierministers Anfang Februar verkündete, dass die USA den Gazastreifen als „Eigentümer“ „besitzen“ und zur „Riviera des Nahen Ostens machen“ wollten – wofür die palästinensische Bevölkerung nach Ägypten oder Jordanien umgesiedelt, also vertrieben würde. Zudem drohen die rechtsextremen Koalitionspartner Netanyahus wiederholt mit dem Platzen der Regierungskoalition und selbst gemäßigte Israelis scheinen das Abkommen teilweise als Niederlage zu interpretieren. Könnten Trumps, über die Abmachungen im Waffenstillstand hinausgehenden, Forderungen einer sofortiger Freilassung aller Geiseln, sowie seine Aneignungspläne ernst gemeint sein und bald (erneut) die „Hölle“ dort ausbrechen?
Diese Äußerungen und die Aussichten auf Frieden und Gerechtigkeit in der Region werden hier gegen Ende diskutiert. Zuerst werden jedoch die drei Phasen der durch Abgesandte der katarischen, ägyptischen und der aktuellen und früheren US-amerikanischen Regierungen vermittelte Feuerpause erklärt, die nach Bekanntwerden am 15. Januar auch schnell begann, nun aktuell jedoch schon wieder in Frage steht.
Drei Phasen des Waffenstillstands
In der ersten, sechs Wochen dauernden Phase sollen nun vorerst 33 israelische Geiseln und über 1000 palästinensische Gefangene freigelassen bzw. ausgetauscht werden, in einem Verhältnis von 1 zu 3 im Falle von Palästinensern mit lebenslangen Haftstrafen, denen überwiegend tödliche Attacken auf Israelis vorgeworfen werden, und 1 zu 27 im Falle von palästinensischen Zivilist*innen. So beziffern es von Zeitungen wie der Times of Israel und dem arabischen Middle East Eye veröffentlichte Abschriften des Deals.[2] Dies begann direkt am Wochenende des Beginns des Waffenstillstands mit der Rückführung von drei verwundeten und kranken israelischen Geiseln und 90 Palästinenserinnen, nach Vertrag eigentlich 110 Kämpfern der bewaffneten Gruppen in Gaza, nach Medienberichten jedoch hauptsächlich Frauen und Kinder.[3] Als nächstes solle Israel 1000 seit dem 8. Oktober 2023 Gefangengenommene freilassen, die nicht am Ausbruch und den Massakern des 7. 2023 Oktobers beteiligt waren, und die Hamas alle männliche Senioren unter den Geiseln und alle vorher Gefangengenommene, sogenannte „Shalit“, im oben genannten Verhältnis gegen palästinensische Gefangene eintauschen. Bis zum 8. Februar 2025 kamen laut Al Jazeera 18 israelische Geiseln und 550 Palästinenser*innen in fünf Runden der Austausche aus ihrer Gefangenschaft frei.[4]
Außerdem sollen sich die israelischen Streitkräfte während dieser Phase auf bis zu 700m von der Grenze Gazas zurückziehen und palästinensische Zivilisten binnen Wochen zurück in ihre – nun eher einem Geröllfeld oder Schutthaufen gleichende – Heimat im Norden Gazas zurückkehren dürfen. Bei der Durchquerung des den Norden Gazas abtrennenden, während des Kriegs von Israel errichtete Netzarim-Korridors mit Autos und anderen Fahrzeugen sollen die Rückkehrenden Berichten zufolge durch US-amerikanische und ägyptische Sicherheitsfirmen auf Waffen kontrolliert werden.[5] Der 12km breite Philadelphi-Korridor, der Gaza und Ägypten trennt, bleibt vom israelischen Rückzug ausgenommen. Sobald alle weiblichen Geiseln nach Israel zurückgekehrt seien, dürfen verwundete und kranke Palästinenser*innen über den Grenzübergang von Rafah zur Behandlung nach Ägypten reisen, was ebenso schon begonnen hat. Sogar bis zu 50 verwundete palästinensische Kämpfer dürfen pro Tag, nach Billigung Israels und Ägyptens, zur Behandlung ausreisen.
Während dieser Gefangenentausche und des Rückzugs müssen auch die Details für spätere Phasen des Waffenstillstands ausgehandelt werden, bevor diese in Kraft treten können. Klar ist schon, dass die zweite Phase die Rückführung aller israelischer Geiseln und den vollständigen Rückzug der israelischen Armee beinhalten soll. In der letzten Phase soll dann diskutiert werden, wie Gaza in Zukunft regiert werden soll, die letzten leiblichen Überreste israelischer Soldaten zurückkehren und zusammen mit internationalen Partnern ein Wiederaufbauplan für Gaza ausgehandelt werden. Die Palästinensische Autonomiebehörde hat schon Interesse an der Verwaltung des Gazastreifens angemeldet und die Hamas ihre Machterhalt nicht zur Voraussetzung gemacht. Dass diese letzten beiden Phasen tatsächlich realisiert – und selbst nur die erste komplett abgeschlossen – werden, ist natürlich alles andere als garantiert.
Netanyahus Betonung in verschiedenen Reden und Interviews, dass sowohl der zu Abkommensabschluss noch amtierende US-Präsident Joseph Biden, als auch der mittlerweile inaugurierte Präsident Donald Trump zugesichert hätten, dass dies nur eine temporäre Feuerpause sei, und Israel stets zur Kriegführung zurückkehren könne, deuten wohl in eine andere Richtung.[6]
Nur ein kurzer Waffenstillstand vor 13 Monaten
Der Waffenstillstand ist in jedem Falle, selbst wenn er ggf. nicht zu einer dauerhaften Waffenruhe oder Frieden führt oder das auch nicht einmal intendiert wäre, wichtig und lange überfällig. Bisher gab es nur sechs Wochen nach Beginn des Krieges eine kurze einwöchige Feuerpause Ende November 2023. Seitdem war der größtenteils mehrfach vertriebenen, in Zelten frierenden und weggeschwemmten, auch in humanitären Zonen bombardierten und im Norden ausgehungerten Bevölkerung Gazas kein Moment des Aufatmens, der kurzen Sicherheit gegönnt.
Während dieses ersten kurzen Waffenstillstands wurden 110 von den insgesamt 237 in den Gazastreifen verschleppten Geiseln freigelassen. Im Gegenzug entließ Israel damals insgesamt 290 von 350 zur Entlassung freigegebenen palästinensischen Gefangenen. Jedoch hatte Israel allein in der Woche dieses Waffenstillstands, wie Al Jazeera schreibt, schon wieder „ungefähr die selbe Anzahl in der Westbank und Ostjerusalem festgenommen.“[7]
Spezielle Arithmetik israelisch-palästinensischer Gefangenentausche
Gerade unter mit der Thematik nicht so sehr befassten Nachrichten-Leser*innen, aber auch bei skandalisierenden Medienschaffenden, begegnet man immer wieder Unverständnis für die Verhältnisse, in denen palästinensische und israelische Gefangene ausgetauscht werden. Denn, wie wir sehen, bewegen sich diese zwischen einer israelischen Person gegen drei Palästinenser*innen in Zeiten großer Bedrängnis der palästinensischen bewaffneten Gruppen, Hamas, PFLP, etc., wie im gerade erläuterten ersten Waffenstillstand dieses Kriegs, hin zu 30 Palästinenser*innen für eine israelische Geisel in Zeiten großen israelischen Interesses.
Dieses Verhältnis ist im Interesse sowohl vonseiten der Hamas, die sich als effektive Verhandlungsmacht und „Befreierin“ – und somit durch die Geiselnahmen trotz ihrer militärtechnischen Unterlegenheit überhaupt als handlungsfähig inszenieren kann, als auch der israelischen Regierung, die inszenieren kann, wie viele palästinensische Leben ihr ein israelisches angeblich Wert sei – obwohl sie den Krieg in die Länge zog und Geiseln dabei tötete – und damit auch Vorstellungen von Höherwertigkeit unterfüttert. Andererseits ist es natürlich auch einfach nur Produkt der Realität, dass Israel als Besatzungsmacht viel mehr „Gefangene“ nehmen kann – was sich nicht nur an den 1000 seit dem 8. Oktober 2023 Gefangengenommenen zeigt, sondern auch an den laut der palästinensischen Prisoner Support and Human Rights Association Addameer 10.400 politischen Gefangenen, darunter 3.376 ohne Anklage Festgehaltene und 320 Kinder[8] sowie 5 palästinensische Abgeordnete der Selbstverwaltung (Stand am 07.01.2025, also vor den aktuellen Freilassungen).[9] Angesichts dieser großen Zahl von Häftlingen ohne Anklage und mit meist nur geheimen (vorgeschobenen?) Indizien und Klagen, muss man sich auch fragen, inwieweit das sprachliche Framing von „Geiseln“ gegen „Gefangene“ der Wirklichkeit entspricht. Nicht nur sind unter den am 7. Oktober verschleppten „Geiseln“ auch viele Angehörige der Streitkräfte, die streng genommen als Kriegsgefangene und nicht kriminell verschleppte Zivilist*innen gelten sollten, es sind eben auch viele Zivilist*innen unter den sogenannten „Gefangenen“ Israels.
Gerade bei prominenten Persönlichkeiten wie der nun freigelassenen Khalida Jarrar, Politikerin und Expräsidentin der erwähnten Gefangenen- und Menschenrechtsorganisation Addameer, die nun ebenfalls für Monate ohne Anklage in Isolationshaft festgehalten wurde, lassen sich eben nicht nur Vorwürfe wie Kollektivbestrafungen, sondern auch staatlicher Geiselnahme machen. Und auch wenn die israelischen Geiseln in den zwei Phasen des Waffenstillstands hoffentlich alle freikommen, wird die Gefahr für die Palästinenser*innen, willkürlich oder aus Repression verschleppt und eingesperrt zu werden, vermutlich nicht vorbei sein.
Der regionale Krieg macht nur eine lokale Pause
Und selbst wenn sich der Waffenstillstand in eine nachhaltige Waffenruhe in Gaza übersetzen ließe, zeigt Israels vermehrte Gewalt gegenüber dem Westjordanland und ihr Bruch des Waffenstillstands im Libanon sowie die Besetzung von Teilen Syriens, dass der regionale Krieg keineswegs als beendet gesehen wird. Die beständige Erweiterung des Gebiets, inklusive der Zerstörung der Dörfer und Städte in Grenzgebieten, gehört zudem weiterhin zu jeder Front und Kampfphase der israelischen Inanspruchnahme ihres „Rechts auf Selbstverteidigung“.
So weigert sich Israel bisher, dem Waffenstillstandsabkommen mit dem Libanon zu entsprechen und seine Truppen abzuziehen, wo die israelische Armee (IDF) zuvor auch schon das Kriegsverbrechen des Angriffs auf UN-Truppen der UNIFIL Mission begangen hatte. Als am Sonntag, 25. Januar 2025, an dem die Bewohnenden der besetzten Dörfer eigentlich zurückkehren durften und dies tun wollten, tötete die IDF 22 Personen, darunter hauptsächlich Zivilist*innen und ein Soldat der libanesischen Armee. Letzteres birgt Brisanz, da die israelische Armee ihren Verbleib und Bruch des Waffenstillstandsabkommens mit dem fehlenden Einzug der libanesischen Armee begründete, die dem Vertrag zufolge ein Erstarken der Hisbollah in der Gegend verhindern soll. Die libanesische Armee jedoch behauptet, Israel verzögere den Abzug.[10] Auch wenn einige der Zurückkehrenden Flaggen der Hisbollah trugen – die ja auch eine politische Partei im Libanon ist, sind sie trotzdem Zivilisten. Fürs Erste gab Trump mal wieder seinen Segen: der Waffenstillstandsvertrag während dem Israel die Teile Libanons, in dem es teilweise ganze Dörfer gesprengt hat, weiter besetzt halten darf, soll bis zum 18. Februar 2025 verlängert werden.[11]
Ähnlich in Syrien: So war Israels Armee bereits im November 2024 in die eigentlich demilitarisierte Zone nördlich der schon illegal besetzten bzw. annektierten Golanhöhen Syriens eingedrungen und hatte damit das Waffenstillstandsabkommen von 1973 gebrochen. Daraufhin besetzte es, nach dem Sturz Assads – den es selbst durch hunderte, ebenfalls völkerrechtwidrige Luftangriffe auf die syrische Luftwaffe und andere Infrastruktur mitherbeigeführt hatte – auch noch den Rest der Golanhöhen. Die dortige Bevölkerung wurde teilweise daran gehindert, ihrem normalen oder wirtschaftlichen Leben wie der Landwirtschaft nachzugehen.[12]
Direkt nachdem der Waffenstillstand in Gaza in Kraft trat, intensivierte Israel die militärischen Schläge auf Ziele im Westjordanland, besonders in Jenin, dem sogenannten Geflüchtetenlager, wo sich aus den von Israel besetzten Gebieten vertriebene Palästinenser*innen ansiedelten und wo seit dem Angriff auf Gaza paramilitärische Gruppen aus Solidarität mit den Menschen in Gaza Angriffe auf Israel verübten. Zuvor war seit Dezember 2024 besonders die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) selbst gegen diese Gruppen vorgegangen. Nachdem Israel jedoch über 20 Gebäude in der Stadt sprengte – die zuerst als Infrastruktur der Terroristen benannt wurden, nach Insiderberichten jedoch einfach breiteren Straßen für Militärfahrzeuge Platz machen sollte[13] – bat nun am 2. Februar 2025 der Präsident der PA den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, sich in einer Notfallsitzung mit dem Krieg Israels gegen die palästinensische Bevölkerung im Norden des Westjordanlands zu befassen.[14] Unterfüttert wird diese Forderung durch eine Veröffentlichung des Büros des Hochkommissars für Menschenrechte der UN selbst vom Ende Januar. Diese kritisiert neben den verschiedenen menschenrechtlichen Themen das Zusammenfallen der staatlichen Gewalt im besetzten Westjordanland „mit einer beispiellosen Ausweitung der Siedlungen, bewaffneter Siedlergewalt, Vertreibung, Entvölkerung und Landbeschlagnahmung durch den Staat Israel“ sowie durch Siedlermilizen. Schockierend hierbei ist nicht nur die seit Langem größte Vertreibung von über 90% der rund 20.000 Menschen, die in Jenin lebten. Beispielsweise wurden in zwei Jahren seit Januar 2023 auch fast so viele palästinensische Kinder (224) durch die IDF und Siedlergewalt getötet, wie in den 18 Jahren seit Beginn der Zählung durch OCHA im Jahr 2005 zuvor.[15]
Verbot humanitärer Hilfe – und Überwindung des Völkerrechts
Das Verbot der Sonderorganisation der Vereinten Nationen für Palästinensische Geflüchtete (UNRWA), das Ende Januar 2025 in Kraft getreten ist, wird von Vielen ebenso als ein Angriff auf die gesamte palästinensische Zivilbevölkerung gesehen. Die Organisation stemmt nicht nur den Löwenanteil der humanitären Hilfe für die verbleibenden rund 2 Millionen größtenteils obdachlosen Menschen im Gazastreifen. Sie betreibt fast alle Schulen, Krankenhäuser und Gesundheitszentren im Westjordanland, in denen Palästinenser*innen kostenlosen Zugang zu Bildung und Krankheitsversorgung bekommen können, sowie Müllabfuhren etc.[16] Israel verbot die Organisation im Herbst 2023 wegen vorgeblicher Teilnahme von über 1.000 Mitarbeitern am Angriff und Terror der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen auf Israel am 7. Oktober 2023. Eine Untersuchung der UN, die auch Materialien der israelischen Regierung verwendete, konnte zwar keine Belege dafür finden, dass Mitarbeiter wirklich daran beteiligt waren. Es wurden jedoch neun Mitarbeiter*innen entlassen, bei denen eine Beteiligung nicht ausgeschlossen werden konnte.[17] Auch die Vorwürfe Israels, man habe von der Hamas gebaute Tunnel unter den Liegenschaften der Organisation gefunden, wies die Organisation damit zurück, dass stets wenn sie solche entdeckt hätten, diese mit Beton gefüllt und gemeldet hätten.
Trotzdem ist das Verbot der Betätigung in israelischem und besetztem Gebiet nun in Kraft. Israelische Behörden dürfen nicht mehr mit der Organisation kooperieren (oder sich auch nur koordinieren) und im besetzten Ostjerusalem darf sie nicht mehr agieren. Wer die Aufgaben nun übernehmen soll, ist unklar. Israel wünscht sich, dass andere UN-Organisationen dies nun erledigen. Doch das ARD zitiert den deutschen, bisherigen Chef der UNRWA im Westjordanland, dessen Arbeitsvisum nun auch beendet ist und der nicht glaubt, „dass die Aufgaben des Palästina-Flüchtlingshilfswerkes so ohne weiteres von anderen übernommen werden können. UNRWA sei die einzige UN-Organisation, die direkte Dienstleistungen erbringt. Es gebe auch keine andere UN-Organisation, die wie die UNRWA vor Ort sei, die nötige Zahl von Mitarbeitern und Liegenschaften habe – und das Vertrauen und den Zugang zur Bevölkerung.“[18]
In der von der von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) publizierten Zeitschrift Internationale Politik und Gesellschaft argumentiert der Referent der FES für die Region mit Verweis auf ein Paper des PRIO Middle East Centers, dass wohl Teile der UNRWA nun versuchen würden durch „Re-Labeling“, also „Umetikettieren“ durch die Verwendung von Logos und Briefköpfen anderer UN-Organisationen, weiter Hilfe zu leisten. Die Ermöglichung von humanitärer Hilfe für Gaza sei durch das Verbot so erschwert worden, dass keine ausreichende Verbesserung der Lage durch das Waffenstillstandsabkommen erwartet werden könne.[19]
Im eher für konservative US-Außenpolitik bekannte Foreign Policy Magazin wird das Verbot der UNRWA, trotz der schwerwiegenden wohl kurzfristigen Verschlimmerung der humanitären Lage hauptsächlich als Angriff auf den Geflüchtetenstatus und das Rückkehrrecht gewertet und somit auch auf die Zweistaatenlösung, da Israel so völkerrechtswidrig gehaltenes Territorium behalten möchte.[20]
Rolle der US-Präsidenten und Rezeption des Deals
Es sei darauf hingewiesen, dass nicht nur die oben genannten, anhaltenden Angriffe auf für die palästinensische Bevölkerung essentielle Infrastruktur, weitere Enteignung und Bekämpfung der arabischen Nachbarn auf eine eher kurze Feuerpause hinweisen. Die israelische Regierung kann sich derweil durch die Befreiung eines großen Teils der Geiseln von einem großen Teil des inneren Drucks nach Verhandlungen und einem Ende des Krieges befreien.
Sowohl der scheidende wie auch der neue Präsident der Vereinigten Staaten hatten die Waffenstillstandsverhandlungen auch genutzt, um sich selbst zu profilieren.
Für nun Expräsident Joseph Biden war der Abschluss eines längeren Waffenstillstands nach 15 Monaten der Zerstörung Gazas durch Israel wahrscheinlich nicht nur wichtig, um sich mit dem Bild eines Friedens-Präsidenten verabschieden und sich von der durchgängigen Unterstützung dieses für Zivilisten verhältnismäßig tödlichsten Kriegs seit Dekaden (dem Genozid in Darfur 2003) scheinbar rein zu waschen. Man hat doch auch allen Grund zu glauben, dass er diesen Konflikt dem erratischen, sich an keinerlei verfassungsmäßige oder völkerrechtliche Regeln haltenden Trump in einer möglichst friedlichen Form hinterlassen wollte, damit die Vermächtnisse und Verantwortungen der beiden Präsidenten im Falle von erneuter Eskalation und noch schlimmeren Verbrechen gegen die Menschlichkeit auseinandergehalten werden können.
Ob einer der beiden Präsidenten bzw. ihrer Gesandten wirklich den durchschlagenden Einfluss für das Gelingen der Verhandlungen hatte, können wir aus der Ferne wahrscheinlich erst später beurteilen. Sicher ist jedoch, dass Donald Trumps lautstarkes Sich-auf-die-Fahne-Schreiben des Deals viele überzeugte, dass er dies nun schon vor Amtsantritt geschafft habe. Dabei waren Trumps Äußerungen stets von maximaler Unterstützung Israels und sogar dessen völkerrechtswidrigen Expansionismus über die palästinensischen Gebiete und darüber hinaus geprägt. Und zu Trumps ersten Regierungshandlungen bzw. Dekreten gehörte auch direkt das Lockern bzw. Aufheben einiger Sanktionen gegen rechts-extreme israelische Siedler, die (zumindest in ihrem Land) straffrei nach Angriffen auf Palästinenser blieben. Die Autorisierung weiterer Waffenexporte nach Israel im Wert von rund 7,4 Milliarden Dollar, darunter auch Hellfire Raketen und 2000-Pfund-Bomben, deren Export Biden in den letzten Monaten wegen humanitären Befürchtungen ausgesetzt hatte,[21] sowie seine Drohungen, die Hölle in Gaza ausbrechen zu lassen, wenn die Hamas nicht sofort alle Geiseln frei lasse, zeigen, dass Trump nicht wirklich an den späteren Phasen des Waffenstillstands interessiert ist.
Es ist somit höchst fraglich, ob Trump wirklich so federführend bei diesem Deal war, wie er es behauptet. Immerhin wurde der Waffenstillstand nicht nur von den rechtsextremen Parteien in Israels Regierung für so desaströs gehalten, dass Ben Gvir und seine Jewish Power Partei die Koalition verließen und Finanzminister Bezalel Smotrich und seine Religious Zionism Partei mit einem Bruch mit der Koalition drohen, sollte der Krieg in Gaza nicht zumindest nach der ersten Phase wieder aufgenommen werden. Sogar gemäßigte Konservative, die Netanyahus Koalition mit den Rechtsextremen verurteilen, kommentierten: „Zum ersten Mal hat Israel gerade einen Krieg verloren“.[22] Zwar ist dieser Beitrag sehr fixiert auf die Verluste Israels – neben über 400 getöteten Soldaten auch besonders den wirtschaftlichen und finanziellen Schaden – und blendet die Verluste der Palästinenser*innen sowie israelische Kriegsverbrechen, Völkerrechtsbrüche und Verbrechen gegen die Menschlichkeit komplett aus. Doch bietet er einen Einblick in die israelische Gesellschaft, wo der Abschluss der Verhandlungen im Gegensatz zu Gaza und der Westbank kaum gefeiert wurde. Bei der Gegenseite, den Palästinenser*innen und ihren Unterstützern, scheint sich jedoch (soweit das in Anbetracht der zehn- bis hunderttausenden getöteten, überwiegend zivilen Palästinenser*innen geht) ein ähnliches Verständnis abzuzeichnen, wie beispielsweise ein Artikel bei MiddleEastEye von David Hearst zeigt, der mit „Nach 15 Monaten Brutalität hat Israel an jeder Front verloren“ überschrieben ist.[23] Besonders der Erhalt der territorialen Integrität Gazas, also keine Abspaltung des Teils nördlich des Netzarim-Korridors, und die Rückkehr der Bevölkerung dorthin, sowie der militärische Abzug Israels können durchaus als Erfolge der palästinensischen Verhandlungsführung gelten – auch wenn sie eigentlich größtenteils nur die Bestätigung völkerrechtlich garantierter Rechte sind. Die Waffen, mit denen dies erstritten wurde, waren jedoch hauptsächlich nur die Geduld und Leidensfähigkeit der bewaffneten Gruppen Gazas und der Bevölkerung. Denn die Grundrisse des Deals scheinen sich seit spätestens August 2024 kaum noch verändert zu haben, wie eine Darstellung der ARD von damals zeigt.[24]
Zweistaatenlösung oder eher rechtsradikale Verschleppung und Genozid
Die geplanten Phasen auf der Basis des aktuellen Waffenstillstands würden die rechten und rechtsradikalen Israelis, die ihre Hoffnung auf Trump setzten und zumindest nach den Wahlergebnissen und der Knessetbesetzung über 50% der Bevölkerung auszumachen scheinen, also kaum befriedigen. Kein Wunder folglich, dass Trump ihn auch immer wieder in Frage stellt: „er sei nicht sicher, dass es der Waffenstillstand in die nächste Phase schaffe.“ Trotzdem versichert Trumps Abgesandter für die Region, Steve Witkoff, ihm sei aufgetragen worden, den Übergang in die nächste Phase zu schaffen.[25] Wie passt das jedoch mit Trumps provokanten Äußerungen zusammen, an der Küste Gazas eine neue Riviera für „die Leute [er meint Superreiche] der Welt“ zu schaffen?
Natürlich garantiert uns nichts, dass der wenig berechenbare Trump diesen Plan – den sein Schwiegersohn, Jared Kushner, übrigens schon vor einem Jahr, am 15. Februar 2024, andeutete – nicht doch noch wirklich umsetzt, nachdem er Jordanien und Ägypten, sowie die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien mit anderen Druckmitteln zur Kooperation zwingen könnte. Doch mag man vielleicht auch Hoffnung aus der Interpretation ausgerechnet einer konservativen israelischen Zeitung, der Jerusalem Post, ziehen, die Trumps Plan für einerseits unrealisierbar und andererseits besonders für eine Verhandlungsfinte hält, die die umliegenden Staaten unter Druck setzen soll, mehr Engagement und Kooperationswille für eine nachhaltige Lösung aufzubringen.[26] Diese könnten abgesehen von Geldern für Wiederaufbau und Sicherheitskräften für Pufferzonen o.ä. besonders auch die Einbürgerung der Nachkommen palästinensischer Geflüchteter, die Israel nicht zurückkehren lassen will, bieten. Nach Angaben der New York Times haben Jordanien und Ägypten seitdem auch schon erste Vorschläge für den Wiederaufbau Gazas, mit Verbleib der Bevölkerung, und die Aufnahme kranker Kinder eingebracht.[27]
Sollte es nun wirklich zu Verhandlungen um eine Zweistaatenlösung mit der territorialen Integrität zumindest Gazas kommen, wird Israel vor allem vom besetzten Ostjerusalem und den mit israelischen Siedlern besiedelten (besonders fruchtbaren und flachen) C-Gegenden des Westjordanlands mehr abhaben wollen, als es ihm völkerrechtlich zusteht. Doch (fast) jeder Staatsumriss eines freien Palästinas wäre für die Bevölkerung (wahrscheinlich aller Religionszugehörigkeiten in der Gegend) besser als die aktuelle Lage zwischen Krieg, Unterdrückung und Entbehrung.
Aktuell verzögert die Hamas jedoch den Austausch weiterer Gefangener/Geiseln aus Protest gegen die offensichtlich trotzdem weitergehenden Angriffe Israels auf das Gebiet[28] und eine beklagte Behinderung der humanitären Hilfe. Laut der Tageszeitung junge Welt geht es dabei u.a. um eine Lieferung von „60.000 mobile[n] Häuser[n] und 200.000 Zelte[n].“[29] Während die dafür zuständige Einheit der israelischen Armee dies dementierte, bestätigten gegenüber der New York Times mehrere israelische Unterhändler und Offizielle die Anschuldigung, die vereinbarten Unterkünfte nicht durchgelassen zu haben.[30] Dessen ungeachtet fordert Trump nun ‚alles‘ von den Hamas, also die Freilassung aller Geiseln ohne irgendwelche Zugeständnisse, und nichts von Israel.
Das könnte seine Art des Anfangs von Verhandlungen um tatsächliche zukünftige Lösungen sein, oder das Ende des Waffenstillstands und der Startschuss für eine tatsächliche ethnische Säuberung oder eine Verschlimmerung des mutmaßlichen Genozids.
Die noch-aktuelle deutsche Regierung unter Kanzler Olaf Scholz und Außenministerin Anna-Lena Baerbock wird wohl, trotz des jüngsten Bekenntnisses zum Völkerrecht in Anbetracht von Trumps schamlosen Aneignungs-Äußerungen, kaum noch Gestaltungs- oder Vermittlungspositionen bei der Lösung einnehmen werden. Schließlich bestand auch der bisherige Beitrag aus dem Mittragen aller US-Entscheidungen – und natürlich dem Liefern von Waffen („wir haben Waffen gesendet und wir werden Waffen senden“ – Olaf Scholz). 99% der Kriegsgüter, die Israel zwischen 2019 und 2023 importierte, kamen von den USA (69%) und Deutschland (30%).[31]
Zudem zeichnet sich mit der Einstellung der deutschen Finanzierung für israelische NGOs, die sich gegen militärische Lösungen von Seiten Israels und für die völkerrechtlichen Rechte der Palästinenser*innen einsetzen, auch eine Abkehr Deutschlands von diesen Werten ab. In die Reihe von zwischen acht bis 15 solchen Defundings seit Oktober 2023 reihten sich kürzlich die israelische NGO Zochorot, die für das Rückkehrrecht von während der Nakba vertriebenen Palästinenser*innen einsetzt, sowie die Kriegsdienstverweigerungs-Unterstützung von New Profile ein. Beide verloren zwischen 30-50% ihres Budgets durch den Entzug deutscher Gelder.[32]
Leider zeichnet sich jedoch auch keine realistische Regierungskoalition in Deutschland ab, die Israel im Falle von erneuten Völkerrechtsbrüchen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hier einen Riegel vorschieben und auf Menschenrechte und Völkerrecht festnageln würde.
Anmerkungen
[1] Nidal Al Mughrabi und James Mckenzie: Hamas says talks start on second phase of ceasefire deal. reuters.com 4.2.2025
[2] Text of the hostage-ceasefire agreement reached between Israel and Hamas. timesofisrael.com 16.1.2025;
Israel-Gaza ceasefire: Full text of agreement. middleeasteye.net 15.1.2025 (mit Grafiken)
[3] Kim Hjelmgaard: ‚Wave of relief and joy‘: Four female Israeli hostages released by Hamas in prisoner swap. eu.usatoday.com 25.1.2025
[4] Hamas and Israel carry out fifth prisoner swap under Gaza ceasefire deal. aljazeera.com 8.2.2025
[5] US-Söldner laut Berichten bald in Gaza stationiert. jungewelt.de 25.1.2025
[6] Dave DeCamp: Netanyahu says that US gave guarantee that he can restart military operations in Gaza. news.antiwar.com 19.1.2025
[7] The Israel-Hamas truce has ended: What we know so far. aljazeera.com 1.12.2023
[8] Siehe auch: Why are there so many Palestinian children in Israeli prisons? aljazeera.com 26.1.2025
[9] Übersicht der Gefangenen bei ADDAMEER: https://www.addameer.org/statistics (abgerufen 30.01.2025)
[10] Laila Bassam und Alexander Cornwell: Israeli forces kill 22 people in South Lebanon as residents try to return, Lebanese authorities say. reuters.com 27.1.2025
[11] Hicham Safieddine: How Lebanon’s surprise marches of return have snatched victory from Israel. middleeasteye.net 4.2.2025
[12] Villagers in Syria border town claim IDF preventing them from accessing their fields. timesofisrael.com 20.12.2024
[13] Yaniv Kubovic: IDF razes homes in West Banks Jenin to ease troops movement through the camp. haaretz.com 2.2.2025
[14] PA’s Abbas calls for emergency UN Security Council meeting on IDF West Bank op. timesofisrael.com 2.2.2025
[15] ‘No end in sight’: Israeli forces attack occupied West Bank as Gaza ceasefire takes hold, say experts. ohchr.org 27.1.2025; Humanitarian Update #262 Westbank. unocha.org 6.2.2025
[16] Isabel Debre: Fear hits East Jerusalem as Israels moves to close UN Palestinian refugee agency. apnews.com 29.1.2025
[17] UN completes investigation in UNRWA staff. news.un.org 5.8.2024
[18] Was wird aus der Palästinenserhilfe? tagesschau.de 30.01.2025
[19] Konstantin Witschel: Ohne Vison. ipg-journal.de 28.1.2025
[20] Anchal Vohra: The real reason Israel wants to ban UNRWA. foreignpolicy.com 21.11.2025
[21] Trump genehmigt Waffenlieferungen an Israel für 7,4 Milliarden – und brüskiert US-Kongress. welt.de 8.2.2025
[22] David K. Rees: For the first time Israel just lost a war. blogs.timesofisrael.com 15.1.2025
[23] David Hearst: Gaza ceasefire: After 15 months of brutality, Israel has failed on every front. middleeasteye.net 15.1.2025
[24] Jan-Christoph Kitzler: Was einer Waffenruhe im Weg steht. tagesschau.de 20.8.2024
[25] Witkoff says Trump directed him to get Gaza ceasefire to next phase. middleeasteye.net 22.1.2025
[26] Alex Winston: Trump‘s Gaza plan isn‘t meant to work, but that‘s the point – comment. jpost.com 5.2.2025
[27] Lara Jakes, Patrick Kingsley u.a.: Gaza cease-fire imperiled as Netanyahu threatens to resume ‘intense fighting‘. nytimes.com 11.2.2025
[28] Liveblog: Israel kills four Palestinians in Gaza bespite ceasefire. trtworld.com 9.2.2025; Zuvor auch schon: Hosni Nedim: Israel kills two Palestinians despite ceasefire. aa.com.tr 23.01.2025
[29] Knut Mellenthin: Trump droht der Hamas. jungewelt.de 12.2.2025
[30] Lara Jakes, Patrick Kingsley u.a.: Gaza cease-fire imperiled as Netanyahu threatens to resume ‘intense fighting‘. nytimes.com 11.2.2025
[31] Andreas Noll: War in Gaza: Germany supplies 30% of Israel’s arms imports. dw.com 19.7.2024
[32] Naomi Conrad, Birgitta Schülke: Germany defunds 2 Israeli human rights groups. dw.com 5.1.2025