IMI-Analyse 2022/58

Die neue französische Sicherheitsstrategie: eine hybride Kriegserklärung.

von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 15. November 2022

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Am 9. November – in Frankreich ist dieses Datum offenbar eher als Todestag Charles de Gaulles in Erinnerung – veröffentlichte das Französische Verteidigungsministerium seine neue Sicherheitsstrategie.(1) Deren Grundzüge stellte Präsident Macron am selben Tag in einer Rede vor stark militärisch geprägtem Publikum auf der französischen Marinebasis in Toulon vor.

Das Bild der Welt, wie es in diesem Papier gezeichnet wird, ist düster. Auch wenn das für solche Arten von Dokumenten typisch und angesichts des Krieges in der Ukraine erwartbar sein mag, ist es in seiner französischen Variante besonders augenfällig. So wird einerseits in einer ökonomistischen Sprache ganz generell von einem strategischen Wettbewerb zwischen Blöcken und Staaten ausgegangen, der aber – so wird an verschiedenen Stellen formuliert – in eine offene Konfrontation übergegangen sei. Damit ist auf der einen Seite natürlich im herkömmlichen militärischen Sinne der Krieg in der Ukraine gemeint. Zugleich findet sich die Formulierung des Übergangs in eine Konfrontation jedoch auch im expliziten Hinblick auf die Sahel-Region und den Pazifik und mit Bezug auf China – wo ja bislang noch keine offenen militärischen Konfrontationen bestehen.

Vermittelt wird dieser latente Kriegszustand über die vermeintliche hybride Kriegführung, die von China und Russland ausgehe und Frankreich, NATO und EU zu entsprechenden Gegenmaßnahmen zwinge. Zugleich wird in dem Dokument jedoch deutlich, dass diese Hybridität längst, aber nicht explizit, auch die französische Außenpolitik prägt. So wird bereits in Absatz elf ganz allgemein „Einfluss“ als „strategische Schlüsselfunktion“ definiert, die es ermöglichen soll „französische Interessen durchzusetzen und den Handlungen unserer Wettbewerber (compétiteurs) im gesamten Spektrum der Hybridität entgegenzuwirken“. Wohlgemerkt beziehen sich diese Äußerungen nicht auf die Landes- und Bündnisverteidigung, sondern auf (Groß-)Regionen wie Afrika, den Pazifik und explizit auch die Ukraine. Eine zentrale Rolle spielen für diesen globalen Machtanspruch, der in Verbindung mit dem proklamierten Übergang in eine offene Konfrontation eigentlich eine globale Kriegserklärung ist, außerdem die französischen Überseegebiete, die vielfach erwähnt werden. In Absatz 67 wird daraus nicht nur eine „Pflicht“ abgeleitet, in verschiedenen Weltregionen zu „Sicherheit und Stabilität“ beizutragen, sondern aus der „geografischen Lage einiger unserer Territorien in diesen Regionen“ eine Notwendigkeit und „besondere Legitimität“ begründet, „dort präsent und in allen Domänen aktiv zu sein“. Zugleich wird wie gesagt Russland vorgeworfen, einen „globalisierten hybriden Krieg“ ausgerufen zu haben, in dem es „externe Gebiete als Hebel“ nutze, um die eigenen Handlungsspielräume einzuschränken.

Anspruch: globale Handlungsfähigkeit, nuklear abgesichert

Dass zum hybriden Spektrum der möglichen Maßnahmen, um diese Handlungsspielräume weltweit(!) zu sichern, auch das Militär gehört, wird an verschiedenen Stellen explizit hervorgehoben. So heißt es in Absatz 56 recht eindeutig, dass „die zunehmenden Einschränkungen unserer Interessen es notwendiger macht, über robuste und durchhaltefähige Mittel zu verfügen, die den jüngsten Entwicklungen in der Welt angepasst sind. Unsere Verteidigungskapazitäten tragen dazu auf verschiedenen Ebenen bei als Basis unserer Unabhängigkeit und Handlungsfreiheit in der Welt im Angesicht von Bedrohungen aller Art“. Diese Verteidigungsfähigkeit wiederum – auch das wird explizit formuliert – steht auf dem Fundament der Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung. Hier ist der globale Geltungsbereich nicht so offen formuliert, allerdings ist der entsprechende Absatz 76 – abgesehen von seiner Einschränkung auf staatliche Akteure – erschreckend uneindeutig: „Mit dem Ziel, uns vor allen staatlichen Aggressionen gegen unsere vitalen Interessen zu schützen, woher sie auch kommen mögen und welche Form sie auch haben werden, ist die [nukleare] Abschreckung die ultimative Garantie der Sicherheit, des Schutzes und der Unabhängigkeit unserer Nation“. Entsprechend wird die Aufrechterhaltung einer „robusten und glaubwürdigen nuklearen Abschreckung“ gleich in Absatz acht als „strukturelles Element unseres strategischen Dialoges und der Absicherung unserer vitalen Interessen“ zum ersten von zehn strategischen Zielen ernannt.

Beharren auf Eigenständigkeit

Während der globale Geltungsbereich einer offenen hybriden Konfrontation sowie eigener militärischer Handlungsfähigkeit und Legitimität sehr klar und wiederholend formuliert ist, bleibt die Sicherheitsstrategie auch an vielen anderen Punkten uneindeutig. So steht an vielen zentralen Stellen die Selbstbezeichnung Frankreichs als „ausgleichende Macht“ („puissance d‘équlibres“), ohne dass die darunter zu verstehende, geopolitische Selbstverortung nachvollziehbar ausformuliert wäre. Zwar werden EU und NATO als primäre sicherheitspolitische Bezugrahmen mehrfach und prominent genannt. Die ihnen gewidmeten Unterkapitel allerdings bleiben relativ unkonkret und floskelhaft. Demgegenüber wird relativ prominent die Fähigkeit zur militärischen Zusammenarbeit mit den USA hervorgehoben.

Auch in der Definition jener Akteure, die mal als Gegner und mal als Konkurrenten dargestellt werden, China und Russland, stellt man sich klar auf Seiten der EU und der NATO, ist aber merklich darum bemüht, jeweils eigene, nationale Interessen und Werte zu finden, welche ebendiese zu Gegnern machen. Gerade im Hinblick auf China gelingt dies allenfalls begrenzt. Analog hierzu wird jedoch wiederholt der Anspruch formuliert und die Fähigkeit unterstrichen, auch unilateral und in Ad-Hoc-Koalitionen hoch intensive militärische Auseinandersetzungen führen und gewinnen zu können. Ein seltsam anmutendes Beispiel hierfür ist der bereits zitierte Absatz zur nuklearen Abschreckung, von der die NATO- und EU-Verbündeten ja offensichtlich nicht ausgenommen werden. Damit deutet sich zumindest an, dass Frankreich als „ausgleichende Macht“ bei und trotz Einbindung in EU und NATO nicht vor hat, diesen seine Interessen und außenpolitischen Maximen unterzuordnen. Dafür, als ausgleichende Macht das Bündnis mit China und Russland zu suchen, bietet der Text allerdings auch keine Grundlage.

Das Beharren auf Eigenständigkeit zeigt sich auch in einem kleinen Unterabschnitt unter dem Titel „Aufklärung – Verständnis – Antizipation“, bei dem es um klassisch geheimdienstliche Arbeit und Strukturen der Entscheidungsfindung zu gehen scheint, implizit aber sicher auch entsprechende technologische Entwicklungen gemeint sind, um Handlungen der Gegner bzw. Wettbewerber zu erkennen, zu antizipieren und zu beeinflussen. Hier scheint sich das französische Verteidigungsministerium große Hoffnungen zu machen – auch dahingehend, von den Verbündeten zu profitieren, ohne dafür auf eigene Kapazitäten zu verzichten: „Die Funktion aufklären-verstehen-antizipieren hat eine starke partnerschaftliche Dimension. Um in priorisierten Bereichen zu einer autonomen Lageeinschätzung zu gelangen, ist es nötig, die Wahrnehmung der Partner durch eigenständige Fähigkeiten zu ergänzen“.

Hybride (Un)Eindeutigkeiten

Auch die konkrete Bedeutung des hybriden Kriegszustandes, der konstatiert wird, bleibt uneindeutig. Internationales Recht wird nur an wenigen Stellen als Handlungsrahmen angesprochen, seine „Ausnutzung“ durch Dritte hingegen in Absatz 26 explizit als „Lawfare“ diskreditiert: „Unsere Wettbewerber haben aus dem Recht eine Waffe gemacht, die sie gegen unsere Interessen einsetzen, um ihren Aufstieg abzusichern“. Ein bemerkenswerter Satz. Die Uneindeutigkeit des vermeintlichen Kriegszustandes spiegelt sich auch im Umgang mit einer weiteren, wiederkehrenden Formulierung, nämlich derjenigen der „Kriegsökonomie“. Diese wird in unterschiedlichen Absätzen entweder als Beschreibung der aktuellen französischen Wertschöpfung verwendet, als aktuelle Notwendigkeit oder als herzustellende Potentialität dargestellt. Letzteres wird beispielsweise in Absatz 122 weiter ausbuchstabiert, in dem es um die Bedingungen und Kompromisse geht, die nötig sind, „[u]m die Erfordernisse eines Krieges (starker Verbrauch von Munition, Abnutzung, etc.) langfristig durchhalten zu können“.

Zugleich sind die Konsequenzen, die aus dem globalen hybriden Kriegszustand für andere Bereiche gezogen werden müssten, um Resilienz herzustellen, teilweise sehr konkret formuliert. So heißt es zum Beispiel im Hinblick auf Jugend und Bildung, dass die „Attraktivität des Militärs“ und eine „Geisteshaltung der Verteidigung … so früh wie möglich durch konkrete und belohnende Ansätze im Bildungsbereich verankert werden sollten“ (Absatz 115). Hierzu sollte auch das Militär verstärkt in die Bildungsinstitutionen eingebunden werden. Noch viel grundsätzlicher wird eingefordert, die gesamte Technologiepolitik dem Ziel der Verteidigungsfähigkeit und – an anderer Stelle – auch der Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckungsfähigkeit im Angesicht schnellen technologischen Wandels zu unterwerfen.

Demütigung in Westafrika

Die hier dargestellte Drastik der neuen französischen Sicherheitsstrategie entspricht zwar angesichts des Ukraine-Krieges und der Reaktionen der NATO durchaus dem Zeitgeist, im französischen Falle jedoch scheint sie zugleich aus der Zeit gefallen. So wurde die neue Strategie von Macron wie bereits erwähnt in einer Rede in Toulon vorgestellt – die allerdings wegen eines anderen dort angesprochenen Sachverhalts deutlich mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat: Macron erklärte aus diesem Anlass knapp drei Monate nach dem Abzug der letzten (offiziellen) französischen Soldat*innen aus Mali die Operation Barkhane für beendet. Niemand kommt umhin, deren Scheitern anzuerkennen, es ist von einem Fiasko und einer Demütigung die Rede und Vergleiche zum Abzug der USA aus Afghanistan werden gezogen.2

Die einflussreiche und der Regierung wie Bundeswehr nahestehende „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP) hatte einen Monat zuvor eine Analyse veröffentlicht, in der sie von einer „gescheiterten Militärintervention“ schreibt, „die den größten Auslandseinsatz seit dem Algerien-Krieg darstellte“ und „als politische Zäsur in die Geschichte der französisch-afrikanischen Beziehungen eingehen“ dürfte. Zurückgeführt wird dies u.a. auf eine „Vielzahl folgenschwerer politischer Fehleinschätzungen“. Erwartet wurde entsprechend, dass „Paris … auf Jahre hinaus mit einem nachhaltig erschütterten Selbstverständnis über seine eigene Rolle in Afrika befasst sein“ dürfte und „vor der historischen Herausforderung [steht], einen neuen Kurs gegenüber Afrika zu definieren“. Für die SWP bestand mit der französischen Erschütterung „[f]ür Deutschland und andere europäische Regierungen“ Aussicht darauf, „mit Frankreich in einen afrikapolitischen Dialog einzutreten, der nicht a priori von der Überlegenheit politischer Einsichten in Paris und dem Vorrang französischer Interessen bestimmt wird“.3 Von beidem – einer kritischen Reflexion der Afrikapolitik und deren europäischer Neuverhandlung – ist in der neuen französischen Sicherheitsstrategie wenig zu spüren.

Allenfalls deutet sich an, dass Frankreich zukünftig versuchen wird, mit deutlich kleinerem „Fußabdruck“, also weniger Sichtbarkeit, Partnerschaften mit den jeweiligen Streitkräften zu pflegen und so weiterhin militärisch Einfluss in den ehemaligen Kolonien auszuüben. Die aktuellen Diskussionen um eine neue, reformierte Ausbildungsmission der EU in der Republik Niger unter dem Akronym EUMPM (Military Partnership Mission) deuten darauf hin, dass diese auch hier Frankreich folgen wird, wie sie das vor zehn Jahren mit desaströser Bilanz in Mali getan hat.

Was die neue französische Sicherheitsstrategie jedoch nahelegt und verschiedene Medien bereits aus anonymen Quellen gehört haben wollen, ist, dass Frankreich dabei verstärkt auf hybride und geheimdienstliche Mittel zurückgreifen und sein eigenes Süppchen kochen wird. Neu wäre das aber ebenso wenig, wie die Tatsache, dass die europäischen Partner das als Teil des Problems erkennen und kritisieren – und zugleich trotzdem mitspielen wollen. Zu erwarten ist jedoch, dass Frankreich und die EU dies zukünftig noch stärker als Teil einer globalen Auseinandersetzung mit Russland und China verstehen und ihre Bemühungen um strategische Kommunikation intensivieren werden: Europa wird in der Sahara verteidigt. Es bekämpft sich dort auch gegenseitig. Die „ausgleichende Macht“ Frankreich wird ganz vorne dabei bleiben, die Region weiter in den Malstrom einer Geopolitik zu ziehen – die nun, nicht nur von Frankreich, als globale, offene, hybride und nuklear abgestützte Auseinandersetzung wahrgenommen wird.

1 Die Revue nationale stratégique 2022 wird unter folgender URL vom französischen Verteidigungsministerium im französischen Original sowie einer vorläufigen englischen Übersetzung bereitgestellt: sgdsn.gouv.fr

2 Beispielhaft wird dieser Diskurs etwa hier wiedergegeben: Stefan Brändle: Macron beendet französische Militär-Mission in Westafrika, derstandart.at vom 9.11.2022, derstandard.at

3 Denis M. Tull: Frankreichs Afrikapolitik unter Präsident Macron – Zwischen Reformen, Public Diplomacy und unfreiwilliger politischer Zäsur, SWP-Aktuell 2022/A 62 (06.10.2022), swp-berlin.org

Dieser Artikel wurde zuvor bei Telepolis veröffentlicht.