IMI-Standpunkt 2024/011 - in: junge Welt, 8.6.2024

Drohender Genozid im Sudan

Regelmäßige Massaker, Hungerkatastrophe und ein Seitenwechsel Russlands.

von: Pablo Flock | Veröffentlicht am: 11. Juni 2024

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Der nun über ein Jahr andauernde Krieg zwischen verschiedenen Fraktionen der sudanesischen Sicherheitskräfte fordert weiterhin viele Tote unter der Zivilbevölkerung und ist verantwortlich für eine der größten humanitären Katastrophen weltweit. Jüngst seien bei einem Angriff am 7. Juni 2024 durch Artilleriefeuer auf Omdurman rund 40 Zivilisten ums Leben gekommen, wie die AFP berichtet. Das örtliche Karari Resistance Komitee macht die Rapid Support Forces (RSF) für den Angriff verantwortlich.1

Zwei Tage zuvor, am Mittwoch, 5. Juni, starben bei einer Attacke der RSF auf das Dorf Wad Al-Nura im Bundesstaat al-Dschasira über 100 Menschen, darunter laut UNHCR mindestens 35 Kinder.2 Die RSF hingegen gab an, Stellungen der gegnerischen sudanesischen Armee (SAF) um das Dorf Wad al-Noura angegriffen zu haben. Wie Augenzeugen gegenüber der CNN es darstellten, gäbe es jedoch keine Stellungen der Armee in dem Dorf, sondern nur eine 30km südwestlich. Laut ihnen würde die Gegend, die als Brotkorb des Landes gilt, attackiert, um Hunger als Waffe einzusetzen und durch die ausgelöste Hungersnot und den Wegfall anderer Einkommensmöglichkeiten die Rekrutierung in die Söldnerarmee hoch zu treiben.3

Drohender Genozid

Im Mai hatte die Sonderberaterin zur Verhinderung von Genozid der Vereinten Nationen, Alice Wairimu Nderitu, vor einem Genozid in der Region Darfur im Westen des Sudans gewarnt.4 Die Provinzhauptstadt El Fasher ist die letzte Stadt der Region, in der sich die SAF noch halten konnte. Die Gefechte um die Stadt forderten laut Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontièrs: MSF) bis zum 5. Juni mindestens 302 Menschenleben und über 900 Verletzte, wobei jedoch nur die Opfer gezählt wurden, die im Krankenhaus von MSF ankamen. Mittlerweile wurde diese Krankenhaus jedoch wegen nicht abbrechender Angriffe auf die humanitären Helfer geschlossen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO warnte vor den katastrophalen Konsequenzen dieser Entwicklung, da dies das einzige Krankenhaus mit Möglichkeiten zu chirurgischen Operationen in der belagerten Stadt mit derzeit rund 1,8 Millionen Einwohnern sei.5

Die RSF ist eine noch unter dem ehemaligen Diktator Omar al-Bashir institutionalisierte Organisation der aus sich als arabisch verstehenden Ethnien in Darfur rekrutierten Dschandschaweed-Milizen, die der Diktator Anfang des Jahrtausends bewaffnete, um einen lokalen Aufstand marginalisierter Ethnien in der Region nieder zu schlagen. Die großflächige Vertreibung und das Ermorden von rund 300.000 Menschen dieser Gruppen zwischen 2003 und 2008 wird heute als erster Genozid des Jahrhunderts gesehen.

Während der erste Anführer der Gruppe in Den Haag beim Internationalen Strafgerichtshof einsitzt, hat es sein Nachfolger, Mohamed Hamdan Dagalo, zum General geschafft. Während der Revolution im Jahr 2019 hatte Dagalo, der meist beim Spitznamen Hemedti genannt wird, zusammen mit seinem Vorgesetzten, dem Generalinspekteur, Abdel Fattah al-Burhan, ihren Chef al-Bashir abgesetzt, sich aber bald gegen die Revolution gewendet. Dies wurde offensichtlich als während des sogenannten Khartoum Massaker, welches sich nun am 3. Juni zum fünften mal jährte, über 140 Demonstrierende erschossen und über 70 vergewaltigt wurden, die sich nicht mit der Absetzung des Diktators abspeisen lassen wollten und ihr Protestcamp bis zur Einsetzung einer zivilen Regierung aufrecht erhalten wollten. Nachdem die beiden Generäle das Land zuerst zusammen beherrschten, bekriegen sie sich seit dem April letzten Jahres auf dem Rücken der Bevölkerung.

Nun droht einerseits eine Neuauflage des Genozids vor 20 Jahren. Denn wo die RSF hinkommen, massakrieren und vergewaltigen sie die Angehörigen der Massalit, der Zaghawa und anderer, oft dunkelhäutigerer, als nicht arabisch wahrgenommenen Ethnien. Das seit Beginn des aktuellen Kriegs schlimmste Verbrechen dieser Art soll sich Mitte Juni 2023 ereignet haben, als die RSF fliehende Menschen aus der einst hauptsächlich durch Massalit bevölkerten Stadt El Geneina aufgehalten und 10-15.000 Zivilisten ermordeten.6

„Größte humanitäre Katastrophe“

Im vergangenen Jahr wurden sechs Millionen Menschen innerhalb des eigenen Landes vertrieben. Weitere 1,5 Millionen Menschen flohen in die Nachbarländer. Mit insgesamt nun knapp 10 Millionen Binnenvertriebenen hat der Sudan den zweifelhaften ersten Platz im weltweiten Ranking, wie das Internal Displacement Monitoring Centre jüngst berichtete. Das sind rund 25% der 40 Millionen Menschen umfassenden Bevölkerung. Wegen durch die Kämpfe abgeschnittenen Versorgungsrouten leiden rund 18 Millionen Menschen an Hunger.7 Wie das UNHCR Ende Mai berichtete, konnten jedoch bisher nur 16% der benötigten 2,7 Milliarden Dollar von internationalen Gebern gesammelt werden.8

Wechselt Russland die Seite?

Nun soll scheinbar ein Deal ausgerechnet mit Russland es für die SAF regeln. Bei einem Besuch im Kreml Anfang Juni sei ein ursprünglich mit al-Bashir geschlossenes Abkommen über einen Militärhafen am Roten Meer nördlich der Stadt Port Sudan erneuert worden. Im Gegenzug sollen Waffenlieferungen versprochen worden sein.9 Das Interessante daran: Söldner der mittlerweile aufgelösten Wagner-Gruppe hatten auf Seiten der RSF gekämpft, während ukrainische Spezialeinheiten teilweise die Armee unterstützt hatten. Als weiterer Unterstützer der RSF werden die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) gesehen, wohin die RSF vor dem Krieg den größten Teil des Golds schmuggelten, dessen sudanesische Minen sie nun wohl komplett beherrschen. Die VAE bestreiten jedoch weiterhin die Gruppe mit militärischen Gütern zu unterstützen.

Nun bleibt zu hoffen, dass Russland zumindest nicht beide Seiten bewaffnet und nur dem diktatorischen General zum Sieg verhilft, der im Moment die Macht über die Realisierung des für Russland geopolitisch wichtigen Hafens hat. Damit das Massenmorden endlich ein Ende hat.

Anmerkungen:

1 Sudan activists say about ‚40 dead‘ in shelling near Khartoum guardian.ng 7.6.2024

2 At least 55 children reportedly killed and injured amid fighting in Wad al Noura, Sudan. Statement by UNICEF Executive Director Catherine Russell. unicef.org 6.6.2024

3 Tawfeeq, Mohammed und Hamdi Alkhshali: Villagers flee in terror as 150 reportedly killed in Sudan rebel attack. edition.cnn.com 6.6.2024; Das System erzwungener und erpresster Rekrutierung auch hier: Pallabi Munsi, Nima Elbagir, Barbara Arvanitidis und Mark Baron: ‘Enlist or die’: Fear, looming famine and a deadly ultimatum swell the ranks of Sudan’s paramilitary forces. edition.cnn.com 21.3.2024

4 U.N. warns of growing risk of genocide in Sudan. edition.cnn.com 12.5.2024

5 Sudan crisis: UN health agency alerts over attack on key hospital. news.un.org 10.6.2024

6 Nichols, Michelle und Maggie Michael: Ethnic killings in one Sudan city left up to 15,000 dead, UN report says. reuters.com20.1.2024

7 Sudan: WFP expands emergency response; scores dead in village massacre. news.un.or 6.6.2024

8 Sudan: as millions face famine, humanitarians plead for aid access. news.un.org 31.5.2024

9 Hendawi, Hamza: Sudan army set to give Russia Red Sea base in exchange for arms. msn.com 5.6.2024

(Dieser Artikel ist die ungekürzte und aktualisierte Version eines Artikels der am 8. Juni 2024 unter dem Titel Nächstes Massaker im Sudan in der Tageszeitung junge Welt erschien)