IMI-Analyse 2024/46
Der Atomwaffenverbotsvertrag
Deutschlands Position im internationalen Kontext
von: Juliane Hauschulz & Aicha Kheinette (ICAN Deutschland) | Veröffentlicht am: 28. November 2024
Dieser Beitrag ist Teil des Schwerpunkts „Atomwaffen“ in der in Kürze erscheinenden Dezember-Ausgabe des IMI-Magazins AUSDRUCK.
Der jüngste Friedensnobelpreis 2024 für die japanische Organisation Nihon Hidankyo, die Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, unterstreicht die Dringlichkeit der atomaren Abrüstung. Die Hibakusha haben mit ihren erschütternden Zeugnissen maßgeblich dazu beigetragen, die internationale Ächtung von Atomwaffen voranzutreiben. Und sie waren mit die ersten, die einen internationalen Verbotsvertrag forderten.[1] Dieser Wunsch wurde erfüllt.
Denn Atomwaffen sind verboten. Als 2021 in Kraft getretenes UN-Abkommen verbietet der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) unter anderem den Besitz, die Herstellung und den Einsatz von Atomwaffen. Er ergänzt damit bestehendes Völkerrecht und etabliert ein explizites Verbot dieser Klasse von Massenvernichtungswaffen, wie es auch für chemische und biologische Waffen besteht.[2] Der AVV wurde von zahlreichen Staaten unterzeichnet, aktuell sind es 94 Unterschriften, 73 Staaten haben ihn bereits ratifiziert (Stand: Oktober 2024).[3]
Und der Vertrag gewinnt auf globaler Ebene zunehmend an Bedeutung und Unterstützung. Zuletzt kamen die Ratifizierungen Indonesiens, Sierra Leones und der Salomonen hinzu. Indonesien, der bevölkerungsreichste Nichtatomwaffenstaat der Welt, sendete mit diesem Schritt eine starke Botschaft für den Frieden und die nukleare Abrüstung. Die Salomonen, der elfte pazifische Inselstaat im AVV, betonten besonders die historischen Folgen der Nukleartests in ihrer Region.[4] Diese Entwicklungen verdeutlichen den wachsenden internationalen Konsens, dass Atomwaffen keine Rechtfertigung haben und ihre Abschaffung für die Sicherheit der Menschheit entscheidend ist. Mit jedem neuen Vertragsstaat erhöht sich so der Druck auf atomar bewaffnete Länder und deren Verbündete, ihre nukleare Abschreckungspolitik zu überdenken und globale Abrüstungsbemühungen ernsthaft voranzutreiben.
Die Beobachterrolle Deutschlands
Zu diesen Ländern gehört auch Deutschland, das als Mitglied der NATO deren nukleare Abschreckungsdoktrin mitträgt und im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe US-amerikanische Atomwaffen auf dem eigenen Territorium stationiert hat. Die Bundesregierung hat den Atomwaffenverbotsvertrag bislang weder unterschrieben noch ratifiziert.
Dennoch nahm Deutschland beobachtend an den regelmäßigen Staatenkonferenzen des AVV teil. Die Bedeutung dieser Teilnahme, die sich aus dem Koalitionsvertrag der Ampelregierung 2021-2025 ableiten lässt, sollte nicht unterschätzt werden. Im Koalitionsvertrag wird explizit festgehalten, dass Deutschland den AVV „konstruktiv begleiten“[5] will. Die Teilnahme als Beobachterin bei den Vertragsstaatenkonferenzen in Wien 2022 und New York 2023 zeigt dieses Engagement. Es ermöglicht Deutschland, den Diskurs um nukleare Abrüstung zu beeinflussen, ohne die Verpflichtungen aus der nuklearen Teilhabe der NATO zu verletzen. Gleichzeitig signalisiert es den Vertragsstaaten des AVV, dass ihre Arbeit auch über den eigenen Kreis hinweg wahrgenommen und diskutiert wird. Die Möglichkeit, sich in diesem Rahmen über Positionen, Interessen und Lösungsansätze auszutauschen, mag begrenzt sein, ist aber gerade in Anbetracht der anhaltenden Blockade im Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) enorm wichtig. Der regelmäßige Austausch Deutschlands mit Alliierten zeigt zudem, dass diese Rolle diplomatisch abgestimmt ist und keine isolierte Position darstellt.[6]
Die Kritikerinnen des AVV sehen in ihm eine Bedrohung für die bestehende nukleare Ordnung und fordern, dass Deutschland seine beobachtende Teilnahme beendet, um klarer für Atomwaffen Stellung zu beziehen. Die Befürworterinnen hingegen heben hervor, dass die Beobachterrolle eine ausgewogene Position zwischen Abrüstungszielen und Sicherheitsverpflichtungen ermöglicht. Da das Auswärtige Amt weiterhin an ersteren festhält, ist ein konstruktiver Dialog mit Staaten, die sich explizit gegen Atomwaffen aussprechen, sicherlich im Sinne ernsthafter Abrüstungsbemühungen. Genau diese Staaten arbeiten aktiv daran, das nukleare Tabu zu bewahren und eine sichere Zukunft zu gewährleisten.
Umso heftiger schlug die deutsche Debatte um die „Eurobombe“ international Wellen. Damit wurde ein völlig falsches Signal gesendet. Dass hochrangige Bundespolitiker*innen auf diesen Zug aufsprangen, ist unverantwortlich, denn diese abwegige Idee wäre rechtlich, technisch und finanziell kaum realisierbar. Ein Ausbau der nuklearen Abschreckung würde die Glaubwürdigkeit des Friedensprojektes Europa tiefgreifend schädigen. Umso wichtiger ist es deshalb, dass mit Österreich, Irland und Malta bereits drei EU-Staaten dem AVV beigetreten sind und sich damit auch gegen eine europäische Atombewaffnung stellen.
Unterstützung für Betroffene und die Sanierung der Umwelt
Ein zentraler Bestandteil des Atomwaffenverbotsvertrags (AVV) sind die Artikel 6 und 7, die sich auf die humanitären Folgen der Atomwaffeneinsätze und -tests beziehen. Sie verpflichten die Vertragsstaaten zur Unterstützung von Betroffenen und fordern Maßnahmen zur Umweltsanierung betroffener Gebiete. Diese Verpflichtungen zeigen schon jetzt, dass der AVV nicht nur politisches Symbol, sondern konkretes Werkzeug zur Bewältigung der Folgen atomarer Gewalt ist. Besonders betroffen von den verheerenden Auswirkungen sind jene Länder, in denen die ehemaligen Testgelände liegen.
Genau hier greift der sogenannte „intersessional process“ des AVV: Zwischen den Staatenkonferenzen werden unter anderem Fortschritte zur Umsetzung der Artikel 6 und 7 in einer Arbeitsgruppe diskutiert und koordiniert, um sicherzustellen, dass betroffene Staaten die nötige Unterstützung erhalten. Ein wichtiges Instrument soll dabei der Trust Fund werden, der aktuell geplant wird und finanzielle Mittel für Projekte zur Opferhilfe und Umweltsanierung bereitstellen soll und damit die greifbaren Maßnahmen des Vertrags zur Heilung der Wunden vergangener Atomwaffeneinsätze unterstreicht.
Der AVV ist als internationaler Vertrag im Bereich Atomwaffen auch deshalb historisch, da er die besonderen Folgen nuklearer Strahlung für Frauen und Mädchen anerkennt und die Vertragsparteien verpflichtet, geschlechtsspezifische Maßnahmen zu ergreifen. Um diese zu erarbeiten und weitere Intersektionen zu beleuchten, gibt es ebenfalls eine Arbeitsgruppe im Rahmen des „intersessional process“. Damit verschafft der AVV einem weiteren Bereich erstmals konsequent Aufmerksamkeit, der bislang im internationalen Rahmen ausgeblendet wurde.
Der Atomwaffenverbotsvertrag leistet also bereits im dritten Jahr nach seinem Inkrafttreten wichtige Arbeit für mehr nukleare Gerechtigkeit. Kritiker*innen werfen dem Vertrag zwar immer wieder Sinnlosigkeit vor, solange keine Atomwaffenstaaten beitreten. Doch diese Kritik ignoriert die wichtige Arbeit, die bereits jetzt für jene Menschen geleistet wird, die unter den Auswirkungen der Atomwaffen leiden und deren Perspektive und Bedürfnisse gerade in unseren westlichen Debatten selten vorkommen.
Das Selbstbewusstsein wird größer
Der AVV gewinnt weiter an Unterstützung, in der internationalen Gemeinschaft wächst der Wunsch, sich explizit gegen Atomwaffen auszusprechen. Dies zeigt sich nicht nur an den neuen Ratifizierungen, sondern auch an einem selbstbewussten Auftreten der AVV-Staaten. Der fehlende Abrüstungswille der Atomwaffenstaaten, die gegenteilige Modernisierung und sogar Aufstockung der Arsenale, lässt die Unzufriedenheit vieler Nichtatomwaffenstaaten wachsen. Durch das Beharren der wenigen Atomwaffenstaaten und ihrer Verbündeten auf eigenen Sicherheitsinteressen, die eine nukleare Abrüstung unmöglich machen würden, ignorieren sie die Sicherheitsinteressen der Mehrheit der Staaten, für die das aktuelle System eine enorme Gefahr birgt. Auf der zweiten Staatenkonferenz des AVV wurde deshalb eine neue Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die sich speziell mit diesem Aspekt beschäftigt: den Sicherheitsbedenken der Mitgliedstaaten. In ihrem Abschlussdokument schreiben sie, dass „Versuche, die nukleare Abschreckung als legitime Sicherheitsdoktrin zu rechtfertigen, den Wert von Atomwaffen für die nationale Sicherheit zu Unrecht preisen und das Risiko der horizontalen und vertikalen nuklearen Proliferation gefährlich erhöhen“.[7] Und auch auf der Konferenz des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) in 2024 positionierten sich die Mitgliedstaaten des AVV mit einem gemeinsamen Statement deutlich gegen die nukleare Abschreckung und betonten, dass diese ernsthaften Abrüstungsgesprächen, wie sie in Artikel 6 des NVV vorgeschrieben sind, entgegenstehen.[8] Die Sorge der NATO, dass der AVV Divergenzen in der internationalen Gemeinschaft aufwerfen könnte, in Zeiten, in denen alle Staaten gemeinsam an nuklearer Abrüstung arbeiten sollten, scheint sich also zu bewahrheiten. Jedoch nicht, weil der AVV den NVV schwächen würde, sondern weil er ihn stärkt, seine Abrüstungsverpflichtung in den Vordergrund stellt und eine Plattform für jene Staaten bietet, die Atomwaffen für unmoralisch und für eine Gefahr für die Menschheit halten. Durch ihr immer selbstbewussteres gemeinsames Auftreten werden jene Staaten, die immer noch auf Atomwaffen setzen, an ihre Versprechungen erinnert und daran, dass sie nicht die einzigen Akteure mit ernstzunehmenden Sicherheitsbedenken sind.
2025 – nächste Etappe des AVV
Es bleibt abzuwarten, wie die Bundesregierung mit dieser Entwicklung umgeht. Voraussichtlich wird sie auch an der dritten Vertragsstaatenkonferenz des Atomwaffenverbotsvertrags (3MSP) im März 2025 als Beobachterin teilnehmen. Damit würde die aktuelle Regierung ihre Linie fortführen und signalisieren, dass sie die Arbeit des Vertrags weiterhin unterstützen möchte. Allerdings hat sich gezeigt, dass die Bestätigung der deutschen Teilnahme oft kurzfristig erfolgt. Daher ist es umso wichtiger, dass auch die Zivilgesellschaft nachdrücklich für die Fortführung dieser beobachtenden Rolle eintritt, um die Arbeit Deutschlands im Rahmen internationaler Abrüstungsanstrengungen zu stärken. Denn so kann Deutschland an den Atomwaffenverbotsvertrag herangeführt werden, bis die Bundesregierung endlich beitritt und schließlich der dringendste Wunsch der Hibakusha in Erfüllung geht: die Abschaffung aller Atomwaffen für eine friedliche und sichere Welt für alle Menschen.
Anmerkungen
[1] Nihon Hidankyo: Chronology of HIDANKYO’s International Activities. https://www.ne.jp/asahi/hidankyo/nihon/english/about/about2-01.html.
[2] Nystuen, Gro/Kjølv Egeland/Torbjørn Graff Hugo: The TPNW: Setting the Record Straight, Oslo: Norwegian Academy of International Law, 2018, S.31. https://intlaw.no/wp-content/uploads/2018/10/TPNW-Setting-the-record-straight-Oct-2018-WEB.pdf
[3] Der aktuelle Stand ist hier abrufbar: https://www.icanw.org/signature_and_ratification_status
[4] ICAN: Indonesia, Sierra Leone and Solomon Islands ratify Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, 25.9.2024. https://www.icanw.org/indonesia_sierra_leone_solomon_islands_new_ratifications_treaty_on_the_prohibition_of_nuclear_weapons
[5] Bundesregierung: Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag 2021-2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP), Berlin, 2021, S.115.
[6] Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linken, Drucksache 20/13126, 20.9.2024. https://dserver.bundestag.de/btd/20/131/2013126.pdf
[7] Second Meeting of States Parties to the Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons: Revised Draft Declaration of the Second Meeting of States Parties to the Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons: “Our Commitment to Upholding the Prohibition of Nuclear Weapons and Averting their Catastrophic Consequences”, U.N. Doc. TPNW/MSP/2023/CRP.4/Rev.1. Paragraf 17.
[8] NATO: North Atlantic Council Statement on the Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, Pressemitteilung (2017) 135, 20.9.2017. https://www.nato.int/cps/en/natohq/news_146954.htm