IMI-Standpunkt 2023/006

Hershs Pipeline-These

Diskussion bislang unzureichend, Skepsis scheint (immer) angebracht

von: Bernhard Klaus | Veröffentlicht am: 17. Februar 2023

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Am 8. Februar hatte der berühmte Investigativ-Journalist Seymour Hersh einen ausführlichen Artikel publiziert, der recht detailliert Planungen und Ablauf der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines durch die US-Regierung darstellt. Der Beitrag, der in jedem Falle lesenswert ist, wurde mittlerweile von der Tageszeitung junge Welt auch auf deutsch übersetzt.

Die deutschen Leitmedien haben recht wenig über den spektakulären Vorwurf an die US-Regierung berichtet und dies oft in Verbindung mit einer allgemeinen Diffamierung des Autors. Dies wiederum wurde u.a. von der Redaktion von Telepolis und in einem Beitrag bei uebermedien.de zurecht kritisiert. Harald Neuber von Telepolis weist auf einen groben handwerklichen Schnitzer in verschiedenen deutschen Medien hin:

„Ferner hat Hersh die grundlegenden Pflichten eines Journalisten erfüllt: Er konfrontierte das Weiße Haus und die CIA mit seinem Informationen und zitierte die Antworten… Auch mehrere deutsche Mainstream-Medien führten diese Zitate an, ohne darauf hinzuweisen, dass sie aus dem Artikel selbst stammten. Sie verwendeten Hershs Arbeit sozusagen gegen ihn.“

Friedemann Vogel relativiert bei uebermedien.de den Vorwurf, dass sich Hersh nur auf eine anonyme Quelle beziehe:

„Die Bundespresse arbeitet vielfach mit anonymen Quellen oder übernimmt – teilweise kommentarlos – ungeprüfte oder nur schwer prüfbare Informationen. Das heißt dann ‚aus gewöhnlich gut unterrichteten Quellen‘, ‚Insider berichten‘, ‚Szenekenner wissen‘ oder ’nach Geheimdiensterkenntnissen‘ usw. Gerade aktuell im Kriegsdiskurs werden nahezu täglich ‚Geheimdienstinformationen‘ weitergeben, als seien die Dienste neutrale Beobachter des Geschehens. Ähnliches gilt auch mit Blick auf den in den vergangenen Jahrzehnten stark zunehmenden Rückgriff auf den Expertentopos, also dem Referat von gesprächsbereiten ‚Experten‘ ohne Prüfung auf etwaige Interessenskonflikte (‚Denkfabriken‘) oder deren Status innerhalb der jeweiligen Fachcommunity.“

Ein negatives Beispiel ist demgegenüber etwa der Beitrag von Jan Schneider aus der Redaktion von ZDF Heute unter dem Titel „Nord Stream: Die Stille nach der Explosion“. Hier wird Hershs „These“ knapp unter der Zwischenüberschrift „Und dann doch Verschwörungstheorien rund um die Gaspipelines“ abgehandelt und damit subtil eingeordnet. Dass die auch vom ZDF zunächst umfangreich kolportierte Einschätzung, wonach Russland hinter den Anschlägen stehe, als Verschwörungstheorie bezeichnet wird, passiert hingegen nicht und kann man sich auch erstaunlich schlecht vorstellen. Wesentliche Teile des Artikels zielen demgegenüber darauf ab, die massive Intransparenz der Ermittlungen im Kern zu legitimieren, um sie dann am Ende doch vorsichtig zu kritisieren: „Der Mangel an offiziellen Informationen kann … Verschwörungstheorien weiter befeuern“. Besonders Nonchalant ist in dem Beitrag u.a. die Begründung, warum selbst das Parlamentarische Kontrollgremium nicht informiert wird:

Die Bundesregierung ist nach dem Kontrollgremiumgesetz sogar dazu verpflichtet, das ‚PKGr umfassend über die allgemeinen Tätigkeiten der Nachrichtendienste und über Vorgänge von besonderer Bedeutung zu unterrichten‘. Im Falle der Nord-Stream-Ermittlungen wird dieser Grundsatz aber mit zwei Begründungen ausgehebelt: Die Informationen unterliegen den Restriktionen der sogenannten ‚Third-Party-Rule‘. Das ist eine Absprache zwischen den Nachrichtendiensten verschiedener Länder, die sinngemäß besagt, dass Informationen nicht ohne das Einverständnis der jeweils anderen weitergegeben werden dürfen. Außerdem ist die Informationsweitergabe an das Gremium immer dann zusätzlich eingeschränkt, wenn der Generalbundesanwalt Ermittlungen leitet.“

Dass eine „Absprache zwischen Nachrichtendiensten“ deutsches Recht aushebelt, wäre doch einer weiteren Erörterung wert gewesen.

Etwas überzeugender als die subtile Einordnung als Verschwörungstheorie u.a. im ZDF-Beitrag ist die im deutschsprachigen Raum mehrfach zitierte Einschätzung durch einen anderen verdienten Investigativ-Journalisten, Bob Woodward. Über dessen Sicht berichtet u.a. der österreichische Standard:

‚Eine Menge Leute haben ihn gebeten, die Story nicht zu veröffentlichen, weil sie einfach nicht wahr ist‘, berichtete Woodward. Doch leider habe der 85-Jährige nicht auf den Rat seiner Freunde gehört. Tatsächlich scheint die vermeintlich spektakuläre Enthüllung den Geruchstest in verschiedenen Redaktionen nicht bestanden zu haben. Darauf deutet hin, dass keine renommierte Zeitung die Story druckte, sondern Hersh sie über seinen Blog verbreiten musste.“

Eine tatsächliche Plausibilitätsprüfung der von Hersh genannten Details – von den Motiven des engen NATO-Verbündeten ganz zu schweigen – findet hingegen in der deutschsprachigen Presse kaum statt. Auf englischsprachigen Blogs hingegen, gerade auch solchen mit Nähe zu Verschwörungstheorien, finden sich verschiedene lesenswerte Beiträge, die durchaus Skepsis hervorrufen.

So erschien auf der selben Plattform, wie Hershs „Enthüllung“, bereits nach sieben Stunden ein weiterer Beitrag eines Bloggers (welcher sonst gewagten bis kruden Thesen gegenüber nicht abgeneigt scheint), der Hershs Darstellung zwar im großen und ganzen als „plausibel“ einschätzt, aber einen Punkt in Frage stellt, der auch seit dem mehrfach aufgegriffen wurde. Dabei handelt es sich um die Tatsache, dass es eine erste Explosion an der Pipeline Nord Stream 2 bereits 17 Stunden und etwa 80km entfernt von den folgenden Explosionen gab und zwar an einem Ort, wo beide Pipelines relativ weit entfernt voneinander verlaufen. Darauf gehe Hersh gar nicht ein und das passe nicht zu seiner Geschichte, wonach der Ort des Anschlags gerade danach ausgewählt worden sei, dass beide Pipelines nahe beieinander liegen und somit die Sprengladungen in einer relativ kurzen verdeckten Operation durch Taucher angebracht hätten werden können. Laut Hershs Darstellung wurde das Signal zur Zündung dieser Sprengladungen durch eine Sonarboje ausgelöst, die erst kurz zuvor von einem norwegischen Seefernaufklärer vom Typ P8 Poseidon abgeworfen worden sei. Das klingt für Laien erst einmal unnötig kompliziert und für ebendiese sind auch die von Hersh angeführten Überlegungen dahinter schwer einzuschätzen. Mit zwei verschiedenen Orten, an denen mit großem zeitlichen Abstand Sprengungen ausgelöst wurden, ist es aber schwer in Einklang zu bringen. Der hier zitierte Blogger ordnet dieses Problem jedoch so ein, dass die frühere Explosion am entfernten Ort nicht zwingend den geschilderten Hergang bei den anderen Explosionen infrage stelle, aber doch eine erhebliche Leerstelle sei.

Am folgenden Tag erschien auch auf dem britischen Portal The Daily Sceptic, das sich ansonsten v.a.in Bezug auf Covid und den Klimawandel skeptisch zeigt, ein Beitrag, der auf verschiedene Probleme bei Hershs Darstellung verweist. Am umfangreichsten wird dabei auf die Begründung Hershs eingegangen, warum spezialisierte Taucher der Navy eingesetzt wurden und keine Einheiten, die dem Special Operations Command angehören, dessen verdeckte Operationen vorab der sog. „Achterbande“, einer Art Geheimdienst-Ausschuss des US-Kongresses, mitgeteilt werden müssten. Um dies zu umgehen, habe es auch andere rechtliche Möglichkeiten gegeben und auch die Achterbande sei der Geheimhaltung verpflichtet. Ihre Einbeziehung bei einer solch kritischen Operation hätte deren Legitimität erhöht und dem Präsidenten eher Rückendeckung gegeben. Skeptisch zeigt sich der Bericht auch dahingehend, dass die Sprengladungen im Zuge des NATO-Manövers BALTOPS 22 angebracht worden seien, um die Aktivitäten der Marinetaucher zu verschleiern. Gerade während des Manövers dürften Russland die Aktivitäten vor Ort besonders aufmerksam verfolgt und dokumentiert haben. Es ließe sich ergänzen, dass zu dieser Zeit die Aufklärungsdichte in der Region insgesamt besonders hoch gewesen sein dürfte.

Insgesamt befasst sich viel Kritik an Hershs Darstellung damit, dass die US-Administration einerseits alles getan habe, um den Kreis der Eingeweihten möglichst klein zu halten und undichte Stellen zu vermeiden, und andererseits gerade nach seinen Ausführungen doch verschiedenste Akteure eingebunden gewesen sein sollen. Konkret genannt werden von Hersh – neben verschiedenen US-Personen und Strukturen – der norwegische Geheimdienst und die norwegische Marine. Kritiker weisen zudem darauf hin, dass die genannten Seefernaufklärer, welche die Sonarboje ausgesetzt hätten, von der norwegischen Luftwaffe betrieben werden – und dass der konkret genannte Typ zu dieser Zeit noch gar nicht in Dienst gestellt worden sei.

Der Beitrag, welcher bislang vermutlich zumindest von den seriöseren Quellen am meisten referenziert wurde, um auf Ungereimtheiten in Hershs Darstellung hinzuweisen, stammt von um Oliver Alexander und erschien ebenfalls auf der gleichen Plattform, wie der ursprüngliche Beitrag Hershs und nur zwei Tage später. Alexander wird in den Kommentaren mehrfach eine große Nähe zum US-Sicherheitsapparat vorgeworfen, um ihn als voreingenommen darzustellen. Er greift viele der bislang genannten Kritikpunkte auf und konkretisiert sie teilweise, u.a. anhand von öffentlich einsehbaren Transponderdaten der mutmaßlich beteiligten Schiffe und Flugzeuge. Recht überzeugend ist dies wiederum bezüglich des angeblich als Routineflug getarnten Einsatzes eines norwegischen Seefernaufklärers vom Typ P8 Poseidon. In aller Kürze werden Alexanders Kritikpunkte u.a. hier zusammengefasst und zur Diskussion gestellt.

Dass sein Beitrag voreingenommen ist, kann man ohne Probleme bestätigen; der Absicht, Hershs „Pipeline-Traum“ – frei übersetzt – zu „durchlöchern“, wird im Titel ganz offen Ausdruck verliehen. An diesem Vorgehen ist grundsätzlich nichts auszusetzen, ein solches ist vielmehr zu begrüßen, wenn ein Enthüllungsjournalist derart detailliert eine Version von Ereignissen darstellt, die von solch enormer und grundlegender Bedeutung sind, dass sie im Grunde den Fortbestand der NATO in Frage stellen könnten – wenn die beteiligten Regierungen dazu bereit wären.

Auf den ersten Blick sind es gerade die vielen von Hersh genannten Details, die seine Darstellung glaubwürdig machen, weil sie sie auch widerlegbar erscheinen lassen. Implizit nimmt man an, dass ein Investigativ-Journalist von Hershs Kaliber vor der Veröffentlichung alle oder zumindest viele dieser Details nachgeprüft und mit Expertinnen auf ihre Plausibilität hin diskutiert hat. Diesen Eindruck erwecken seine Enthüllungen in diesem Fall auf den zweiten Blick tatsächlich eher nicht.

Jenseits der in Deutschland sehr polarisierten Debatte positioniert sich Jan van Aken im Neuen Deutschland:

Es waren, so Hersh, die USA, die die Gaspipeline Nordstream im September vergangenen Jahres gesprengt haben. Die Geschichte liest sich wie ein echter Thriller, hört sich logisch an – aber ist sie auch wahr? Ich weiß es nicht, und das ist eine unbefriedigende Antwort.“

Zwar haben laut van Aken „die USA … durch die Sprengung von Nordstream am meisten zu gewinnen, und Biden könnte mit so einer Aktion der Stärke seine Wiederwahl wohl wahrscheinlicher machen“. Andererseits müsse man stets einkalkulieren, das Geheimdienste „zwei, drei, vier Mal um die Ecke“ denken. Falls es die USA wirklich gewesen wären, würden das vermutlich niemals abschließend aufgeklärt, so Aken weiter:

Die Bundesregierung, die die Untersuchungen in der Tiefe durchführt, ist nicht neutral. Sie kann deshalb keine überzeugende Aufklärungsarbeit leisten. Nur mal angenommen, sie würde tatsächlich Hinweise für eine tatsächliche Tatbeteiligung der USA finden – ich kann mir nicht vorstellen, dass wir das jemals erfahren würden. Zu klar sind die gemeinsamen Interessenlagen definiert, zu groß die gegenseitigen Abhängigkeiten.“

Da ist man beim ZDF optimistischer:

Ermittlungen dieser Art dauern lange und die Geheimhaltungsstufe ist enorm hoch. Dass keine Zwischenergebnisse veröffentlicht werden, soll den Raum für Spekulationen verkleinern und in der aktuell angespannten Lage auf keinen Fall zu einer weiteren Eskalation des Konflikts beitragen. Früher oder später müssen die ermittelnden westlichen Regierungen aber ihrer Informationspflicht nachkommen und die Ermittlungsergebnisse vorstellen. Der Mangel an offiziellen Informationen kann sonst Verschwörungstheorien weiter befeuern.“

Die Bundesregierung und die NATO jedenfalls sehen keinen Grund, Ermittlungsergebnisse abzuwarten, bevor sie möglicherweise den Bock zum Gärtner machen. Vor einem Monat meldete das Rüstungsblatt „Europäische Sicherheit und Technik“ (ESUT):

Deutschland und Norwegen haben auf der Berliner Sicherheitskonferenz im November 2022 die NATO gebeten, Gaspipelines und Internetleitungen auf dem Meeresboden vor Angriffen zu schützen… NATO-Generalsekretär Stoltenberg wurde aufgefordert, dafür eine Koordinierungsstelle einzurichten. Diese Initiative war eine Reaktion auf die Sprengung der beiden Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee. Inzwischen zählen Schutz und Sicherung der Unterwasserinfrastruktur zum neuen Aufgabenspektrum der NATO“.

Die Umsetzung erfolgte relativ rasch. Am 13. Februar, fünf Tage nach der Veröffentlichung von Hershs detaillierten Vorwürfen, meldete u.a. n-tv.de:

Die Nato richtet nach den mutmaßlichen Sabotageakten gegen die Erdgasleitungen Nord Stream 1 und Nord Stream 2 eine Koordinierungszelle für den besseren Schutz kritischer Infrastruktur ein… Nach früheren Angaben haben die die Alliierten die Schutzmaßnahmen von besonders wichtigen Einrichtungen und den Austausch von Geheimdienstinformationen bereits in den vergangenen Monaten verstärkt. In der Nord- und Ostsee wurde so die maritime Präsenz der Nato nach den mutmaßlichen Sabotageakten verdoppelt. Weitere Maßnahmen sollen beim nächsten Gipfeltreffen im Juli in Litauen beschlossen werden.“

Ende gut – alles gut?