IMI-Analyse 2024/34 - in: AUSDRUCK September 2024 (Schwerpunkt: Ungewisse Zukunft)

Abschied von den asymmetrischen Jahren

von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 11. September 2024

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AUSDRUCK – Das IMI-Magazin
Ausgabe September 2024

Schwerpunkt: Ungewisse Zukunft
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Strategien sind immer in die Zukunft gedacht. Sie planen eigenes Handeln in Abhängigkeit zum antizipierten Handeln möglicher „Wettbewerber“ oder Gegner.Im Mittelpunkt steht dabei nicht das tatsächliche Handeln, sondern das Herstellen von eigenen Handlungsoptionen bzw. das Einschränken von Handlungsoptionen der anderen. Wenn eine Macht davon ausgeht, dass eine andere Macht mit diesen oder jenen Mitteln dort angreifen könnte, werden dort die entsprechenden Mittel stationiert, um solch einen Angriff zu vereiteln oder zumindest weniger aussichtsreich zu machen. Strategien sind somit immer in gewisser Weise Szenarien-basiert. Strategien bergen damit meist eine Tendenz, Rüstungswettläufe zu begünstigen. Denkbar wäre auch anderes, nämlich dass Rüstungskontrolle und Abrüstungsverträge einen zentralen Raum in „Sicherheitsstrategien“ einnehmen könnten. Obwohl freilich auch Strategiepapiere für solche Prozesse und Verhandlungen erstellt werden, nehmen diese jedoch in den „Sicherheitsstrategien“ auch in Deutschland und Europa bereits seit Jahrzehnten eine marginale Rolle ein.

Zumindest westliche Strategiepapiere – und nur um diese geht es im Folgenden – geben sich überwiegend reaktiv. Sie zeichnen die Welt als gefährlichen Ort, in dem die eigene Lebensweise, die Handelswege, die Demokratie oder auch einfach nur die eigene Rolle bedroht wären. Daraus leiten sie die Notwendigkeit und vermeintliche Legitimität ab, ihre Vorherrschaft „abzusichern“, de facto auszubauen, und – so war es damals eine beliebte Redewendung – die „Globalisierung zu gestalten“. Zumindest in den prominenten, öffentlichen Strategiepapieren wird kaum, allenfalls verhohlen, eine eigene offensive Position eingenommen. Relativ klar der Fall ist dies für die Nationale Sicherheitsstrategie der USA von 2002, die vom damaligen Präsidenten George W. Bush ein Jahr nach den Anschlägen vom 11. September 2001 vorgestellt wurde.

Post-9/11: Die Nationale Sicherheitsstrategie der USA von 2002

Neben der Feststellung, dass sich die USA – nach dem Sieg der „Mächte der Freiheit“ über den „Totalitarismus“ – in der Position einer „beispiellosen militärischen Stärke, des großen ökonomischen und politischen Einfluss[es]“ befänden, wird hier bereits im Vorwort sendungsbewusst angekündigt: „Wir werden aktiv darauf hinarbeiten, die Hoffnung auf Demokratie, Entwicklung, freie Märkte in jede Ecke dieser Welt zu tragen“. Die „größte Gefahr für unsere Nation“ liege hingegen an „der Schnittstelle von Radikalismus und Technologie“, so die Einleitung weiter, die hier bereits die später folgende Präventivkriegs-Doktrin gegen sog. „Schurkenstaaten“ vorbereitet. Bemerkenswert an der Einleitung aus heutiger Sicht sind v.a. die Aussagen in Hinblick auf Russland und China, wonach sich ersteres (damals schon unter der Präsidentschaft Putins) „in einer vielversprechenden Transition“ befände und die Führung Chinas verstanden hätte, dass „ökonomische Freiheit der einzige Weg zu nationalem Wohlstand ist“. Optimistisch wird festgestellt: „Heute finden sich die großen Mächte der Welt auf derselben Seite – vereint bei gemeinsamen Gefahren durch terroristische Gewalt und Chaos“.

Eben die „Schnittstelle von Radikalismus und Technologie“ dient jedoch im weiteren Dokument, verbunden mit dessen inhärenten Sendungsbewusstein, als Figur, um weltweit präventive Angriffe auf so genannte gescheiterte und Schurken-Staaten zu legitimieren – hier wird die (widerlegte) Begründung für den Angriffskrieg gegen den Irak von 2003 mitverhandelt, quasi ausformuliert. Das relativ knappe Dokument ist bis heute in vielerlei Hinsicht lesenswert. Es verkörpert das „Ende der Geschichte“ wie kein zweites und verdeutlicht auch, an wessen Seite eine rot-grüne Bundesregierung die Bundeswehr damals in ein zwanzig Jahre währendes Desaster in Afghanistan geschickt hat (die unter einem evangelikalen Hardcore-Imperialisten veröffentlichte Strategie nimmt zu „Nahost“ hingegen eine entschiedenere Position ein, als die heutigen Lippenbekenntnissen von Biden und Harris: „There can be no peace for either side without freedom for both sides. America stands committed to an independent and democratic Palestine, living beside Israel in peace and security“).

Die erste Europäische Sicherheitsstrategie von 2003

Ein gutes Jahr später veröffentlichte die Europäische Union ihre erste „Europäische Sicherheitsstrategie“ (ESS) von 2003 unter dem Titel „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“. Hier geht es mit der EU im Grunde um einen neuen Akteur, der seinen globalen Gestaltungsanspruch begründen will. In der Analyse liegt sie zwar nahe an der zuvor veröffentlichten Strategie der USA, ist aber defensiver und optimistischer formuliert. Dieser bereits im Titel zum Ausdruck kommende Optimismus setzt sich sogleich in den ersten Sätzen der Einleitung fort: „Nie zuvor ist Europa so wohlhabend, so sicher und so frei gewesen. Die Gewalt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist einer in der europäischen Geschichte beispiellosen Periode des Friedens und der Stabilität gewichen. Die Schaffung der Europäischen Union steht im Mittelpunkt dieser Entwicklung.“ Das Dokument verweist an keiner Stelle auf Konkurrenz unter den Groß- und Regionalmächten. An mehreren Stellen wird auf bereits stattfindende und wachsende Kooperation mit Russland und – weniger – auch China verwiesen. Konkret wird festgestellt: „Wir müssen uns weiter um engere Beziehungen zu Russland bemühen, das einen wichtigen Faktor für unsere Sicherheit und unseren Wohlstand bildet.“

Gleichwohl benennt die ESS eine Vielfalt von Bedrohungen, die eben nicht von konkurrierenden Staaten, sondern v.a. von schwachen bzw. scheiternden Staaten ausgingen sowie von nicht-staatlichen Akteuren, die vor allem – aber nicht nur – in diesen erstarken. Einen großen Raum nehmen die „Organisierte Kriminalität“ und der Terrorismus ein, es ist jedoch auch von Armut, Pandemien und Migrationsbewegungen sowie der globalen Erwärmung die Rede.

Die ESS gleicht dabei der NSS, wenn auch auf einer niedrigen Eskalationsstufe. Während die EU für eigenständige große Interventionen wie den Irak-Krieg 2003 nicht gerüstet war (und bis heute nicht ist), vermied sie den in der NSS verwendeten Begriff der „Schurkenstaaten“. Die Ansprüche, jenseits eines Angriffskrieges in schwachen und gescheiterten Staaten zu intervenieren, waren trotzdem umfangreich: „Im Gegensatz zu der massiv erkennbaren Bedrohung zur Zeit des Kalten Krieges“ sei „keine der neuen Bedrohungen rein militärischer Natur“ und diese könnten auch „nicht mit rein militärischen Mitteln bewältigt werden“. Dabei sollten die eigenen „strategischen Ziele“ mit der „gesamte[n] Palette der uns zur Verfügung stehenden Instrumente der Krisenbewältigung und Konfliktverhütung, einschließlich unserer Maßnahmen im politischen, diplomatischen, militärischen und zivilen, handels- und entwicklungspolitischen Bereich“ verfolgt werden. Dabei müsse man „bereit sein, vor Ausbruch einer Krise zu handeln“ und: „Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen“. Vor allem in der eigenen Nachbarschaft gab man sich entschlossen, mitzugestalten: „Es liegt im Interesse Europas, dass die angrenzenden Länder verantwortungsvoll regiert werden. […] Wir müssen darauf hinarbeiten, dass östlich der Europäischen Union und an den Mittelmeergrenzen ein Ring verantwortungsvoll regierter Staaten entsteht, mit denen wir enge, auf Zusammenarbeit gegründete Beziehungen pflegen können“.

Zugleich hält die ESS fest: „Seit dem Ende des Kalten Krieges sind die Vereinigten Staaten der dominierende militärische Akteur. […] Die transatlantischen Beziehungen zählen zu den tragenden Elementen des internationalen Systems. Dies ist nicht nur im beiderseitigen Interesse, sondern stärkt auch die internationale Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit. […] In gemeinsamem Handeln können die Europäische Union und die Vereinigten Staaten eine mächtige Kraft zum Wohl der Welt sein.“ Es findet also keine Abgrenzung zur aggressiveren Strategie der USA statt, eher wird eine Art Arbeitsteilung angedeutet. Militärisch interveniert gegen mächtigere Staaten wird ggf. an der Seite der USA und im Rahmen der NATO, die eigenständige Außenpolitik der EU fokussiert sich jedoch auf zivil-militärische Interventionen in schwachen Staaten oder den – an eigenen Interessen und Vorstellungen orientierten – Staatsaufbau nach solchen Interventionen oder anderen Krisen.

Von der Asymmetrie zur Rückkehr der Blöcke

Die Sicherheitsstrategien der Nullerjahre unterscheiden sich dennoch in einem grundlegenden Punkt von späteren: Während man den Westen, USA, NATO und EU damals als dominierende globale Ordnungsmächte sah, hatte sich das Denken in konkurrierenden Großmächten und Blöcken tatsächlich sehr weitgehend verflüchtigt – zumindest in den offiziellen und veröffentlichten Strategiepapieren. Bereits seit einigen Jahren wird hingegen zunehmend ein Niedergang des Westens konstatiert und vor dem Aufstieg neuer Mächte gewarnt, denen eine aggressive Agenda unterstellt oder zumindest potentiell in Betracht gezogen wird. Für China hat sich bereits seit einigen Jahren der Begriff eines „systemischen Rivalen“ des Westens etabliert. Spätestens seit dem russischen Überfall auf die Ukraine geht v.a. das US-amerikanische sicherheitspolitische Establishment mit teilweise schockierender Sicherheit davon aus, dass es in den nächsten Jahren einen Krieg mit China geben wird. Aktuell warnen Vertreter*innen von NATO-Staaten fast täglich vor einem vermeintlich bevorstehenden Angriff Russlands auf die NATO.

Festgehalten werden muss allerdings, dass dieses Denken im Westen keineswegs erst mit dem russischen Angriff auf die Ukraine eingesetzt hat. So hat die IMI bereits mehrfach auf ein Papier vom September 2020 aufmerksam gemacht,[1] das vermeintlich die geopolitischen Folgen der Pandemie erörtern sollte, sich aber letztlich mit unterschiedlichen Szenarien für den möglichen Ausgang der damaligen Präsidentschaftswahlen zwischen Trump und Biden auseinandersetzte. Diese drei Szenarien betrachteten nahezu ausschließlich die drei Blöcke USA, Europa und China und ihr mögliches Verhältnis untereinander. Auch hier wurde bereits ein latenter Kriegszustand zumindest zwischen den USA und China antizipiert, während die Szenarien sich v.a. dahingehend unterschieden, wie sich Europa im Konflikt mit Russland positioniert, der quasi als Nebenschauplatz des Konflikts im Pazifik verhandelt wird.

De-Globalisierung, Technologie und Wehrpflicht

Mit der Rückkehr des Blockdenkens hat sich der Begriff der Globalisierung weitgehend aus den Strategiepapieren verabschiedet. Dies könnte als weiterer Hinweis gelesen werden, dass er v.a. eine Chiffre der eigenen Dominanz und des eigenen, westlichen Gestaltungsanspruchs war. Jetzt, da auch andere Mächte von dieser Globalisierung zu profitieren scheinen und dem Westen den Rang abzulaufen drohen, steht vielmehr das De-Coupling im Mittelpunkt. Also der Versuch, konkurrierende Mächte aus den eigenen Wertschöpfungsketten heraus- und von eigener Technologie abzutrennen. Der Handelsstreit mit China und die Sanktionen gegen Russland sind hierfür die offensichtlichsten Symptome, aber auch auf den Ebenen der Forschungs- und Bildungspolitik und sogar einzelner Forschungsinstitutionen werden gegenwärtig Strategien ersonnen, wie man hierzulande den Technologietransfer an China und Russland bereits im Kleinen unterbinden könnte.

Während mit weiteren Abkoppelungstendenzen gerade auch auf den Rohstoff- und Energiemärkten zu rechnen ist, scheint die Frage, welche Rolle zukünftig Hochtechnologien in Strategie und Krieg spielen werden, derzeit offen. Gerade für eine „Weltinnenpolitik“ nach dem „Ende der Geschichte“ schienen High-Tech-Waffen wie die sündhaft teure „Eurodrohne“ das Mittel der Wahl, um mit relativ kleinen Kontingenten große Flächen überwachen und in „schwachen Staaten“ intervenieren zu können. Im aktuellen „Abnutzungskrieg“ in der Ukraine, aber auch im „Nahen Osten“ zeigt sich jedoch, dass in vielen Fällen „Masse statt Klasse“ gilt: Nicht die technische Überlegenheit scheint den Ausschlag zu geben, sondern die Verfügbarkeit relativ einfacher Dinge wie Artilleriemunition oder billiger Kamikaze-Drohnen. Ob und inwiefern die europäische und – mit Abstrichen – auch die US-Rüstungsindustrie von den mittlerweile als „Boutiquewaffen“ geschmähten High-Tech-Produkten auf Massenproduktion umgestellt werden (können), ist gegenwärtig noch nicht klar. Ähnlich verhält es sich mit möglichen Rekrut*innen. Sollte sich die NATO tatsächlich auf einen großen Krieg mit China und Russland – verbunden mit einer weiteren Eskalation in „Nahost“ – einstellen, müssten auch hier wieder ganz andere, massenzentrierte Ansätze verfolgt werden. Entsprechende Strategien entstehen in Deutschland gerade zuhauf. Um sie im benötigten Umfang in einer vermeintlich „post-heroischen Gesellschaft“ umsetzen zu können, müssten aber noch ganz andere Bretter gebohrt werden.


[1]       Florence Gaub, Lotje Boswinkel: The geopolitical implications of the COVID-19 pandemic, Study requested by the European Parliament’s Committee on Foreign Affairs, www.europarl.europa.eu (September 2020). Ausführlicher vorgestellt wurde das Papier in: Christoph Marischka: (Tech)Geopolitik in der Pandemie, AUSDRUCK März 2021. Ein Rückblick nach der sog. Zeitenwende mit kurzer Zusammenfassung der drei Szenarien findet sich hier: Christoph Marischka: Herbeigesehnte Zeitenwende? Rückblick auf ein EU-Strategiepapier vom September 2020, IMI-Standpunkt 2022/027 (13.7.2022).