IMI-Standpunkt 2024/23 - in: AUSDRUCK (September 2024)

Ukraine-Krieg: Entwicklungspfade und Optionen gegen einen „Langen Krieg“

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 11. September 2024

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Ausgabe September 2024

Schwerpunkt: Ungewisse Zukunft
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„Wie soll das enden?“, mit diesen Worten beginnt die Studie „Avoiding a Long War. U.S. Policy and the Trajectory of the Russia-Ukraine Conflict“, der US-Autor*innen Samuel Charap und Miranda Priebe, die in den Vereinigten Staaten breit diskutiert wurde.[1] Dabei half sicher auch die Organisation, von der sie Anfang 2023 veröffentlicht wurde: die RAND Corporation, eine der wohl einflussreichsten US-Denkfabriken, die über beste Kontakte ins Militär verfügt und zumeist eher mit militaristischen Forderungen von sich reden macht.

Die Studie beschäftigt sich mit dem Ukraine-Krieg, den sie als „wichtigsten zwischenstaatlichen Konflikt der letzten Jahrzehnte“ bezeichnet. Deshalb bezeichnen die Autor*innen es als „angebracht einzuschätzen, wie sich der Konflikt entwickeln könnte, was unterschiedliche Entwicklungsverläufe für die Interessen der Vereinigten Staaten bedeuten würden und was Washington tun kann, um einen Entwicklungsverlauf zu fördern, der den US-Interessen am besten dient.“

Interessen – Schüsselfaktoren – Entwicklungspfade

Die Studie beginnt, indem fünf Schlüsselfaktoren für den weiteren Verlauf des Krieges identifiziert werden: a) ein möglicher russischer Einsatz von Atomwaffen; b) die mögliche Eskalation zu einem Krieg zwischen der NATO und Russland; c) die Frage territorialer Kontrolle; d) die Dauer; und e) die Art der Beendigung des Krieges.

Es sei zwar unmöglich „exakt zu ermitteln, wie wahrscheinlich“ ein Atomkrieg wäre, da Russland den Ukraine-Krieg aber als „annähernd existentiellen Konflikt“ betrachte, sei es alles andere als ausgeschlossen, dass er in einem „strategischen nuklearen Schlagabtausch münden könnte.“ Aufgrund der katastrophalen Auswirkungen eines solchen Entwicklungspfades müsse es für die USA von „höchster Priorität sein, einen russischen Einsatz von Atomwaffen zu verhindern.“

Ein entscheidender Faktor, der hierzu führen könnte, wäre eine vorherige Eskalation in einen NATO-Russland-Krieg, den es allein schon aus diesem Grund ebenfalls unbedingt zu vermeiden gelte. Dabei handele es sich um eine Gefahr, die sich „vergrößert, je länger der Krieg andauert.“

Zur Frage territorialer Kontrolle erachten die Autor*innen es zwar für wünschenswert, wenn die Ukraine so viel Land wie möglich zurückerobern würde. Allerdings sei eine Rückeroberung der von Russland seit 2022 geschweige denn der seit 2014 besetzten Gebiete „höchst unwahrscheinlich“. Zum damaligen Zeitpunkt kurz nach den großen ukrainischen Landgewinnen, insbesondere der Rückeroberung von Cherson, wurden derartige Prognosen häufig als defätistisch abgetan. Dem hielten die Autor*innen entgegen, dass Russland „substantielle Verteidigungsanlagen errichtet“ habe. Deshalb könne eine Rückeroberung der verlorenen Gebiete wenn überhaupt nur mit einem „langen Krieg“ erreicht werden, mit dem die „Eskalationsrisiken – entweder der Einsatz von Atomwaffen oder ein Angriff auf die NATO – in die Höhe schießen würden.“ Die dramatisch gescheiterte Sommeroffensive im Jahr 2023 und der aktuelle Kriegsverlauf bestätigen im Nachhinein die Einschätzung der beiden Autor*innen.

Zur Frage der Kriegsdauer sei anzumerken, dass ein langer Konflikt, „so pervers das klingen mag“, im Interesse der Vereinigten Staaten sein könnte. Die Schwächung Russlands, die zumindest für Teile des US-Establishments weiter von vorrangigem Interesse zu sein scheint, rücke aber gegenüber anderen „Nachteilen“ in den Hintergrund: Zuvorderst seien dies weitere Opfer aufseiten der Ukraine, die Gefahr, dass Russland noch größere Geländegewinne erzielen könnte und die hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich das Ausmaß der westlichen Unterstützung über einen langen Zeitraum als „nicht aufrecht zu erhalten“ erweisen könnte. Ferner dürften die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges vor allem auch in Europa und die Gefahr einer durch den Krieg sich immer weiter verfestigenden russisch-chinesischen Achse nicht außer Acht gelassen werden. „Kurz gesagt: Die Folgen eines langen Krieges – die von stetig steigenden Eskalationsrisiken bis hin zu wirtschaftlichem Schaden reichen – überwiegen die möglichen Vorteile.“

Was das Kriegsende anbelangt, ließen sich in der Literatur über vergangene Kriege drei unterschiedliche Ausgänge identifizieren: vollständiger Sieg, Waffenstillstand oder politische Einigung. Da „keine Seite“ über die Kapazitäten verfüge, einen vollständigen Sieg zu erlangen, sei es sehr wahrscheinlich, dass der Krieg mit „irgendeiner Form eines Verhandlungsergebnisses endet.“ Dabei seien politische Einigungen gegenüber Waffenstillständen vorzuziehen, weil sie zu weit stabileren Ergebnissen führen würden. Die Istanbul-Vereinbarungen, bei denen sich Kiew und Moskau bereits Ende Februar 2022 auf einen groben Rahmen für eine Lösung des Konfliktes verständigt hatten, bei dem die Neutralität der Ukraine und ein russischer Truppenabzug auf den Stand vor dem 24. Februar 2022 im Zentrum stand (sowie die beiderseitige Zusage, in den territorialen Streitfragen innerhalb der nächsten 15 Jahre auf Gewalt zu verzichten) hätten bereits zentrale Elemente einer solchen Lösung beinhaltet. Aufgrund der Komplexität der Frage und dem Ausmaß der Feindseligkeiten sei allerdings eine „politische Einigung weit weniger wahrscheinlich als ein Waffenstillstand.“

Einflussoptionen zur Beendigung des Krieges

Aus den zuvor beschriebenen Entwicklungspfaden und Interessen ergebe sich ein klarer Handlungsauftrag: „Weil die Vermeidung eines langen Krieges die höchste Priorität nach der Minimierung von Eskalationsrisiken hat, sollten die USA Schritte unternehmen, durch die ein Ende des Konfliktes mittelfristig wahrscheinlicher wird.“

Was mögliche US-Optionen hierfür anbelange, bedürfe es der Einsicht beider Kriegsparteien, dass sie „vom Frieden mehr als von einer Fortsetzung des Krieges profitieren.“ Um Russland an den Verhandlungstisch zu bekommen, brauche es mindestens eine „international rechtlich bindende Verpflichtung für eine Neutralität der Ukraine durch die USA und einige NATO-Verbündete.“ Dadurch müsse auch garantiert werden, dass „ausländische Truppenstationierungen und Übungen auf ukrainischem Gebiet ausgeschlossen wären.“

Gleichzeitig müsse die westliche Unterstützung der Ukraine auch perspektivisch groß genug sein, um russische Hoffnungen auf große Erfolge auf dem Schlachtfeld zunichte zu machen. Dabei sei allerdings gleichzeitig darauf zu achten, dass ein Blankoscheck für fortgesetzte westliche Waffenhilfen „die Ukrainer*innen darin bestärken könnte, Verhandlungen zu sabotieren.“ Aus diesem Grund könnten die USA „entscheiden, ihre künftige militärische Hilfe für die Ukraine von der Bereitschaft zu Verhandlungen abhängig zu machen.“ Gleichzeitig bedürfe es klarer Sicherheitsgarantien für die Ukraine.

Fazit

Man muss nicht mit jeder Einschätzung oder Forderung der Studie „Avoiding a Long War“ einverstanden sein. In jedem Fall hebt sie sich aber wohltuend von der hierzulande nahezu ausschließlich gepflegten Praxis ab, sich nicht einmal mehr die Mühe zu machen, realistische Auswegszenarien zu benennen, bevor lauthals nach Waffenlieferungen gerufen wird, um weiter Öl ins Feuer zu gießen.

Anmerkung

[1]     Samuel Charap, Miranda Priebe: Avoiding a Long War – U.S. Policy and the Trajectory of the Russia-Ukraine Conflict, RAND Perspective, January 2023.