IMI-Analyse 2024/44 - in: AUSDRUCK (Dezember 2024)

Atomkrieg durch konventionelle Waffen?

Mittelstreckenraketen zwischen kaltem und heißem Krieg

von: Jürgen Scheffran | Veröffentlicht am: 20. November 2024

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Anfang Juli 2024 feierte die NATO in Washington ihren 75. Geburtstag unter Leitung des noch amtierenden US-Präsidenten Joe Biden. Angesichts weltpolitischer Krisen und Herausforderungen schloss das Bündnis sich enger zusammen und beschwor den Geist des Kalten Krieges, was sich in steigenden Militärausgaben und Aufrüstungsprogrammen niederschlug. Die Überraschung war groß, als Bundeskanzler Olaf Scholz am Rande des NATO-Gipfels am 10. Juli 2024 eine deutsch-amerikanische Erklärung unterzeichnete, wonach ab 2026 in Deutschland landgestützte Mittelstreckenraketen (Long-Range Fires, LRF) der USA auf beweglichen Abschussrampen stationiert werden sollen, die Ziele tief in Russland treffen können (Deep Strikes). Vielfach wurden Erinnerungen an den Kalten Krieg wach und die Stationierung von Mittelstreckenraketen 1962 und 1983. Im INF-Vertrag von 1987 vereinbarten USA und Sowjetunion, landgestützte Mittelstreckenwaffen zwischen 500 und 5.500 km Reichweite zu beseitigen. Dies läutete das Ende des Kalten Krieges ein und weitere Schritte zur nuklearen Abrüstung. Am 1. Februar 2019 kündigte US-Präsident Donald Trump den INF-Vertrag, unmittelbar gefolgt von Wladimir Putin, was sechs Monate später in Kraft trat. Da sich geopolitische Konflikte zwischen den Nuklearmächten verschärften (insbesondere in der Ukraine), stehen ein neues Wettrüsten und die Gefahr eines Atomkrieges wieder auf der Tagesordnung. Die geplanten Mittelstreckenwaffen dürften hier eine wichtige Rolle spielen.

Die Mittelstreckenwaffen der Multi-Domain Task Force

Die Stationierung der Mittelstreckenwaffen ist Teil beweglicher Kernverbände der US-Armee für die weitreichende regionale Kriegführung von der strategischen bis zur taktischen Ebene. Die Multi-Domain Task Forces (MDTFs) koordinieren Land-, Luft-, See, Weltraum-, Cyber- und Informationseinsätze mit Zerstörungsmitteln, um feindliche A2/AD (anti-access/area denial) Strategien zu durchbrechen. Dadurch sollen Ziele über große Reichweiten schnell und präzise ausgeschaltet und Abwehrmaßnahmen durchdrungen werden. Das „Strategic Fires Battalion“ umfasst Flugkörper diverser Typen und Reichweiten:[1]

1. Tomahawk-Marschflugkörper haben eine operative Reichweite zwischen 1.700 und 2.500 km. Ein erfolgreicher Teststart einer Tomahawk Land Attack Cruise Missile (LACM) fand am 18. August 2019 statt, wenige Tage nach dem Außerkrafttreten des INF-Vertrags. Das landbewegliche Typhon-Raketensystem wurde am 22.9.2023 erfolgreich erprobt und im gleichen Jahr in Dienst gestellt.

2. Ballistische Raketen vom Typ Standard Missile-6 (SM-6) werden von der Flugabwehr der US-Navy umgerüstet, um von Typhon-Abschussgeräten der US-Armee mit Hyperschallgeschwindigkeit gegen Bodenziele eingesetzt zu werden. Zugleich geht es um die Entwicklung der Boden-Boden-Rakete Precision Strike Missile (PrSM), die vom High Mobility Artillery Rocket System (HIMARS) abgeschossen werden kann. Das künftige Tactical Missile System soll die Reichweiten von unter 500 auf mehr als 1.000 km steigern.

3. Als Speerspitze strategischer Angriffswaffen gilt die Hyperschallrakete Dark Eagle großer Reichweite (2.800 km), Geschwindigkeit (Mach 17) und hoher Zielgenauigkeit von wenigen Metern. Mit variabler Flugbahn und einem Sprengkopf hoher Explosivkraft soll sie die gegnerische Raketenabwehr und andere A2/AD-Gegenmaßnahmen überwinden, um hochwertige und zeitkritische Schlüsselziele zu zerschlagen, darunter Langstreckenwaffen und verbunkerte Kommandozentralen. Eine mobile Batterie kann bis zu acht Raketen gleichzeitig starten, die nachgeladen werden können. Verschiedene Tests wurden mit gemischtem Erfolg zwischen 2011 und 2024 im Pazifik durchgeführt; das System wurde 2023 in Dienst gestellt.

Die USA haben bereits 2017 mit der Aufstellung von fünf MDTFs begonnen, zwei im indo-pazifischen Raum, eine in Europa, eine weitere für die Arktis oder „multiple“ Bedrohungen im Indopazifik, und eine in den USA als globale Reserve. Seit 2021 wird die MDTF der US-Armee in Wiesbaden vorbereitet, die bis 1991 über die Pershing-Raketen verfügte und ab 2026 für die genannten Flugkörper in Deutschland zuständig ist. Mit den verfügbaren Feuereinheiten können vermutlich ohne Nachladungen 48-72 Raketen verschossen werden.

Nuklear oder konventionell: Zwischen Counterforce und Raketenabwehr

In welchem Kontext steht die geplante Stationierung der Mittelstreckenraketen? Im Kalten Krieg wurde das nukleare Wettrüsten getrieben von den Interessen des militärisch-industriellen Komplexes (MIK), der zu seiner Rechtfertigung Feindbilder brauchte. Mit wachsenden „Counterforce“-Fähigkeiten befürchteten beide Supermächte, ihre Atomwaffenarsenale durch einen Erstschlag des Gegners soweit zu verlieren, dass ein Gegenschlag durch Abwehrsysteme weitgehend abgefangen werden könnte. Entsprechende Bedrohungswahrnehmungen beeinflussten in den 1980ern die Wahl von US-Präsident Ronald Reagan und sein SDI-Programm einer weltraumgestützten Raketenabwehr wie auch die Initiative des sowjetischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow 1986, die Abschaffung aller Atomwaffen vorzuschlagen.[2]

Mit Ende des Kalten Krieges wurde die feindbildgetriebene Militarisierung vorübergehend erschüttert, mehr in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion als in den USA, die als einzige Supermacht bestrebt war, ihre Überlegenheit aufrecht zu erhalten. Der zeitweiligen nuklearen Abrüstung und Reduzierung der Militärhaushalte folgten bald schon Kriege und Militärinterventionen. Entlang einer „Achse des Bösen“ fanden die USA neue Feindbilder, um die eigene Aufrüstung zu rechtfertigen und zu finanzieren. Um mit ihren immensen Militärausgaben nicht alleine dazustehen, bemühten sich die USA, ihre Verbündeten an den Lasten teilhaben zu lassen und ihre Gegner in ein Wettrüsten zu treiben.

Während die Hegemonie der USA zunehmend unter Druck geriet, suchten sie ihren technologischen Vorsprung wieder in militärische Überlegenheit umzumünzen. Neben einer Modernisierung der Atomwaffen spielen auch konventionelle Flugkörper eine Rolle, um strategische Ziele des Gegners schnell, zielgenau und wirksam ausschalten zu können, darunter geschützte Atomwaffen und Befehlszentralen, wofür früher nukleare Sprengköpfe erforderlich waren. Dies weckt bei anderen Nuklearmächten Befürchtungen, ihre Abschreckungsfähigkeit durch einen entwaffnenden Erstschlag der USA zu verlieren. Entsprechende Planungen zur Konventionalisierung der strategischen Kriegführung gibt es seit der Bush-Administration im Rahmen des Conventional Prompt Strike (CPS) Programms, früher Prompt Global Strike (PGS), mit dem Ziel, innerhalb einer Stunde eine präzisionsgelenkte konventionelle Waffe an jedem beliebigen Ort der Erde einsetzen zu können. Es gibt auch ein Intermediate Range CPS (IRCPS) Programm für den Mittelstreckenbereich, wozu Dark Eagle gehört.[3] Zugleich trieben die USA ihre Raketenabwehrpläne voran, auch in Osteuropa. Diese Bestrebungen wurden von Russland immer wieder kritisiert, ohne im Westen ernst genommen zu werden. Gegenmaßnahmen verstärkten die Konfrontation wie im Kalten Krieg.[4]

Das gilt auch für die “neue Ära der Counterforce”, die Keir Lieber und Daryl Press 2017 ausgemacht haben.[5] Demnach stellen Counterforce-Angriffe durch die Fähigkeit zur Entwaffnung gegnerischer Nuklearstreitkräfte die Abschreckung in Frage: „Der technologische Wandel untergräbt jedoch die Grundlagen der nuklearen Abschreckung. Diese Fortschritte, die ihren Ursprung in der Computerrevolution haben, machen die Nuklearstreitkräfte weitaus verwundbarer als früher.“ Strategien der Härtung oder des Versteckens von Zielen würden durch die Verbesserung der Zielgenauigkeit von Trägersystemen und der Fernerkundung ausgehöhlt.

Als Konsequenz stellte Dan Plesch, Professor  an der SOAS University of London, 2018 die provozierende Frage: “Could the US win World War III without using nuclear weapons?”, mit der kurzen Antwort: „Wenn das ‚Schwert‘ von Prompt Global Strike nicht den Start aller russischen Raketen stoppt, könnten die USA den ‚Schild‘ ihrer eigenen Raketenabwehr einsetzen.“[6] Konkretisiert wird das in seiner Studie mit Manuel Galileo im Sommer 2024, die im Guardian zitiert wurde.[7] Demnach seien die USA und ihre Verbündeten in der Lage, „alle nuklearen Abschussanlagen Russlands und Chinas mit konventionellen Waffen zu bedrohen und zu zerstören, was zu einer potenziell instabilen geopolitischen Lage, einem Wettrüsten und dem Risiko einer Fehlkalkulation in einer großen Krise führen kann.“[8] Nur tief vergrabene strategische Systeme wären wahrscheinlich überlebensfähig gegenüber konventionellen Raketenangriffen der USA.

Dies könnte ein neues Wettrüsten auslösen und im schlimmsten Fall zu einem Atomkrieg führen, wenn China und Russland in einer Krise Atomwaffen einsetzen, um den USA zuvorzukommen. Umgekehrt könnte dies die USA verleiten, noch früher den Startknopf zu drücken. Ob realistisch oder nicht, die militärischer Sachzwanglogik weckt in einer angespannten Lage Befürchtungen vor einem gegnerischen Angriff oder Illusionen, den Schaden präventiv zu begrenzen. Am Ende zählen Fähigkeiten für die Bedrohungswahrnehmung mehr als nur Worte über Absichten. Das bedeutet nicht, dass ein Atomkrieg führbar und gewinnbar ist. Ein noch so minutiös geplanter Angriff könnte außer Kontrolle geraten und auch den Angreifer in den Abgrund reißen.

Folgen und Risiken der Mittelstreckenraketen

Die beschriebenen strategischen Entwicklungen bilden den Hintergrund für die Stationierung der Mittelstreckenwaffen in Deutschland (und in Ostasien), die vorhandene Counterforce-Fähigkeiten der USA gegen Russland und auch China erweitern. Ihre Bedeutung liegt in der Kombination verschiedener Fähigkeiten: Reichweiten bis zum Ural, hohe Geschwindigkeit mit etwa 10 Minuten Flugzeit bis Moskau (Dark Eagle), verdeckte Aufstellung zu Land in besiedeltem Gebiet, geringe Warnzeit und Reaktionsfähigkeit, schwere Erfassung durch Radar (Tomahawk), hohe Zerstörungsfähigkeit nuklearstrategischer Ziele mit hoher Präzision und bunkerbrechender Durchschlagskraft auch ohne nuklearen Sprengkopf. Aus Sicht Moskaus dürften solche Systeme die Erstschlagschlagfähigkeit der USA verstärken, während eine verbesserte Raketenabwehr den verringerten Gegenschlag teilweise abfangen könnte, um den Schaden für den Angreifer abzuschwächen. Damit verbundene Folgen und Risiken für die Sicherheit Deutschlands und Europas wären fatal.[9]

Während die bilaterale Vereinbarung weder die Bedrohungslage noch den Einsatzzweck der Stationierung erklärt, verweisen nachgeschobene Erläuterungen auf vermeintliche „Fähigkeitslücken“ der NATO bei Abstandswaffen gegenüber Russland, die geschlossen werden müssten. Tatsächlich gibt es eine solche Fähigkeitslücke nicht und auch keinen Bedarf an neuen Raketensystemen der USA in Deutschland, da aus militärischer Sicht die bestehenden zur Abschreckung ausreichen (ungeachtet der Sinnhaftigkeit oder Fragwürdigkeit der Abschreckung). Die NATO verfügt bereits über Flugkörper in Europa, um russische Ziele zu treffen, insbesondere sea-launched cruise missiles (SLCM) und air-launched cruise missiles (ALCM), mit Reichweiten zwischen 1.500 und 2.500 km, die mit dem INF-Vertrag vereinbar waren, mit entsprechenden Systemen auf russischer Seite. Auch die angekündigte Entwicklung einer eigenen europäischen Abstandswaffe wäre nicht erforderlich.

Vor der Kündigung des INF-Vertrags warfen sich beide Seiten Vertragsverletzungen vor: gegen Russland, die Reichweite der in Kaliningrad stationierten Iskander-Raketen über 500 km hinaus zu steigern, gegen die USA, ihre Aegis-ashore Stellungen in einer den INF-Vertrag verletzenden Funktion zu entwickeln. Solche Fragen in der INF-Grauzone hätten durch Gespräche und Überprüfungen geklärt werden können, was nach der Kündigung nicht mehr möglich war. Für die US-Regierung war das Abkommen ein Hindernis bei der Umsetzung ihre INF-Pläne in der Pazifikregion und in Europa. Das russische Angebot eines INF-Raketenmoratoriums wurde durch die jüngste Stationierungsentscheidung zunichte gemacht. Die russische Ankündigung von Gegenmaßnahmen läuft auf ein neues Wettrüsten hinaus.

Sind die Luft- und Seestreitkräfte der NATO denen Russlands bereits deutlich überlegen, so dürften die USA durch ihre MDTF-Systeme den Vorsprung weiter ausbauen. Aufgrund ihrer Offensiv- und Erstschlagfähigkeiten sind die geplanten Mittelstreckenwaffen weder zur Verteidigung noch zur Abschreckung geeignet, da sie die Zweitschlagfähigkeiten auf beiden Seiten durch Präemptionszwänge untergraben, zumal die Vergeltung durch konventionelle Waffen nicht mit der einer Atomwaffe zu vergleichen ist. Als Angriffswaffen erhöhen sie die Bedrohung, ohne einen Sicherheitsgewinn zu bringen oder Frieden zu schaffen. Die Offensivfähigkeiten dieser Waffen werden auch von ihren Befürwortern nicht bestritten, eher noch als Vorteil angesehen.[10]

Wie bei der Kubakrise 1962 und der Stationierung von Pershing 2 und Cruise Missiles 1983 entsteht wieder die Situation, dass eine nukleare Großmacht die Zentren der anderen von externem Territorium auf kurze Distanz treffen kann. In beiden historischen Fällen entging die Welt knapp einem Atomkrieg. Diesmal wären strategische Ziele Russlands durch die USA von deutschem Gebiet mit hoher Präzision und kurzer Flugzeit erreichbar. Hierzu gehören neben der Hauptstadt Moskau Einrichtungen der Nuklearstreitkräfte oder Befehls- und Kommunikationsanlagen. Ein Überraschungsangriff würde das strategische Gleichgewicht der Nuklearmächte unterminieren und zur Eskalation beitragen. Die konventionelle Bestückung der Flugkörper macht ihren Einsatz eher wahrscheinlicher und verwischt die Grenzen zur nuklearen Kriegführung, zumal einige dieser Waffen potentiell nuklearfähig sind, was zu Missverständnissen führen kann.

Ermöglichten bei den bisherigen Waffensystemen See- und Luftbewegungen noch eine gewisse Frühwarnung vor einem Angriff, so sind bei den landgestützten Raketen geringere Vorwarnzeiten zu erwarten, was die Furcht vor Überraschungsangriffen schürt und einen instabilen Alarmzustand erfordert, der zu Fehlperzeptionen und Kurzschlussreaktionen führen kann, besonders in einer Krisensituation. Automatische Reaktionen mithilfe von KI verstärken das Risiko eines (Atom-)Kriegs aus Versehen. Die vernetzten technischen Systeme sind komplex, fehleranfällig und potenziell kriseninstabil.

Durch die Stationierung gerät Deutschland in die direkte und zugespitzte Konfrontation zwischen den Nuklearmächten USA und Russland. Den USA die Möglichkeit zu geben, von deutschem Boden strategische Ziele in Russland anzugreifen, macht Deutschland zur Abschussrampe für die USA und zur Zielscheibe Russlands. Durch die Aufnahme in die nukleare Zielplanung Moskaus wird Deutschland dem Risiko eines Krieges, wenn nicht eines Atomkrieges ausgesetzt, ohne selber über Atomwaffen zu verfügen. In einem Schlagabtausch zwischen Raketen auf deutschem und russischem Territorium würde Deutschland das Hauptrisiko tragen.

Die Risiken werden multipliziert durch den Ukrainekrieg, in dem Russland und die NATO sich gegenseitig als Feinde ansehen und Putin immer wieder den Einsatz von Atomwaffen thematisiert hat. Da die INF-Kündigung und Stationierungspläne der USA deutlich vor diesem Krieg liegen, sind sie dadurch nicht nachträglich zu rechtfertigen (umgekehrte Kausalitäten sind wahrscheinlicher). Zusätzlich brisant ist, dass die Ukraine auf den Kriegseinsatz vorhandener westlicher Flugkörper gegen russisches Gebiet drängt, was von den USA und Deutschland bislang wegen der Eskalationsrisiken abgelehnt wurde. Wäre das auch mit Mittelstreckenraketen der Fall und der damit verbundenen Konfrontation zwischen NATO und Russland? Heißer und Kalter Krieg können sich so gegenseitig hochschaukeln.

Wettrüsten, strategische Stabilität und Rüstungskontrolle

Da die Stationierung der Mittelstreckenraketen das strategische Gleichgewicht und seine Stabilität berührt, dürfte Moskau diese in seine strategischen Szenarien und Planungen einbeziehen. Russland kann durch die überlegenen offensiven und defensiven Rüstungsanstrengungen von USA und NATO eigene militärische Gegenmaßnahmen begründen, die die Überlebens- und Durchdringfähigkeit der eigenen Arsenale und die Verwundbarkeit der Gegenseite erhöhen, auch durch eigene Counterforce- und Raketenabwehrfähigkeiten. Möglich wären die Steigerung der Raketenproduktion und doppelverwendbare (konventionell-nukleare) Mittelstreckensysteme, die das NATO-Gebiet erreichen könnten. Damit erhöht sich das nukleare Risiko für die NATO und Europa, aber auch für Ostasien und andere Regionen, in denen die USA ebenfalls solche Systeme stationieren. So werden auf regionaler Ebene die Schleusen für eine globale Rüstungsspirale wie im Kalten Krieg geöffnet. Hier zeigt sich die Eigendynamik des MIK, der weiterhin alles versucht, seine Existenz durch die Schaffung von Feindbildern zu rechtfertigen. Ein wahlweise kalter oder heißer Krieg mit Russland, China und anderen Mächten wird so dauerhaft perpetuiert und lässt von den westlich-liberalen Demokratien nicht mehr viel übrig.

Abgesehen von den Gefahren für Sicherheit und Frieden in der Welt, sinken auch die Aussichten für die nukleare Rüstungskontrolle, von der in Zeiten geopolitischer Rivalität wenig bleibt, nachdem die USA einige Kernelemente (INF, Open Skies, ABM, CTBT) aufgekündigt oder nicht ratifiziert haben und neuen Abkommen wie dem Atomwaffenverbotsvertrag nicht beigetreten sind, wie auch die anderen Atomwaffenmächte. Solange russische Vorschläge und Kritikpunkte in führenden Kreisen des Westens ignoriert werden, gibt es keine Chancen auf Annäherung. Dies wäre eine Voraussetzung, um eine weitere Eskalation zu verhindern und Vereinbarungen für Stabilität und Rüstungskontrolle zu ermöglichen. Konkret steht die Frage an, ob das Abkommen New START im Februar 2026 noch einmal verlängert oder durch eine politische Interimsvereinbarung abgelöst wird, die vorerst letzte Option auf nukleare Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland.  Die Geschäftsgrundlage für Stabilitätsgespräche ist die gesicherte Zweitschlagfähigkeit, die durch Counterforce-Strategien, Mittelstreckensysteme und Raketenabwehr gestört wird. Kompliziert wird dies durch Debatten in den USA, vereinbarte Obergrenzen zu erhöhen, um dem Atomwaffenarsenal Chinas Rechnung zu tragen. Dies ist zwar viel kleiner, wird aber modernisiert und ausgeweitet, auch um Bedrohungen durch die USA zu begegnen. Die Wahl Donald Trumps – ein Hardliner der nuklearen Aufrüstung – macht hier die Aussichten nicht besser. Ein möglicher Ausweg wären Verhandlungen über ein neues INF-Abkommen, in welcher Form auch immer. Im Unterschied zum NATO-Doppelbeschluss von 1979 lässt die deutsch-amerikanische Erklärung vom 10. Juli 2024 keinen Spielraum für die Eindämmung von Eskalationsrisiken oder für Diplomatie und Dialog mit Moskau erkennen.

Zudem hat Bundeskanzler Scholz diese Entscheidung ohne hinreichende Begründung oder Konsultation anderer NATO-Staaten, des Parlaments sowie von Teilen der Regierung und seiner Partei getroffen, was entsprechende Kritik am konspirativen Zustandekommen ausgelöst hat. Eine derart schwerwiegende Entscheidung am demokratischen Prozess vorbei zu schleusen, sorgte auch in Teilen der Bevölkerung für Unruhe, beeinflusste Wahlen in Ostdeutschland im September 2024 mit Stimmen von links bis rechts und gab der Friedensbewegung ein neues gemeinsames Thema.[11] Bleibt zu hoffen, dass auch große Teile des politischen Establishments nicht erst aufwachen, wenn es zu spät ist.

Anmerkungen


[1] Wolfgang Richter, Stationierung von U.S. Mittelstreckenraketen in Deutschland. Friedrich Ebert Stiftung, Juli 2024. https://library.fes.de/pdf-files/bueros/wien/21371.pdf.

[2] Zu historischen Hintergründen siehe: Jürgen Scheffran: Schutzschirm oder Falle für Europa? Zur Debatte in der NATO über Weltraumrüstung und Raketenabwehr. Blätter für deutsche & internationale Politik 06/1984, S. 657-677; Jürgen Scheffran: Strategic Defense, Disarmament and Stability. Dissertation, Universität Marburg 1989.

[3] Richard Parlato, 1st Multi-Domain Task Force deploys the Army’s first Long-Range Hypersonic Weapon system. U.S. Army (30.3.2023).

[4]  Jürgen Scheffran: Zurück zum Kalten Krieg? Russland und der US-Hegemonieanspruch. W&F 02/2000.

[5] Keir Lieber, Daryl Press: The New Era of Counterforce: Technological Change and the Future of Nuclear Deterrence. International Security 2017, 41(4): S. 9-49.

[6] Dan Plesch: Could the US win World War III without using nuclear weapons?, The Conversation, 2018. https://theconversation.com/could-the-us-win-world-war-iii-without-using-nuclear-weapons-94771

[7] Dan Plesch, Manuel Galileo: Masters of the Air: Strategic stability and conventional strikes. School of Oriental and African Studies (SOAS): London.

[8] Dan Sabbagh: US arms advantage over Russia and China threatens stability, experts warn, The Guardian, 5.9.2024.

[9] Ausführliche Darstellungen finden sich in Richter 2024, a.a.O;. Özlem Demirel, Jürgen Wagner: Frieden schaffen mit Angriffswaffen? US-Mittelstreckensysteme in Deutschland – gefährlich und destabilisierend! IMI-Studie 2024/7, 30.9.2024.

[10] Jonas Schneider, Torben Arnold: Gewichtig und richtig: weitreichende US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland. SWP-Aktuell , Nr. 36/Juli 2024.

[11] Hierzu u.a. Erklärungen von: Natwiss 18.7.24 (https://natwiss.de/keine-mittelstreckenraketen-eskalationsspirale-jetzt-beenden-und-abruesten); VDW 19.8.24 (https://vdw-ev.de/erklaerung-stationierung-lrf); Berliner Appell 3.10.24 (https://nie-wieder-krieg.org).