IMI-Analyse 2024/26 - in: AUSDRUCK (Juni 2024)
Polizei: permanenter Ausnahmezustand?
von: Bernhard Klaus | Veröffentlicht am: 2. Juli 2024
„Polizei“ ist ein ziemlich globales Phänomen und was darunter verstanden wird, heißt auch in verschiedenen Regionen der Welt oft ziemlich ähnlich. Die Etymologie ist auch in diesem Fall ganz interessant und führt natürlich nach Griechenland und Rom. Man könnte also sagen, es handelt sich um eine europäische Erfindung, die mittlerweile global etabliert wurde. Das ist ja schon einmal eine interessante Feststellung…
Die „gute Polizey“
Unter Polizei stellen sich die meisten Menschen wahrscheinlich zunächst Menschen (v.a. Männer) in Uniformen vor, die Waffen tragen und Menschen anhalten und durchsuchen können. Bemerkenswert präsent ist auch die Assoziation mit den entsprechenden Fahrzeugen und ihrem „Funkverkehr“ – letzteres vielleicht stellvertretend für ihre Einbettung in eine permanente und hierarchische Struktur. Diese Reduktion auf bewaffnete und uniformierte Menschen führt möglicherweise etwas in die Irre: Historisch wie praktisch könnte und sollte man zur Polizei auch Behörden wie die KFZ-Zulassungsstellen, die Einwohnermeldeämter, die (auch für Handel und Gewerbe zuständigen) Ordnungsämter, den Wirtschaftskontrolldienst etc. und die von ihnen gepflegten Datenbanken zählen. Tatsächlich betreffen auch viele der aktuell stattfindenden Projekte Deutschlands und der EU zum „Polizeiaufbau“ in Drittstaaten im Kern den Aufbau solcher Behörden und Datenbanken als Voraussetzung für das landläufige Verständnis von Polizeiarbeit (was gäbe es auch sonst zu kontrollieren?)
„Polizei“ kommt über Umwege natürlich von der Polis – dem Sklav*innen ein- wie ausschließenden Gemeinwesen – und beinhaltet den Anspruch, innerhalb dessen eine „gute Ordnung“ herzustellen und zu gewährleisten. Der Historiker Achim Landwehr[1] beschreibt die Herausbildung der „guten Policey“ (ein gewinnbringendes Suchwort) in der frühen Neuzeit. Auch diese Darstellung mag das vorherrschende Bild von Polizei irritieren. Es handelte sich zunächst um explizit temporäre Verordnungen der jeweiligen territorialen Obrigkeiten in Reaktion auf Situationen wie schlechte Ernten, Viehseuchen, Preissteigerungen, Epidemien, die Verbreitung vermeintlich schlechter Gewohnheiten und Sitten usw. und betrafen u.a. „Arbeitsverbote an Sonntagen, Untersagung von Glücksspielen, Vorschriften für Hebammen und Kontrolle von Marktpreisen“. Den zunächst explizit temporären Ansatz begründet Landwehr damit, dass zu jener Zeit die grundsätzliche Ordnung noch als gottgegeben verstanden wurde. Die weltliche Ordnung, die sich ebenfalls gottgegeben inszenierte, konnte und durfte nicht in diese Ordnung eingreifen und fand in tatsächlichen oder vermeintlichen Ausnahmezuständen – Verfehlungen der Menschen, Verfall der Sitten und vermeintlichen Strafen Gottes – doch einen Weg, sich zu behaupten, zu konstituieren. Landwehr schreibt in diesem Zusammenhang, „dass frühneuzeitliche Policey niemals zu einer dauerhaften Institution werden wollte, ja dass sie sich über einen verhältnismäßig langen Zeitraum geweigert hat, den Status eines unverzichtbaren herrschaftlichen Mittels, das sie längst erreicht hatte, anzuerkennen“. Zugleich aber hätte sich die – damals noch gar nicht so sehr repressiv gedachte und mit wenig Gewaltmitteln ausgestattete – Policey als flexibles Herrschaftsinstrument erwiesen, das auch „von unten“ und von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gefordert, geprägt und instrumentalisiert worden sei, um innergesellschaftlich Konflikte zu moderieren bzw. (gewaltsam) zu entscheiden.
Der (lesenswerte) Kriminologe Thomas Feltes beschreibt die anschließende Entwicklung folgendermaßen: „Bis zum 17. Jahrhundert wurde mit ‚Polizei‘ allgemein ein Zustand ‚guter Ordnung des Gemeinwesens‘ bezeichnet. Diese ‚gute Polizey‘ umfasste weite Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens: Die Regelung des Wirtschaftsverkehrs (Monopole, Zölle, Maße und Gewichte, Preise) gehörte ebenso zu den Aufgaben der Polizei wie die Durchsetzung von Vorschriften gegen Luxus, über die Berufs- und Religionsausübung, die Sittlichkeit, oder zum Liegenschafts- und Erbschaftsrecht. Im absoluten Fürstenstaat des 18. Jahrhunderts wurde die Polizeigewalt zum wichtigsten Bestandteil der in der Person des Fürsten vereinigten, absoluten Staatsgewalt. Polizei war Hoheitsrecht des absoluten Herrschers, der damit das gesamte soziale Leben seiner Untertanen reglementieren und Anordnungen mit Zwang durchsetzen konnte. […] Dieser ‚Polizeistaat‘ war aber auch ein polizeilicher Wohlfahrtsstaat: Die ‚Beförderung der allgemeinen Wohlfahrt‘ oder auch der ‚allgemeinen Glückseligkeit‘ waren Aufgabe der Polizei. Diese Begriffe dienten dazu, das Recht des Monarchen zu umschreiben, den Untertanen alles vorzuschreiben und sie in allen Bereichen zu bevormunden.“[2]
Polizei im modernen Staat
Nach der Aufklärung trat der „Bürger“ an die Stelle der Untertanen und sein Schutz und der Schutz seines Eigentums wurden zur neuen Legitimation staatlicher Gewalt. Denn ohne diesen, so die neue, säkulare Ideologie, sei der Mensch dem Menschen ein Wolf, würden alle übereinander herfallen. Mit der Entstehung der modernen Staatlichkeit zerfiel die „Polizey“ in ihre beiden Komponenten – Sicherheit und Wohlfahrt – die neu geborene Institution der „Polizei“ war nun in aller erster Linie auf ersteres ausgerichtet, die neu entdeckte „Innere Sicherheit“. Gegenüber der Polizey war die neue Institution deutlich stärker auf Gewalt und Zwang ausgerichtet, während die „Wohlfahrt“ u.a. durch weniger gewaltsame Formen wie (Pflicht-)Versicherungen bearbeitet wurde. Weitere sozioökonomische Entwicklungen, die dies befördert haben, deutet Karl Härter zumindest an:[3] Bereits nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) habe sich die Zahl der „marginalisierten, migrierenden“ Bevölkerungsgruppen deutlich erhöht, im neunzehnten Jahrhundert hat sich die Gesamtbevölkerung auf dem europäischen Kontinent mehr als verdoppelt. Nicht erwähnt wird von Härter die sog. Industrielle Revolution und die Herausbildung einer Arbeiterklasse. Die „Fremden“, das „Fahrende Volk“, die armen und marginalisierten Bevölkerungsgruppen waren bereits für die Polizey – das beschreiben alle drei bisher genannten Autoren – eine wesentliche Legitimationsgrundlage und Gegenstand besonderer „Aufmerksamkeit“. Auch der moderne, bürgerliche Staat schützte „seine“ Bürger und deren Eigentum nicht nur oder in erster Linie gegenüber sich selbst (oder gar dem Staat, haha), sondern gegen die Anderen, die Habenichtse und (andere) Nicht-Bürger. Daneben weist Karl Härter jedoch noch auf einen anderen Punkt hin. Mit der Herausbildung des frühen modernen (man könnte ergänzen: kapitalistischen) Staates zerfielen nicht nur die Bereiche Sicherheit und Wohlfahrt in unterschiedliche Bereiche und Organisationsformen der Staatsgewalt, der Bereich „Innere Sicherheit“ wurde zudem von dem der äußeren Sicherheit abgetrennt, für deren Bearbeitung Armeen aufgestellt wurden. Diese schufen, so Härter, auch neue Aufgabenfelder für die Polizei: Auch Deserteure und Veteranen galten als kriminelle bzw. gefährliche Gruppen, die verfolgt bzw. besonders aufmerksam beobachtet wurden.
Kolonialismus und Kasernierung
Dass die funktionelle Ausdifferenzierung zwischen Innerer und äußerer Sicherheit in den Kolonien nicht annähernd so weit ausgeprägt war, wie in den Staaten selbst, liegt auf der Hand, schließlich fließt hier beides offensichtlich ineinander. Zudem gab es in den Kolonien ja kaum oder keine „Bürger“ die voreinander geschützt werden müssten, sondern allenfalls Bürger und die Macht über die Kolonien, die vor Aufständen geschützt werden sollten. Die Funktion der Aufstandsbekämpfung als besonders gewaltsame, hybride Form zwischen Polizei und Militär manifestiert sich bis heute in einigen ehemaligen Kolonialmächten in Gendarmerien und den Reaktionen insbesondere Frankreichs auf Unruhen z.B. in Pariser Vorstädten oder jüngst in Neukaledonien. Doch auch andere (europäische) Staaten haben kasernierte und auch auf den Einsatz in größeren Verbänden ausgerichtete Polizeien aufgebaut, zunächst v.a. für die (sporadische) Poliziierung entlegener und marginalisierter Regionen auf dem eigenen Territorium – wo der alltägliche „Schutz der Bürger“ keine besondere Priorität genoss. Die Funktion der Aufstandsbekämpfung hingegen ist diesen militarisierten Einheiten inhärent. Das Besondere an ihnen ist außerdem eine spezifische Form der Territorialität, ebenfalls ein koloniales Erbe. So wie die Kolonialtruppen überwiegend aus den Metropolen (oder anderen Kolonien) stammten, wird auch die kasernierte Polizei – in Deutschland etwa die Bundespolizei – in der Regel nicht dort eingesetzt, wo deren Angehörige leben und/oder aufgewachsen sind. Auch hierbei spielt die Potentialität der Aufstandsbekämpfung durchaus eine Rolle.
Aufstandsbekämpfung und Rassimus
Mit Ausnahme einiger Sezessionsbewegungen, die es auch in Europa noch gibt, hat sich jedoch der Fokus der potentiellen Aufstandsbekämpfung von den entlegenen, marginalisierten Gegenden wieder mehr in die Städte oder die Fläche insgesamt verschoben und – hier könnte man durchaus wiederum koloniale Kontinuitäten erkennen – zielt dabei ganz überwiegend auf Stadtteile und Bevölkerungsgruppen, die zumindest marginalisiert UND migrantisch gedacht werden: Beispiele hierfür könnten Palästina-Proteste in Neukölln oder auch die (vermeintlichen) Krawalle in Stuttgart während der Pandemie sein. Protesten oder auch nur gemeinsamen Aktivitäten von migrantisch gedachten Bevölkerungsgruppen wird viel früher mit kasernierter Polizei und einem deutlich höheren Gewaltniveau begegnet, ohne dass dies von der „Mehrheitsgesellschaft“ problematisiert wird. Als mit einem vergleichbaren Kräfte- und Gewaltansatz gegen „Bürger“ vorgegangen wurde, die ebenfalls in Stuttgart gegen ein (irrsinniges) Bahnprojekt protestierten, gab es hingegen einen bundesweiten Aufschrei. Die Demonstrierenden konnten hier nicht als die „Anderen“, als potentiell gefährliche Gruppe stilisiert werden, die Legitimität der Staatsgewalt als Schutz Aller gegen Alle – und insbesondere der Bürger gegen Andere – wurde hier (plötzlich) in Frage gestellt und entlarvte sich als Ideologie.
Ausnahmezustand, Terror und Amoklagen
Der eingangs zitierte Historiker Landwehr „versucht“ (das schreibt er selbst) aus seiner Darstellung der zunächst explizit temporären Polizey abzuleiten, dass Polizey und auch die heutige Polizei stets den Ausnahmezustand braucht und in sich trägt, als Institution selbst der Ausnahmezustand in Permanenz ist. Dieser Ansatz zur Erklärung von Staatsgewalt hat einiges für sich – v.a., wenn man die Konstruktion der Anwesenheit der gefährlichen „Anderen“ als Ausnahmezustand einbezieht. Man könnte damit auch jene Szenarien und daraus abgeleitete Reformen auch der lokalen, alltäglichen Polizeiarbeit fassen, die Martin Kirsch als weitere Militarisierung der Polizei beschreibt:[4] Die Ausrichtung und Vorbereitung auf Terror- und Amoklagen, die quasi per Definition jederzeit, an jedem Ort und unvorbereitet auftauchen können. Als erstes vor Ort ist meist die Besatzung des nächsten Streifenwagens, die zunehmend dafür ausgerüstet und ausgebildet wird, gleich zu reagieren, womöglich auch den Täter zu erschießen. Auch die Bereitschaftspolizeien und Sondereinsatzkommandos der Länder wurden, wie Kirsch beschreibt, in den vergangenen Jahren zunehmend auf solche Lagen ausgerichtet, für diese ausgebildet und ausgerüstet und erhielten in vielen Ländern in den vergangenen Jahren mit neuen Polizeigesetzen erweiterte Befugnisse. Ein deutliches Zeichen dafür, dass sich der staatliche Ausnahmezustand wieder verstärkt in die Politik und auch die alltägliche Polizeiarbeit einschreibt. Zumindest einigen der Menschen in individuellen, psychischen Ausnahmezuständen, die in den letzten Jahren in vermeintlicher Notwehr von der Polizei erschossen wurden – oft in einem wahren Kugelhagel polizeilicher Todesschüsse – dürften diese Entwicklungen ihr Leben gekostet haben.
Anmerkungen
[1] Achim Landwehr: ‚Gute Policey‘ – Zur Permanenz der Ausnahme, in: Alf Ludtke/ Michael Wildt: Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes, Wallstein-Verlag 2008.
[2] Thomas Feltes: Soziale Arbeit und Polizei, in: Hans Uwe Otto/ Hans Thiersch: Handbuch Soziale Arbeit (4. Auflage), Reinhardt 2011.
[3] Karl Härter: Security and ‚Gute Polizey‘ in Early Modern Europe: Concepts, Laws, and Insturments, in: Zentrum für historische Sozialforschung: Historische Sozialforschung, Vol. 35 (2010), Special Issue: Human Security.
[4] Martin Kirsch: Militarisierung der Polizei – Massive Aufrüstung im Namen der Terrorabwehr, IMI-Studie 2017/05, imi-online.de.