IMI-Standpunkt 2022/048

Berichte über Raketen-Einschlag in Polen und Kriegseintritte von NATO und USA

Friedenspolitische Überlegungen zu fake news und dem Beginn von Kriegen

von: Jens Wittneben | Veröffentlicht am: 18. November 2022

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Am 15. November 2022 berichtete theguardian.com über mögliche Raketeneinschläge in Ost-Polen im ukrainischen Grenzgebiet, die zwei Menschen getötet haben sollen.  Auf ukrainische Städte sollen an diesem Tag fast 100 Raketen abgefeuert worden sein, vor allem auf Elektrizitätswerke – auch die westukrainische Stadt Lwiw, nur 50 km vom angeblichen Einschlagsort in Ost-Polen.(1) Auf dem G20-Gipfel der Industriestaaten hatten an diesem Tag China und  Indien Besorgnis über den Ukraine-Krieg geäußert.(2) theguardian.com hatte am 14. November mehrfach über Verhandlungsoptionen für die Ukraine und Russland berichtet.(3)

Die Ereignisse des 15. November 2022 in Ost-Polen rechtfertigen keinen Kriegseintritt der NATO. Das legen die zeitgenössischen Berichte unten nahe. Zunächst aber möchte ich sagen:

Wenn der Kreml fast zeitgleich zu Chinas Mahnungen auf dem G20-Gipfel der Industriestaaten in einer Offensive fast 100 Raketen auf kritische Infrastruktur in der Ukraine geschossen hat, ist das nicht nur ein Verbrechen an Menschen in der Ukraine, die mangels Elektrizität und Wasser um Heizung, Wasser, Hygiene und deshalb vielleicht um ihr Leben gebracht werden. Des Weiteren: Wenn russische Raketen auf die Ukraine durch Fehler den Einschlag in Ostpolen (mit-)verursacht haben, dann hat der Kreml auch den Tod unbeteiligter Menschen in Polen in Kauf genommen – und internationale Bemühungen um Deeskalation torpediert.

Offenbar befinden wir uns am Rande eines möglichen Dritten Weltkriegs. Als Antimilitarist:innen dürfen wir in dieser Situation nicht vergessen, dass Kriege immer wieder durch Vorwände und „false flag attacks“ wie den angeblichen Angriff auf den Sender Gleiwitz 1939 vorsätzlich begonnen werden. Nachrichten wie die über mögliche zwei Opfer von Raketen in Ost-Polen müssen eingehend, vermutlich monatelang überprüft werden, denn erfahrungsgemäß erhält die Weltöffentlichkeit erst viel später die zuverlässigen Informationen über solche Ereignisse.

Dies war zum Beispiel beim Krieg gegen den Irak der Fall. Im März 2003 starteten  Angriffe, die  die US-Regierung unter anderem damit rechtfertigte, das Regime Saddam Hussein besäße Chemie- und Atomwaffen. Seriöse Recherchen der Carnegie Endowment for International Peace führten später zu dem Schluss, dass Saddam 2003 sicher keine Massenvernichtungswaffen hatte. Die Chemiewaffen, die angeblich auch Israel bedrohten, waren wie man heute sagt fake news – eine Erfindung in diesem Fall aus Washington D.C. (4) (5) Da führende US-Politiker:innen schon 1988 und 2000 schriftlich einen Angriff auf Irak gefordert hatten, war der Chemiewaffen-Vorwurf gegen den Diktator Saddam nur ein Vorwand, um den Angriff zu beginnen. (4) (6) (7) Dieser Vorwand war besonders perfide, weil er ohne Grundlage Angst vor einem Giftgaseinsatz gegen Juden in Israel schürte und damit zusätzliche Legitimität erheischte.

Der NATO-Krieg in Afghanistan wurde mit dem Vorwand des Kriegs gegen den Terror gerechtfertigt, nach den Anschlägen in  New York und Washington D.C. am 11. September 2001. Es stellt sich allerdings die Frage, ob es den USA nicht in Wahrheit darum ging, Stützpunkte einzurichten in Afghanistan, einem Land mit Grenzen zu China und ehemaligen sowjetrussischen Republiken. (8)

Über den Beginn des massiven Militäreinsatzes der USA in Vietnam heißt es: „Ab Mai 1964 wollte [US-Präsident] Johnson seinen geplanten Kriegseinsatz vom US-Kongress autorisieren lassen, um diesen und damit auch die US-Bevölkerung stärker einzubinden.“ Mit dem Zwischenfall im Golf von Tonkin provozierte die US Navy den gewünschten Kriegsgrund: „Am 1. August [1964] lief das US-Kriegsschiff USS Maddox in den Golf von Tonkin ein, um die Nordvietnamesische Volksarmee (NVA) elektronisch auszuforschen. Aus ungeklärten Gründen entsandte Nordvietnams Küstenwache am 2. August drei Schnellboote zur Maddox. Diese fürchtete einen Torpedoangriff, eröffnete das Feuer, versenkte eins der Boote, beschädigte die übrigen und meldete diesen ‚Tonkin-Zwischenfall‘ der US-Regierung. Am 4. August meldete die USS Turner Joy (DD-951) während eines Gewitters irrtümlich weitere  Torpedoangriffe, zog die Meldung aber zurück. Die NSA legte Johnson nur jene 10 % des für den Zwischenfall relevanten Funkverkehrs vor, die einen Angriff nahelegten. Johnson ordnete noch am selben Abend erste Luftschläge auf Hanoi an und begründete diese im US-Fernsehen als Vergeltung für ‚wiederholte unprovozierte Gewaltakte‘. Die Beteiligung von US-Kriegsschiffen an Sabotageaktionen wurde dem [US-] Kongress verheimlicht. Staatssekretär George Ball gab später zu, dass sie in den Golf von Tonkin entsandt worden waren, um einen Kriegsgrund zu provozieren. Die sofortigen Vergeltungsschläge waren seit Monaten vorbereitet gewesen.“ (9) 

Die möglichen Toten und Raketeneinschläge im Osten Polens stellen Friedensbewegte in der Bundesrepublik vor die Frage: wie reagieren wir am Tag X auf einen möglichen Kriegseintritt der NATO? Und weiter: wie können wir diesem Tag X vorbeugen, was können wir tun, damit dieser Tag nie Wirklichkeit wird? Sollten wir Offene Städte sozial verteidigen? (10)

Anmerkungen

(1) Two people killed after Russian missiles crossed into Poland, says US intelligence official. theguardian.com Tue 15 Nov 2022

(2) Russia strives to avoid G20 isolation as China and India distance themselves

Traditional allies voice concern over Ukraine war as draft communique highlights damage to world economy. Theguardian.com Tue 15 Nov 2022

(3) What we know on day 265 of the invasion.  theguardian.com Mon 14 Nov 2022

(4) Ein Kronzeuge packt aus. Ein Nachtrag zu den Kriegslügen im Zusammenhang mit dem amerikanischen Krieg gegen den Irak.

von: Jürgen Wagner. Veröffentlicht am: 14. Januar 2004, IMI-Analyse 2004/002

(5) Cirincione, Joseph/Mathews, Jessica T./Perkovich, George, WMD in Iraq: evidence and implications, Carnegie Endowment for International Peace, January 2004. zitiert von Wagner, Jürgen: Ein Kronzeuge packt aus, s.o.

(6) Kagan, Robert/Kristol, William, „The Right War“, The Weekly Standard, 01.10.01 zitiert von Wagner, Jürgen: Ein Kronzeuge packt aus, s.o.

(7) Rebuilding America’s Defenses. A Report of The Project for the New American Century, September 2000, S. II; Vgl. auch Wolfowitz, Paul, „Remembering the Future“, in: The National Interest (No. 59), Spring 2000. zitiert von Wagner, Jürgen: Ein Kronzeuge packt aus, s.o.

(8) Bundeswehr-Einsätze: Eine (miserable) kursorische Bilanz. von: Jens Wittneben 9. Januar 2020. IMI-Standpunkt 2020/002

(9)  https://de.wikipedia.org/wiki/Vietnamkrieg

(10) Friedensforum Nr. 5 / 2022, www.friedenskooperative.de