IMI-Standpunkt 2024/17 - in junge Welt, 25.7.2024

Viel Gerede – ohne Aussicht auf Frieden im Sudan

USA wollen Verhandlungen mit beiden Kriegsparteien in der Schweiz. Andere Formate bislang erfolglos.

von: Pablo Flock | Veröffentlicht am: 31. Juli 2024

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(Dieser Standpunkt erschien gekürzt am 25.7.2024 als Schwerpunktseite in der Tageszeitung junge Welt, wo er unter den Titeln Nächster Anlauf für Sudan und Russischer Seitenwechsel geführt ist)

Genaue Zahlen zu den Opfern des seit über 15 Monaten andauernde Krieges im Sudan gibt es nicht. Schätzungen reichen von mehreren zehntausend bis zu 150.000. Mehr als zehn Millionen Menschen sind seit Beginn der Kampfhandlungen zwischen der De-facto-Regierung von Militärchef Abdel Fattah Al-Burhan und der Miliz seines früheren Vizes Mohammed Hamdan Daglo aus ihren Häusern vertrieben worden. Nahezu 26 Millionen Sudanesen leiden nach Angaben der UNO vom Dienstag an Hunger – darunter 750.000, die »nur einen Schritt von der Hungersnot entfernt« sind.

Nach mehreren gescheiterten Waffenstillstandsvereinbarungen und Verhandlungsversuchen kommt aus Washington ein erneuter Vorstoß. Am 23. Juli teilte US-Außenminister Antony Blinken mit, seine Regierung habe die sudanesische Armee (SAF) und die paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) zu Waffenstillstandsgesprächen eingeladen, die am 14. August in der Schweiz beginnen sollen. RSF-Chef Dagalo erklärte daraufhin am Mittwoch, er würde sich konstruktiv an den Gesprächen beteiligen, um »einen umfassenden Waffenstillstand im ganzen Land zu erreichen und den humanitären Zugang zu allen Bedürftigen zu erleichtern«. Darüber hinaus bekräftigte er in der Erklärung seinen Willen, »Leben zu retten, die Kämpfe zu beenden und den Weg für eine friedliche, verhandelte politische Lösung zu ebnen, die das Land wieder zu einer zivilen Regierung und auf den Weg des demokratischen Übergangs zurückführt«. An den Gesprächen werden demnach die Afrikanische Union, Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und die Vereinten Nationen als Beobachter teilnehmen, so Blinken in einer Erklärung. Saudi-Arabien werde als Kogastgeber fungieren, fügte er hinzu.

Mitte Juli hatten Delegationen beider Seiten unter UN-Vermittlung im sogenannten Proximity-Format in Genf verhandelt. Beide Parteien sprachen jeweils einzeln mit dem UN-Sondergesandten für den Sudan, dem ehemaligen algerischen Vizepremierminister Ramtane Lamamra, über Wege, Zivilisten im Konflikt zu schützen und humanitäre Hilfe zu ermöglichen. Doch schon am ersten Tag war eine nicht spezifizierte Seite laut einer Sprecherin nicht erschienen, und der holprige Start der Verhandlungen schien sich fortzusetzen: So beklagte Al-Burhan, dass die Teilnehmenden auch einige Tage nach Ankunft noch kein genaues Programm oder eine Agenda vorgelegt bekommen hätten. Am Freitag endete das Treffen dann, ohne eine humanitäre Einigung zu erzielen. Lamamra habe sich jedoch seit dem 13. Juli mehrfach mit beiden Parteien getroffen, versicherte die Sprecherin der UN-Delegation.

Jedoch hatte der stellvertretende Oberbefehlshaber der SAF, Jassir Al-Atta, noch während des Treffens in Genf bei einer Beförderungszeremonie junger Offiziere erklärt: »Es wird keine Verhandlungen geben, keinen Waffenstillstand, auch wenn der Krieg 100 Jahre dauert.« Das Interesse der sudanesischen Bevölkerung liege »in der Eliminierung der RSF«, da sich der Konflikt sonst nur aufschieben würde, verkündete Al-Atta laut Sudan Tribune. Andererseits gibt Al-Burhans Regierung an, »der Plattform von Dschidda und den sich daraus ergebenden humanitären Verpflichtungen uneingeschränkt verpflichtet« zu bleiben. In der saudischen Wüstenstadt hatten sich beide Seiten im Mai unter Vermittlung von Riad und den USA darauf geeinigt, sichere Fluchtwege und die Beförderung humanitärer Hilfe zu ermöglichen.
Am 30. Juli akzeptierte nun aber auch Al-Burhan das Gesprächsangebot der USA, wo es explizit um einen Waffenstillstand gehen soll.

Sprecher und Informationsminister Graham Abdelgadir erklärte dazu am 14. Juli, seine Regierung erkenne »keine andere Einrichtung für humanitäre Hilfe als die zuständigen Regierungsstellen an«. Sie habe »in der Tat ihre Bereitschaft unter Beweis gestellt, der sudanesischen Bevölkerung in Gebieten, in denen die RSF-Miliz präsent ist, humanitäre Hilfe zu leisten«. So sei »kürzlich die Einreise von mehr als 460 Lastwagen mit humanitärer Hilfe über den Grenzübergang Al-Tina an der Grenze zum Tschad« erleichtert worden. Der Armee war wiederholt vorgeworfen worden, Hunger als Waffe einzusetzen, indem sie Hilfstrucks an Grenzübergängen zu RSF-Gebieten blockiere. Begründet wurde dies damit, dass die Trucks auch Waffen zu den Paramilitärs schmuggeln würden. Ende Juni wurde deshalb der sudanesische Botschafter aus dem Tschad zurückgeholt. Ein nicht benannter Insider der Regierung erklärte damals gegenüber der Sudan Tribune, dass der Tschad die RSF aktiv unterstützen würde, »indem er seine Grenzen für den Nachschub aus den Vereinigten Arabischen Emiraten öffnet und die Bewegung der RSF-Kommandeure und der rekrutierten ausländischen Kämpfer erleichtert«. Der Tschad sei mitschuldig an der Einmischung in sudanesische Angelegenheiten.

Die USA wollten nun auf der Arbeit von Dschidda – die faktisch keine Besserung für die sudanesische Bevölkerung gebracht hat – aufbauen, wie Außenministeriumssprecher Matthew Miller am Dienstag erklärte. Ziel des Treffens in der Schweiz sei es, die Gespräche in die nächste Phase zu bringen. Man sei zu dem Schluss gekommen, »dass die Zusammenführung der Parteien, der drei Gastgeberländer und der Beobachter die beste Möglichkeit ist, um eine landesweite Beendigung der Gewalt zu erreichen«.

Russischer Seitenwechsel

Im Kampf um die Macht in dem strategisch gelegenen Sudan am Horn von Afrika werden beiden Seiten Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen bis hin zum Genozid vorgeworfen. Wer dabei von welcher Seite unterstützt wird, bleibt oft unklar. Während Milizenchef Dagalo, dessen paramilitärische Rapid Support Forces (RSF) seit April 2023 gegen die De-facto-Regierung kämpfen, unmittelbar nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine zu Gast in Moskau war. Nun empfing Generalstabschef Abdel Fattah Al-Burhan erst Anfang Juni eine russische Delegation in Port Sudan. Bei dem Besuch bekräftigte er noch unter dem langjährigen Diktator Omar Al-Baschir geschlossene Verträge über einen russischen Marinehafen am Roten Meer als Gegenleistung für Waffenlieferungen. Manche hofften, dass Russland damit das Zünglein an der Waage für den Sieg gegen die RSF sein könnte.

Die meiste Zeit des Konflikts kämpften Söldner der russischen »Wagner«-Gruppe an der Seite der Paramilitärs, was wiederum dazu führte, dass ukrainische Spezialkräfte auf seiten der sudanesischen Armee im Einsatz waren. Nach Angaben von US-Geheimdiensten sei zwischen Februar 2022 und 2023 Gold im Wert von über 1,6 Milliarden US-Dollar aus Minen in Dagalos Privatbesitz nach Russland geschmuggelt worden. Doch schon seit dem Frühjahr scheint Moskau seine Unterstützung zu verschieben. Ende April nannte der russische Vizeaußenminister Michail Bogdanow das von der Armee gestützte Übergangsgremium, den sogenannten Souveränitätsrat, die einzig wahre Vertretung des sudanesischen Volkes. Zuvor schon sei der russische Botschafter im Sudan auf die Armee zugegangen und habe Waffenlieferungen angeboten, wie Middle East Eye (MEE) berichtete.

Mitte Juni folgte die erste explizite Resolution des UN-Sicherheitsrats seit Ausbruch des Kriegs. Russland enthielt sich bei der Abstimmung zu dem Text, der ein Ende der Belagerung durch die RSF und der Kämpfe rund um die westdarfurische Hauptstadt El Fasher fordert. Der Delegierte der Russischen Föderation erklärte, der Text stehe »im Widerspruch zur Realität vor Ort« und ignoriere prinzipielle Äußerungen der Sudanesen. Außerdem enthalte er fragwürdige Entscheidungen im Hinblick auf die Souveränität und Einheit des Landes. »Wir können der vorgeschlagenen Aufforderung an alle sudanesischen Parteien, den freien humanitären Zugang zu gewährleisten, nicht zustimmen«, erklärte er und wies den Rat darauf hin, dass die Frage der nationalen Grenzkontrolle und des Grenzübertritts jeglicher Güter »eine souveräne Angelegenheit der zuständigen Behörden« sei. Auch die »Wagner«-Gruppe gibt an, alle militärischen Aktivitäten im Sudan eingestellt zu haben, jedoch gaben ein ungenannter Diplomat und Augenzeugen aus Khartoum und Darfur gegenüber MEE an, dass russische Söldner noch vor Ort seien. Das der US-Rüstungsindustrie nahestehende Institute for the Study of War glaubt, dass Russland die Söldner abziehen könnte, um die Ukraine-Front zu stärken, und der Seitenwechsel eine Harmonisierung mit dem Iran darstellen könnte, der die sudanesischen Streitkräfte schon länger mit Drohnen unterstütze.

Auch andere Länder scheinen umzuschwenken. So trafen sich al-Burhan und der äthiopischen Premierminister, Abiy Ahmed, Anfang Juli und sagten sich zu, nicht mehr ihre inländischen Gegner, die RSF und die TPLF in Äthiopien, zu unterstützen. Südsudanesische Offizielle mussten sich kürzlich vor der SAF dafür rechtfertigen, dass viele südsudanesische Söldner bei Kämpfen mit der RSF festgenommen würden, obwohl die beiden Länder eigentlich durch den Abtransport südsudanesischen Erdöls von einander abhängig sind. Und bei einem Besuch in Westafrika unterschrieben Vertreter des Souveränitätsrats auch mit Mali Memoranden.

Hintergrund: Postkoloniale Normalität

Die Basis für immer wiederkehrende Konflikte im Sudan legte die frühere Kolonialmacht Großbritannien, die mit Unabhängigkeit 1956 das gesamte Gebiet an die arabische Elite in Khartum übergab. In der Antike und im Mittelalter blühten dort einige der ersten Hochkulturen, verschiedene endogene christliche Königreiche und mit der Einwanderung arabischer Herder auch Khalifate. Im 19. Jahrhundert wurde es zuerst vom osmanischen Ägypten und, nach einer kurzen Phase der Unabhängigkeit, dann vom britischen Ägypten erobert. Auch die Region des heutigen Südsudans, welche bis dato deutlich weniger muslimischem und arabischem Einfluss ausgesetzt war, wurde Teil des osmanischen und danach des Anglo-Ägyptischen Sudans. Zwar hatten die britischen Kolonialherren diese kulturelle Trennung verteidigt und versucht, Christen und Muslime getrennt zu halten. Dies führte ab der Gründung des Unabhängigen Sudans zu einem Bürgerkrieg im Süden des Landes, den der vom panarabischen Sozialismus später zum Islamismus übergegangene Präsident Dschafar an-Numairi 1972 kurzzeitig beenden konnte, bis die Einführung der Scharia im dann autonomen Südsudan und die Auflösung der Autonomieregierung den Konflikt wieder entfachten. Auch Omar Al-Baschir, der nach kurzen drei Jahren Demokratie mit einem Putsch 1989 wieder die islamistische Ordnung einführte, konnte die Region nicht befrieden. Bei einem Friedensvertrag im Jahr 2005 musste Al-Baschir der südsudanesischen Sudan People’s Liberation Army/Movement (SPLA/M) dann ein Referendum für das Jahr 2011 zusagen, in dessen Folge der Südsudan unabhängig wurde.

In den 2000er Jahren begannen auch andere marginalisierte ethnische Gruppen sich gegen die islamistische Diktatur aufzulehnen. So organisierten sich im westlich gelegenen Darfur die Fur, Massalit und Zaghawe in der Sudan Liberation Movement/Army (SLM/A) und dem Justice and Equality Movement (JEM); in den südöstlichen Gegenden Blauer Nil und Südkordofan gründeten die SPLA/M eine Splittergruppe, und die am Roten Meer gelegenen Beja begehrten innerhalb der Ostfront auf. Doch während die SPLA/M im ölreichen Südsudan vom Westen unterstützt wurde, da man den mit Iran verbündeten Sudan schädigen wollte, konnten die von der Regierung aufgerüsteten »Dschandschawid«-Milizen recht ungestört einen Genozid in Darfur verüben, bei dem rund 300.000 Menschen getötet wurden. Die institutionalisierte Nachfolgeorganisation der »Dschandschawid«, die Rapid Support Forces von Mohammed Hamdan Dagalo, kämpfen seit April 2023 nicht nur gegen die De-facto-Regierung in Khartum, sondern auch gegen nichtarabische Bevölkerungsgruppen in Darfur – die UNO warnt vor einem weiteren Genozid.

Zivile Vorstellungen über einen Sudan nach dem Krieg

Überschneidend zu den indirekten Gesprächen in Genf sponsorten die Afrikanische Union (AU) und die ostafrikanische Regionale Wirtschaftsgemeinschaft (IGAD) vom 10. bis 15. Juli ein sogenanntes Vorbereitungstreffen in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Dort diskutierten zivile politische und zivilgesellschaftliche Gruppen, wie der Demokratische Block, Sudans Alliance for Justice und Frauengruppen, über eine politische Neuausrichtung nach dem Krieg. Die Abschlusserklärung stimmt der sudanesischen defacto Regierung in ihrer Verurteilung der RSF und ihrer internationalen Unterstützer zwar überein, fordert jedoch beide Seiten zu einem sofortigen und bedingungslosen Waffenstillstand auf, um danach über eine technokratische Übergangsregierung und einen intrasudanesischen Dialog zu einem demokratischen Rechtsstaat zu gelangen. Interessanterweise verständigten sich die Gruppen, dass das einzige Ausschlusskriterium aus diesem intrasudanesischen Dialog, die Mitwirkung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Genozid, auch die Nationale Kongress Partei (NCP), die unter dem 2019 abgesetzten Diktator Omar al-Bashir die Regierung stellte, ausschließt. Verschiedene wichtige Gruppen, sowie die als Tagadum bekannten Zivilen Demokratischen Kräfte unter dem ehemaligen Übergangspremierminister Abdallah Hamdok, die Kommunistische Partei und die Arabische Sozialistische Ba‘ath Partei, ebenso aber die aus den regionalen Widerstandsarmeen hervorgegangene Sudanesische Befreiungsbewegung/-armee (SLM/A) aus Darfur und die dem Südsudan nahestehende Befreiungsbewegung der Sudanesischen Völker – Nord (SPLM-N) aus den südöstlichen Provinzen Blauer Nil und Südkordofan boykottierten das Treffen in Addis Abeba wegen der Einladung von NCP-Vertretern – die jedoch selbst nicht teilnahmen.

Anfang Juli trafen in Kairo schon einige dieser Gruppen auf den als der sudanesischen Armee nahestehend beschriebenen Demokratischen Block, der wiederum dem auch teilnehmenden als Tagadum bekannten Bündnis eine Nähe zur RSF unterstellt. Hamdok bestreitet dies jedoch. Da das Bündnis auch viele Gruppen der Forces of Freedom and Change umfasst, die in der Revolution 2018-19 gegen den Diktator al-Bashir beteiligt waren und dann von Armee und RSF gemeinsam niedergeschlagen worden waren, scheint die Grenze zwischen den zivilen Kräften zwischen den Befürwortern eines sofortigen Waffenstillstands und denen eines Siegs der SAF zu verlaufen.