IMI-Analyse 2022/55

Weitere Militarisierung oder Rückkehr zur Vernunft?

Die politische Debatte in Japan nach dem Attentat auf Abe.

von: Eiichi Kido | Veröffentlicht am: 27. Oktober 2022

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Am 8. Juli 2022 wurde der ehemalige japanische Premierminister Shinzô Abe erschossen. Das Ereignis hat die japanische Öffentlichkeit äußerst schockiert, nicht zuletzt weil es im Land nur eine sehr geringe Waffenkriminalität gibt.

Zwei Tage später konnte die regierende Liberal-Demokratische Partei auch dank Sympathiestimmen die Oberhauswahl leicht gewinnen. Sie hat nun zusammen mit ihrem Koalitionspartner, der neobuddhistischen Partei Komeito, und den de facto Satellitenparteien eine Zwei-Drittel-Mehrheit, die für eine Verfassungsänderung notwendig ist. Da bis 2025 keine nationale Wahl vorgesehen ist, scheint es durchaus möglich, dass die LDP in diesem Zeitraum eine Verfassungsänderung durchsetzen und das Land kriegsfähig machen könnte.

Schon sechs Tage nach dem Attentat kündigte Premierminister Fumio Kishida an, ein Staatsbegräbnis für Abe zu veranstalten. Doch dann kam ans Licht, dass Abe gleichsam Werber für die berüchtigte „Vereinigungskirche“ (Moon-Sekte) war und nicht wenige LDP-Abgeordnete mit ihr eng verbunden sind. Die Kishida-Administration ist damit plötzlich in Not geraten. Kann diese Affäre einen Wendepunkt der japanischen Politik markieren, die bisher mit aller Macht auf Militarisierung gerichtet war?

Das 2012er-System

Am 26. Dezember 2012 wurde Shinzô Abe zum zweiten Mal zum Premierminister gewählt. Bei der Unterhauswahl zehn Tage davor konnte die LDP die Macht zurückerlangen.

Schon in seiner ersten Amtszeit vom 26. September 2006 bis 27. August 2007 sagte Abe ganz offen, dass es seine Absicht sei, das „Nachkriegsregime“ zu ändern. Am 22. Dezember 2006 war das Rahmengesetz für die Erziehung (Kyôiku kihon hô) dahingehend geändert worden, dass es fortan Ziel der Erziehung sein sollte, „Tradition und Kultur zu achten und unser Land und unsere Heimat, wo diese gepflegt werden, zu lieben“. Am 9. Januar 2007 wurde das Amt für Verteidigung zum Ministerium erhoben. Am 14. Mai 2007 wurde ein Gesetz durchgesetzt, um eine Volksabstimmung für eine Verfassungsänderung durchzuführen.

Am Anfang der zweiten Amtszeit erklärte Abe, sich auf die Wirtschaftspolitik zu konzentrieren. Unter der Bezeichnung „Abenomics“ versuchte er, durch drastischen Zuwachs der Geldbasis die Konjunktur anzukurbeln. Dabei behandelte er die Zentralbank wie eine Tochtergesellschaft der Regierung. In der Realität verbesserte sich die Wirtschaft jedoch nicht. Von den gestiegenen Aktienkursen und dem gesunkenen Wert des Yen profitierte nur die wohlhabende Schicht, die bereits Aktien und Immobilien besaß. Es dauerte dann auch nicht lange, bis Abe unverhohlen zu seinem zentralen Thema zurückkehrte, nämlich die „schäbige“ Verfassung zu ändern.

Die LDP, damals in der Opposition, legte am 27. April 2012 den Entwurf ihrer Verfassungsänderung vor. Damit offenbarte sie ihre Absicht, einen Regimewechsel in Japan durchzuführen, den Tenno (meist mit „Kaiser“ übersetzt, anders als europäische Kaiser jedoch soll der Tenno Nachkomme der Götter sein) zum Staatsoberhaupt zu machen, statt der Selbstverteidigungsstreitkräfte „Landesverteidigungstruppen“ (Kokubô-gun) zu schaffen und die Bürgerrechte drastisch einzuschränken.[1] Dieser Entwurf ist auch heute keineswegs vom Tisch.

Am 6. Dezember 2013 wurde das sogenannte „Whistleblower“-Gesetz (Specially Designated Secrets Act) im Parlament beschlossen. Damit wird Personen, die angeblich Staatsgeheimnisse verbreitet haben, bis zu zehn Jahre Haft angedroht. Dabei ist jedoch geheim, was als „speziell bezeichnete Staatsgeheimnisse“ gilt.

Am 1. April 2014 beschloss das Kabinett, Waffenexporte grundsätzlich zu genehmigen. Bisher galten für den Waffenexport drei Prinzipien. Danach war der Waffenexport in kommunistische Länder, in Länder, in welche aufgrund von UN-Resolutionen Waffenexport verboten ist, und in Länder, die sich in einem bewaffneten Konflikt befinden, de facto nicht erlaubt. Diese Richtlinien änderte Abe um 180 Grad, und zwar unter dem kuriosen Begriff „Transfer von Verteidigungsausrüstung und -technologie“ (Transfer of Defense Equipment and Technology).

Am 1. Juli 2014 beschloss das Kabinett, das kollektive Verteidigungsrecht prinzipiell ausüben zu können. Bis dahin hatten alle Regierungen erklärt, dass der pazifistische Verfassungsartikel 9, der den Unterhalt von „Land-, See- und Luftstreitkräften oder sonstigen Kriegsmitteln“ verbietet und das Kriegsrecht aberkennt, dem Land zwar das Recht zur individuellen, aber keineswegs zur kollektiven Selbstverteidigung erlaube.[2]

Aufgrund dieses Kabinettsbeschlusses wurden am 19. September 2015 die „Gesetze für Frieden und Sicherheit“ verabschiedet, die den japanischen „Selbstverteidigungsstreitkräften“ militärische Einsätze jederzeit und weltweit ermöglichten. Einsprüche von Rechtsexpert:innen und der Protest der Bürger:innen gegen diese „Kriegsgesetze“ wurden einfach ignoriert.

Am 15. Juni 2017 wurde das „Gesetz gegen die Vorbereitung von Terror usw.“ verabschiedet. Dieses Gesetz ermöglicht es, Personen, die etwas beraten oder geplant haben, auch dann strafrechtlich zu verfolgen, wenn kein Verbrechen auf der Grundlage einer Verschwörung begangen wurde. Dieses Anti-Verschwörungsgesetz (Kyôbôzai) erinnerte viele Leute an das Gesetz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit (Chian iji hô) von 1925, das jede Kritik gegen das Tenno-System und das Privateigentum unter Strafe stellte. Am 2. Juni 2017 erklärte der damalige Justizminister Katsutoshi Kaneda, sämtliche Verhaftungen und Strafvollstreckungen aufgrund dieses Gesetz seien „legal“.

Dieser Militarisierungskurs endete auch mit der Rücktrittserklärung Abes am 28. August 2020 nicht. Er verordnete seinem Nachfolger Yoshihide Suga, die „Fähigkeit, feindliche Stützpunkte anzugreifen“, auszuloten. Am 1. Oktober 2020 wurde außerdem klar, dass Suga es abgelehnt hatte, sechs der vorgesehenen 105 Mitgliedskandidat:innen für den Science Council of Japan (Nihon gakujutsu kaigi, SCJ) zu ernennen. Alle sechs Personen sind Wissenschaftler:innen, die mit den oben genannten Gesetzen nicht einverstanden sind. Mit dieser illegalen Entscheidung versuchte die Regierung, kritische Köpfe einzuschüchtern. Gleichzeitig war es ein Warnschuss gegen den SCJ insgesamt, denn er hatte am 24. März 2017 seine kritische Stellungnahme zur Militärforschung bekräftigt.[3]

Am 16. Juni 2021 wurde ein Gesetz verabschiedet, das es ermöglicht, Personen zu beobachten, die Grundstücke innerhalb von 1.000 Metern von „wichtigen Einrichtungen“ wie Militärstützpunkten und AKWs bzw. abgelegenen Inseln an der Staatsgrenze besitzen oder nutzen (Act on the Review and Regulation of the Use of Real Estate Surrounding Important Facilities and on Remote Territorial Islands). Bei einer „Störung der Funktion“ solcher Anlagen droht eine Haftstrafe bis zu zwei Jahren. Was für Handlungen die Funktion der „wichtigen Einrichtungen“ stören würden, ist jedoch nicht definiert. Damit ist es durchaus möglich, dass dieses Gesetz zur Unterdrückung von Bürgerbewegungen genutzt wird.

Sugas Nachfolger Fumio Kishida, der seit dem 4. Oktober 2021 im Amt ist, peitschte das Gesetz zur Förderung der wirtschaftlichen Sicherheit (Keizai ampo suishin hô) am 11. Mai 2022 durch. Angesichts der Konfrontation zwischen den USA und China geht es darum, zu verhindern, dass ein fremdes Land neueste wissenschaftlich-technologische Informationen zum Beispiel zu künstlicher Intelligenz stiehlt, und die Beschaffung von unverzichtbaren Waren wie Halbleiter und Medikamenten zu sichern. Im Gesetz steht jedoch nicht, was „wirtschaftliche Sicherheit“ bedeutet. So kann das Parlament den Prozess der Anwendung nicht kontrollieren. Alle möglichen Zivilpersonen und Forscher:innen könnten wegen Durchsickern von Informationen bestraft werden und die Militärforschung wird beschleunigt.

Egal, wie der Premierminister auch heißen mag – der drastische Militarisierungskurs wird unter dem 2012er-System vorangetrieben. Seit dem Finanzjahr 2013 haben die japanischen Militärausgaben elf Jahre in Folge das Vorjahr übertroffen und neun Jahre in Folge ein Rekordniveau erreicht. Am 23. Mai versprach Kishida dem US-Präsidenten Joe Biden in Tokio, „die Verteidigungsausgaben erheblich zu erhöhen“. Die LDP verpflichtete sich, 2% des BIP für Militärausgaben bereitzustellen. Das würde Japan zumindest von den Ausgaben her zur drittgrößten Militärmacht in der Welt machen.

Das A und O des 2012er-Systems ist jedoch die Verfassungsfrage. Am 3. Mai 2017, in Japan „Tag der Verfassung“, schlug Shinzô Abe urplötzlich in der regierungsfreundlichen Yomiuri-Zeitung vor, vorläufig vier Punkte der Verfassung zu ändern. Zwei davon (Mandatereform im Oberhaus und Ausbau der Schulerziehung) sind alles andere als wichtig. Die wichtigen Punkte sind, den Artikel 9 zu toten Buchstaben zu machen, indem die „Selbstverteidigungsstreitkräfte“ in den Text der Verfassung aufgenommen werden, und einen Notstandsartikel einzuführen. Die LDP hält nach wie vor an diesen Vorhaben fest.

Hintergrund des Attentats

Der Attentäter, der im Juli den ehemaligen Premierminister erschossen hat, hatte kein politisches Motiv. Er wollte seinen persönlichen Groll an der Vereinigungskirche auslassen. Die Vereinigungskirche (The Holy Spirit Association for the Unification of World Christianity) wurde 1954 von dem Koreaner Sun Myung Moon gegründet. Auch als „Moon-Sekte“ bezeichnet, ist sie bekannt für ihre obskure Lehre und für ihre verbrecherischen Methoden, von Gläubigen Geld und sonstige Ressourcen einzufordern.

Der Täter, Tetsuya Yamagami, Jahrgang 1980, kommt aus einer ursprünglich wohlhabenden Familie. Der Vater nahm sich jedoch 1984 das Leben. Die Mutter lebte nur für eine religionsähnliche Organisation und vernachlässigte die Kinder. Fast gleichzeitig stellte sich heraus, dass Tetsuyas ein Jahr älterer Bruder an Krebs erkrankt war. 1987 wurde er operiert und verlor dadurch auf einem Auge das Augenlicht. 1991 wurde die Mutter zur Anhängerin der Vereinigungskirche und fing an, große Summen zu spenden. Sie verkaufte das Grundstück ihres Vaters. 2002 wurde sie für bankrott erklärt. Trotzdem spendete sie weiter an die Moon-Sekte.Die Familie geriet in Armut. Obwohl Tetsuya ein bekanntes Gymnasium besuchte, musste er auf ein Studium verzichten. 2002 trat er in die Maritimen Selbstverteidigungsstreitkräfte ein. Drei Jahre später versuchte er, Selbstmord zu begehen. Empfänger des Geldes aus seiner Lebensversicherung sollte sein krebskranker Bruder sein. Der Bruder nahm sich 2015 das Leben.

Tetsuya war sich im Klaren darüber, dass die Moon-Sekte seine Familie und sein eigenes Leben ruiniert hatte. Am 6. Oktober 2019 hatte er geplant, Hak Ja Han, die seit dem Tod ihres Ehemanns und Sektengründers Moon Vorsitzende der Vereinigungskirche ist, bei einer Veranstaltung der Universal Peace Federation (UPF) – einer der Tarnorganisationen der Sekte – in Tokoname (Präfektur Aichi) zu töten. Tetsuya konnte jedoch nicht in den Versammlungsort gelangen. Im Frühjahr 2022 sah Tetsuya eine Videobotschaft von Shizô Abe an die UPF vom September 2021. Er entschloss sich daraufhin zum Attentat auf Abe als Symbolperson der Moon-Sekte. Für Tetsuya war es eine gute Gelegenheit, als Abe am 8. Juli 2022 in der Nähe seiner Wohnung eine Wahlkampfrede hielt.

Der 42-jährige Tetsuya gehört der „verlorenen Generation“ an. Diese Generation, geboren etwa zwischen 1970 und 1983, musste nach dem Platzen der Wirtschaftsblase 1993 die sogenannte „Beschäftigungs-Eiszeit“ erleben. Während prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse im neoliberalen Zeitalter normal wurden, haben junge Leute die Möglichkeit verloren, Hilfe zu verlangen, weil immer wieder die „Eigenverantwortung“ betont wird und soziale Bindungen verloren gehen. Eine völlig isolierte und hoffnungslose Situation führt nicht selten zu Alkohol- und Drogensucht, Kriminalität wie Raubüberfall, Selbstvernachlässigung (self-neglect), Selbstmord und „extended suicide“. Tetsuya sah keinen anderen Weg mehr, als die Dinge mit Gewalt zu ändern.

Die Rolle der Moon-Sekte in der japanischen Politik und Gesellschaft

Die Vereinigungskirche hatte in Japan schon in den 1970er und 1980er Jahren einen schlechten Ruf. Die Sektenmitglieder rekrutierten und indoktrinierten, ohne dabei ihre wahre Identität zu zeigen. Wer Interesse zeigte, wurde einer systematischen Gehirnwäsche ausgesetzt. Es war auch bekannt, dass die Vereinigungskirche nur die eine Seite der Medaille ist. Die andere ist die International Federation for Victory over Communism (IFVOC), die nach Anweisung des südkoreanischen Geheimdienstes (KCIA) 1968 organisiert wurde. Zwei Dinge machten die Sekte besonders berüchtigt.

  • Massenhochzeiten: Die Sekte organisiert Hochzeiten für tausende Paare auf einmal. Die Gläubigen dürfen sich die vom „Wahren Vater“ und der „Wahren Mutter“ bestimmten Eheschließung nicht verweigern. Oft bestehen die Paare aus einem südkoreanischen Mann und einer japanischen Frau. Nach Moon ist Korea „Adamstaat“ und Japan „Evastaat“. Außerdem ist Japan wegen seiner kolonialistischen Vergangenheit „Satansstaat“. Als Zeichen der Wiedergutmachung muss die japanische Frau alle Untaten ihres koreanischen Mannes hinnehmen. Vermutlich kommen etwa 70 Prozent der Gesamteinahmen der Moon-Sekte von japanischen Gläubigen.
  • „Geschäftemacherei mit Eingebung“ (Reikan Shôhô): In Menschen, die sich in einer schwierigen Situation befinden, schüren die Sektenmitglieder Angst durch Geschichten wie Ahnenschicksale und Flüche von Geistern und verkaufen ihnen „glückbringende“ Namensstempel, Gefäße oder Pagoden zu exorbitanten Preisen. Laut den Anwälten, die sich mit den Machenschaften der Sekte beschäftigen, beträgt die von 1987 bis 2021 entstandene Schadenssumme etwa 123,7 Mrd. Yen (fast eine Mrd. Euro). Aber der tatsächliche Schaden könnte auch zwanzigmal höher sein. Das Regionalgericht Fukuoka verurteilte am 27. Mai 1994 das betrügerische Geschäftsgebaren und ordnete die Zahlung von Schadensersatz durch die Vereinigungskirche an. Das Regionalgericht Tokio verurteilte am 10. November 2009 den Chef einer Firma, die Stempel herstellte und als Tarnorganisation der Sekte diente, wegen Verstoßes gegen das Handelsgeschäftsgesetz zu 2 Jahren Gefängnis (4 Jahre auf Bewährung) und einer Geldstrafe von 3 Millionen Yen. In den USA wurde der Sektengründer Sun Myung Moon am 16. Juli 1982 wegen Steuerhinterziehung zu 18 Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von 25 Tausend Dollar verurteilt. Nach einem Rechtsstreit trat er am 20. Juli 1984 die 18-monatige Haftstrafe an.

Die Moon-Sekte geriet jedoch in Vergessenheit. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte die Aum-Sekte, die am 20. März 1995 einen Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn verübte. Im Mai 1995 änderte die Vereinigungskirche ihren Namen in „Family Federation for World Peace and Unification (FFWPU)“.

Nach Abes Tod gab es kaum einen Tag, an dem nicht neue schmutzige Verflechtungen zwischen der Moon-Sekte und LDP-Politiker:innen aufgedeckt wurden. Abes Großvater Nobusuke Kishi, mutmaßlicher Kriegsverbrecher, war mit Sun Myung Moon eng befreundet. Beide waren knallharte Antikommunisten. Kishi stellte 1964 sein Grundstück und sein Haus als Stützpunkt der Vereinigungskirche zur Verfügung und half Moon auch massiv bei der Gründung der IFVOC 1968. 1984 schrieb Kishi einen Brief an den US-Präsidenten Ronald Reagan, mit dem er um die Freilassung von Moon bat.

Inzwischen ist klar, dass nicht wenige LDP-Politiker:innen auf gegenseitigem Vorteil beruhende Beziehungen mit der Moon-Sekte haben. Die Sekte bietet den Politiker:innen Geldspenden und Wahlkampfhelfer:innen an. Wenn die Politiker die Wahl gewonnen haben, kann die Sekte erwarten, dass sie nicht nur juristischer Verfolgung entkommen, sondern auch Einfluss auf die japanische Politik nehmen kann und dass ihre Aktivitäten, auch die ihrer Tarnorganisationen,[4] offiziell unterstützt werden, was wiederum neue Geldquellen für die Sekte bedeutet. Tatsächlich genehmigte das Kultusministerium unter Minister Hakubun Shimomura, einem engen Vertrauten von Abe, am 27. August 2015 plötzlich die Umbenennung der Vereinigungskirche in FFWPU.

Die IFVOC veröffentlichte im April 2017 ihre Stellungnahme zur Verfassungsänderung per Video. Erstens fordert sie die Schaffung eines Notstandsartikels, mit dem sich das Kabinett alle Befugnisse des Parlaments aneignen kann. Zweitens soll ein „Familien-Artikel“ in die Verfassung kommen, um „übermäßige individuelle Menschenrechte“ zu bremsen. Drittens soll der Artikel 9 als „Wurzel allen Übels“ abgeschafft werden. All das entspricht dem LDP-Entwurf der Verfassungsänderung.

Am 8. September 2022 gab der LDP-Generalsekretär Toshimitsu Mogi bekannt, dass 179 von 379 LDP-Abgeordneten in irgendeiner Weise mit der Vereinigungskirche zu tun hatten. Er hatte natürlich die Absicht, damit diese Debatte zu beenden. Die Tageszeitung Mainichi berichtete jedoch am 16. September exklusiv, dass eine Tarnorganisation der Moon-Sekte, die sich aus Mitgliedern des Parlaments zusammensetze, bei ihrer Tagung am 13. Juni die LDP-Abgeordneten befragt hatte, ob sich jemand Unterstützung der UPF beim Wahlkampf zum Oberhaus wünscht. Es war damit nicht mehr zu leugnen, dass es strukturelle Verflechtungen zwischen der Sekte und der japanischen Politik gibt. Eine gründliche Untersuchung nicht nur zu Politiker:innen (einschließlich des getöteten Abe), sondern auch von Meinungsführer:innen ist notwendig. Nicht zuletzt ist es wirklich pervers, dass die selbsternannten Konservativen, die immer wieder die japanische „Tradition“ betonen und die Vergangenheit Japans leugnen, von einer Sekte unterstützt werden, die Japan als „Satansstaat“ bezeichnet.

Bilanz der Politik von Abe

Abe betonte immer, Japan leuchte in der Mitte der Welt. Das war eine große Täuschung. Inzwischen kann man Japan nicht mehr als führendes Land bezeichnen. Nachdem Japan 2010 im Bezug auf BIP von China überholt wurde, wurde es 2018 im Bezug auf BIP pro Kopf auch von Südkorea überholt. Laut OECD sind Japans Reallöhne von 2000 bis 2020 nicht gestiegen. Sie liegen nun im niedrigsten Bereich innerhalb der OECD-Länder. Der Jahresdurchschnittslohn in Japan beträgt 38.515 Dollar, weniger als in den USA (69.391 Dollar), Deutschland (53.745 Dollar) und Südkorea (41.960 Dollar). Laut dem International Institute for Management Development (IMD) in der Schweiz liegt Japan 2022 hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit auf Platz 34 von 63 untersuchten Ländern. Vom Japan in der ersten Hälfte der 1990er Jahre, wo es um Platz eins kämpfte, ist nichts mehr geblieben. Im „Gender-Gap-Report“ der Stiftung Weltwirtschaftsforum (WEF) von 2022 landet Japan im internationalen Vergleich auf Platz 116 von 146 Ländern (2021 Platz 120 von 156 Ländern).

Shinzô Abe war am 20. November 2019 der mit 2.887 Tagen am längsten amtierende Premierminister in der japanischen Parlamentsgeschichte und wurde am 24. August 2020 mit 2.799 Tagen auch derjenige mit der längsten ununterbrochenen Amtszeit. Vier Tage später verkündete er wegen einer angeblichen Krankheit seinen Rücktritt. Die Reihe der oben genannten Zahlen zeigt jedoch deutlich, dass Abe kaum positive Verdienste geleistet hat.

Eine fundamentale Charakteristik seiner Politik ist Vetternwirtschaft. Erstes Beispiel: ein Ultranationalist hatte vor, im April 2017 eine private Schule namens „Shinzô-Abe-Gedächtnisschule“ in Osaka zu eröffnen. Abes Frau Akie war als Ehrenschuldirektorin vorgesehen. Anfang 2017 berichtete die Tageszeitung Asahi, dass das Finanzministerium im Juni 2016 dieser geplanten Schule ein Staatsgrundstück zu 10 Prozent des Marktpreises verkauft hatte. Am 17. Februar 2017 hatte Abe im Parlament angekündigt, dass er mit Sicherheit als Premierminister und Abgeordneter zurücktreten würde, wenn es klar wird, dass er oder seine Frau mit dem Verkauf von Staatsgrundstücken zu tun hätte. Am 2. März 2018 berichtete Asahi, dass das Finanzministerium amtliche Dokumente über diese geplante Schule vertuscht und verfälscht hatte. Fünf Tage später nahm sich ein Beamter aus Protest das Leben, weil er diese strafbare Handlung mitmachen musste.

Zweites Beispiel: im Mai 2019 wurde klar, dass die Kosten des „Kirschblütenfestes“, das Premierminister Abe am 13. April veranstaltet hatte, drei Mal mehr als ursprünglich geplant betragen hatten. Abe hatte nämlich außergewöhnlich viele seiner Freund:innen und Unterstützer:innen eingeladen, was gegen das Gesetz zur Wahl in öffentliche Ämter und das Gesetz über die Regulierung der Finanzierung politischer Aktivitäten verstieß. Allein zu dieser Frage belog Abe das Parlament 118 Mal. Im Hinblick darauf, dass auch „asoziale Kräfte“, unter anderem Betrüger, zum Fest eingeladen waren, beschloss das Kabinett am 10. Dezember 2019 kurzerhand, es sei schwierig zu definieren, was „asoziale Kräfte“ seien.

Das Arbeitsministerium verfälschte 2018 statistische Daten, um ein neues Arbeitsgesetz durchzusetzen. Vor allem zur Problematik der „Trostfrauen“ verbreitete Abe seine geschichtsleugnende Position. Um die Olympische Spiele 2020 um jeden Preis nach Tokio zu holen, belog er die Weltöffentlichkeit bei der Vollversammlung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) in Buenos Aires am 7. September 2013: „Einige unter Ihnen machen sich vielleicht Sorgen wegen Fukushima. Aber lassen Sie mich Ihnen versichern: Die Situation ist unter Kontrolle. Sie hat niemals schädliche Auswirkungen auf Tokio gehabt und sie wird diese auch niemals haben“.[5] Am 13. April 2021 entschloss sich Abes Nachfolger Suga, radioaktiv verseuchtes Wasser von Fukushima ins Meer leiten zu lassen.

Um seinen Militarisierungskurs zu legitimieren, missbrauchte Abe den Begriff „Pazifismus“. Denn er betonte immer wieder „sekkyokuteki heiwashugi“, wörtlich übersetzt „aktiver Pazifismus“, gegen den wohl niemand etwas einwenden würde. Das ist ein dreister Etikettenschwindel, denn dieser japanische Begriff wird offiziell als „Proactive Contribution to Peace“ übersetzt, was militärische Präsenz und Eingriff bedeutet.

Nach dem Motto „Diplomacy with a panoramic perspective of the world map“ besuchte Abe 80 Länder und Regionen (kumulierend 176 Länder und Regionen). Was jedoch hat das für Japan gebracht, außer einer verstärkten Amerikahörigkeit? Besonders erbärmlich ist das Ergebnis der Treffen mit Wladimir Putin. Obwohl Abe ihn 27 Mal traf, konnte er der versprochenen Lösung der territorialen Frage um keinen Schritt näher kommen. Wirklich peinlich war Abes Rede beim letzten Treffen mit Putin in Wladiwostok am 5. September 2019: „Vladimir, you and I envisage the same future. So let us go forward, Vladimir… Let the two of us, Vladimir, join our forces to run, dash, and then dash more until we reach the goal, shall we not?”[6] Mit „goal“ meinte er einen Friedensvertrag zwischen Japan und Russland. Die russische Verfassung, die am 4. Juli 2020 in Kraft getreten ist, verbietet sämtliche Aktionen der Abtretung und Abspaltung von Staatsgebiet der Russischen Föderation (Art. 67). Damit wurde endgültig der Schlußstrich unter die territoriale Frage gezogen. Der Ruf „Abe, der Außenpolitiker“ war nichts anderes als Propaganda.

Unter dem 2012er-System mit Shinzô Abe & Co. ist Japan einen autokratischen Weg gegangen. Rechtsstaatlichkeit und Governance-Ethik sind weitgehend verloren gegangen. Auch in der Gesellschaft wird eine nationalistische, nihilistische und wissenschaftsfeindliche Gesinnung so geschürt, dass moralische Normen gesunken und Hassreden gegen Koreaner und Chinesen alltäglich geworden sind.

Fügsame Medien und unmündige Wähler:innen

Unter Abe konnte die LDP alle sechs nationalen Parlamentswahlen gewinnen. Anscheinend ist es schwer zu verstehen, warum seine nicht besonders erfolgreiche, sogar zum Teil verbrecherische Politik bei den Wähler:innen mehr oder weniger positiv ankam. Ein Grund ist, dass die größte Oppositionspartei angesichts des antikommunistischen Dachverbandes der Gewerkschaften Rengo (Japanese Trade Union Confederation) nicht in der Lage ist, andere konstitutionalistische, demokratische Parteien zu bündeln und eine Anti-LDP-Front zu bilden.

Ein zweiter Faktor ist, dass der Journalismus in Japan nur begrenzt funktioniert. Unter dem 2012er-System machen Medienbosse mit dem Regierungschef und hohen Regierungsfunktionären in Luxusrestaurants oder auf Golfplätzen regelmäßig „Informationsaustausch“. So wird verhindert, dass kritische Berichte auftauchen. Am 20. November 2014 forderte die LDP die Rundfunkanstalten auf, „Neutralität und Unparteilichkeit der Meldungen in der Wahlkampfzeit zu gewährleisten.“ Tatsächlich machte sie Druck, so dass kritische Kommentator:innen aus den Fernsehprogrammen verschwanden. Denn die Regierung ist befugt, „ungeeignetem“ Rundfunk die Lizenz zu entziehen. Die internationale NGO „Reporter ohne Grenzen“ veröffentlicht jährlich eine Rangliste zur Pressefreiheit in fast allen Staaten der Welt. Bis 2012, wo noch ein altes Bewertungssystem gültig war, befand sich Japan in einer guten Position, 2009 und 2010 sogar in einer sehr guten. Unter dem 2012er-System werden jedoch erkennbare Probleme festgestellt und es ging es immer weiter bergab (siehe Grafik nur im PDF).

Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen im Bezug auf Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, David Kaye, besuchte Japan vom 12. – 19. April 2016. Am 29. Mai 2017 stellte er seinen Bericht vor.[7] Der Bericht stellte fest, dass die Regierung direkten und indirekten Druck auf die japanischen Medien ausübt, und äußerte sich besorgt über die Unabhängigkeit der Medien, über Hassreden und über die historische Anerkennung von „Trostfrauen“. Außerdem empfahl der Bericht, das „Whistleblower“-Gesetz von 2013 zu ändern sowie den Artikel 4 des Rundfunkgesetzes abzuschaffen, der als Rechtfertigung für die zwangsweise Einstellung der Arbeit von Sendern verwendet werden kann. Er beschrieb auch den Druck, den die japanische Regierung auf die Proteste gegen den Bau neuer Militärstützpunkte in Okinawa ausübt, riet davon ab, die Demonstrationsfreiheit gegen die öffentliche Ordnung einzuschränken, und schlug der Regierung vor, mit den Protesten und dem damit verbundenen Journalismus zusammenzuarbeiten.

Mit einem neuen Bericht vom 6. Juni 2019 forderte der UN-Sonderberichterstatter Kaye die japanische Regierung auf, das Recht auf Versammlung und Meinungsäußerung zu respektieren. Er stellte fest, dass fast keine der Empfehlungen des vorherigen Berichts umgesetzt wurde.

Der damalige Regierungssprecher Yoshihide Suga (später Premierminister) wies Kayes Bericht mit den Worten zurück: „Wir können diesen Bericht nicht akzeptieren, der voller Ungenauigkeiten und unbegründeter Behauptungen ist.“ Offensichtlich zeigte die japanische Regierung keine Lust, ernsthaft auf die Aufforderung des Sonderberichterstatters der UN reagieren, das Recht auf Versammlung und Meinungsäußerung zu respektieren. Sie machte sich im Gegenteil über ihn lustig, was als Mitglied der internationalen Gemeinschaft völlig unangebracht ist.[8] Es fragt sich, ob die japanische Obrigkeit versteht, dass sich dieses Verhalten negativ auf das Vertrauen gegenüber Japan auswirkt.[9]

2022 findet sich Japan in der Rangliste der Reporter ohne Grenzen auf Platz 71. Die Einschätzung der NGO findet sich (gekürzt) im nebenstehenden Kasten.


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KASTEN:

Political context:

Since 2012 and the rise to power of the nationalist right, many journalists have complained about a climate of mistrust, even hostility, toward them. The system of ‘kisha clubs’ (‘reporters’ clubs’), which only allows established news organisations to access government events and to interview officials, induces journalists into self-censorship and represents blatant discrimination against freelancers and foreign reporters.

Economic context:

In this world’s most aged country, the paper-centred model remains the main economic model, but its future is uncertain due to the decline of its audience. Japan does not have regulation against the cross ownership of newspapers and broadcast stations, which has led to an extreme media concentration and the growth of media groups of considerable size, sometimes with over 2,000 reporters.

Sociocultural context:

The Japanese government and businesses routinely apply pressure on the management of mainstream media, which results in heavy self-censorship on topics that could be deemed sensitive, such as corruption, sexual harassment, health issues (Covid-19, radiation), or pollution. In 2020, the government dramatically reduced the number of journalists invited to its press conferences, using Covid-19 health measures as an excuse, and included public broadcaster NHK on the list of organisations supposed to follow its “instructions” in the case of a major national crisis.[1]

[1] Siehe Länderseite “Japan” bei den Reportern ohne Grenzen (Stand 4.10.22), URL: https://rsf.org/en/.

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Zweimal wird darin auf „Selbstzensur“ hingewiesen, denn die meisten Zeitungen und TV-Sender machen keinen eigentlichen Journalismus, sondern einfach nur Öffentlichkeitsarbeit.

Diese Medien werden aber von der desinteressierten Bevölkerung toleriert und vielleicht sogar begrüßt. Ende Dezember 2021 veröffentlichte Yûsaku Horiuchi, der am US-amerikanischen Dartmouth College forscht, seine Analyse über die Unterhauswahlen 2014, 2017 und 2021.[10] Er verglich zwei Parteien in Bezug auf 1.) AKW- und Energiepolitik, 2.) Außen- und Sicherheitspolitik, 3.) Vielfalt und Zusammenleben und 4.) Corona-Maßnahmen und Wirtschaftspolitik. Wenn der Parteiname verdeckt war, zogen etwa 2.000 Probanden eher die Politik der Konstituionell-Demokratischen Partei und der Kommunistischen Partei vor. Aber wenn die LDP als Subjekt deutlich angezeigt wurde, wählten sie ohne zu zögern deren Politik. Zum Beispiel: unter der fiktiven Voraussetzung, die LDP verspräche den Widerruf des japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrags, was eigentlich völliger Unsinn ist, wird diese Politik mehrheitlich unterstützt. Das bedeutet, dass es für nicht wenige Wähler:innen in Japan von Anfang an nur eine Option gibt: die LDP. Für sie spielt es keine Rolle, welche anderen Parteien welche politischen Ziele verfolgen.

Diese Studie stellt die selbstverständliche Voraussetzung der Politikwissenschaft, die Wähler:innen gäben ihre Stimmen aufgrund ihrer rationalen Ansicht, infrage. Denn wenn die Wähler:innen nur eine Option haben wollen, hat das Wahlprogramm keine Bedeutung.

Die Demokratie staatlich begraben?

Am 14. Juli 2022 begründete Premierminister Fumio Kishida das Staatsbegräbnis für Shinzô Abe damit, des ehemaligen Premierministers zu gedenken und Entschlossenheit zu zeigen, sich nicht der Gewalt zu beugen und die Demokratie zu verteidigen. Außerdem lobte er, dass Abe acht Jahre und acht Monate lang- die längste Zeit in der japanischen Parlamentsgeschichte – mit herausragender Führungskraft und Handlungsfähigkeit die schwere Verantwortung des Premierministers für unsere schweren internen und externen Situationen ausgesetztes Land übernommen habe.

Mit Abe die Demokratie verteidigen? Der Rechtsnationalist polarisiert auch nach seinem Tod die öffentliche Meinung in Japan. Die Liste der Missstände unter seiner Regierung ist unendlich lang.

Warum entschied sich Kishida so schnell, ein Staatsbegräbnis für Shinzô Abe zu veranstalten? Vermutlich wollte er damit deutlich machen, dass er das 2012er-System fortzuführen und eine Verfassungsänderung als Abes innigsten Wunsch zu verwirklichen gedenkt. Indem er sich beim innerparteilichen Abe-Flügel einschmeichelt, kann er seine innerparteiliche Position festigen. Durch eine Verfassungsänderung, vor allem die Einführung eines Notstandsartikels, kann er eine diktatorische Staatsgewalt in die Hand bekommen. In diesem Sinne kann das Staatsbegräbnis für Abe als Generalprobe für einen Notstand gesehen werden. Vor dem Krieg, 1929, wurde die Staatsbegräbnisverordnung (Kokusôrei) erlassen. Personen, denen ein Staatsbegräbnis zustand, waren der Tenno und Mitglieder der kaiserlichen Familie sowie Personen, die besonders große Verdienste geleistet hatten. Diese Verordnung wurde mit dem 31. Dezember 1947 außer Kraft gesetzt, weil Staatsbegräbnisse als Mittel zum Ausbau des Tenno-Staates, zur Förderung des Angriffskrieges und für die totale Mobilisierung genutzt worden waren. Nach dem Krieg gab es ein einziges Mal ein Staatsbegräbnis, und zwar am 31. Oktober 1967 für den ehemaligen Premierminister Shigeru Yoshida, 11 Tage nach dessen Tod. Das damalige Kabinett Eisaku Satô wurde heftig kritisiert, weil es ohne rechtliche Grundlage willkürlich die staatliche Zeremonie angeordnet hatte.

Laut einer Umfrage des öffentlich-rechtlichen Rundfunks NHK vom 16. – 18. Juli waren 49 Prozent der Befragten für das Staatsbegräbnis, 38 Prozent dagegen. 59 Prozent unterstützten das Kabinett Kishida. Nur einen Monat später (5. – 7. August) hat sich das Verhältnis umgekehrt: 50 Prozent waren gegen das Staatsbegräbnis, 36 Prozent dafür. Die Zustimmungsrate für die Regierung ist auf 46 Prozent abgestürzt. Mit der Kabinettsumbildung am 10. August versuchte Kishida vom Problem der LPD mit der Moon-Sekte abzulenken. Aber auch bei anderen Umfragen zeigt sich seit August eine relative oder auch absolute Mehrheit gegen das Staatsbegräbnis. Laut der Tageszeitung Mainichi vom 19. September sind 62 Prozent gegen das Staatsbegräbnis (9 Punkte mehr als am 22. August), 27 Prozent dafür (drei Punkte weniger). Die Zustimmungsrate für die Regierung ist nun auf nur 29 Prozent (sieben Punkte weniger) abgestürzt, für die LDP auf 23 Prozent (sechs Punkte weniger). Am gleichen Tag nahmen 13.000 Bürger:innen trotz eines herannahenden Taifuns an der Protestkundgebung gegen das Staatsbegräbnis in Tokio teil.

Schlussbetrachtungen

Am 27. September wurde das Staatsbegräbnis für Shinzô Abe tatsächlich durchgesetzt. Aus Deutschland nahm Christian Wulff als früherer Bundespräsident daran teil. Kishida pries Abe als „Kompass, der die Zukunft von Japan und der Welt weist“. Damit hat Japan dem In- und Ausland seinen Willen gezeigt, den gewaltsamen Militarisierungskurs weiter voranzutreiben.

Hat Japan damit eine historische Chance vertan, zu einer vernünftigen Politik zurückzukehren? Dabei geht es darum, sich nicht nur mit dem 2012er-System, sondern mit dem japanischen Nachkriegsstaat und dem japanischen Nationalstaat überhaupt auseinanderzusetzen. Die Staatsdoktrin des jungen Nationalstaates war die Einheit von Religion und politischer Herrschaft (saisei itchi). Der Tenno war angeblich als Nachkomme der Götter heilig und unverletzlich. Es war ein Zeichen höchster Nationalmoral, sich für den Tenno und die kaiserliche Familie zu opfern. Die Generäle und Soldaten, die für den Tenno fielen, wurden und werden noch heute im Yasukuni-Schrein als „Heldenseelen“ (gunshin) verehrt. So gesehen könnte man Japan vor 1945 durchaus als „Kultstaat“ bezeichnen.

Angesichts dessen, dass sich niemand persönlich für den Kriegsausbruch und die bedingungslose Kapitulation verantwortlich fühlte, sprach der Politikwissenschaftler Masao Maruyama schon unmittelbar nach Kriegsende von einem „System der Unverantwortlichkeiten“.[11] Dieses System wurde nach dem Krieg vollendet, als Tenno Hirohito von jeglichem Vorwurf einer Kriegsschuld verschont blieb. Auch die oligarchischen Kräfte, die die Politik des Tenno gelenkt hatten, konnten im Zeichen des kalten Krieges auf die politische und wirtschaftliche Bühne zurückkehren. Shinzô Abe war die Symbolfigur dieser Oligarchie Japans im 21. Jahrhundert.

In diesem Sinne könnte man Japan immer noch ein feudalistisches Land brandmarken, zumal in der LDP Erbpolitiker:innen entscheidenden Einfluss ausüben[12]. Obwohl Japan zu den G7-Staaten zählt, darf bezweifelt werden, dass dieses Land die Grundwerte von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten teilt. Die G7-Mitgliedschaft scheint bei nicht wenigen Japaner:innen eher das Bewusstsein eines „auserwählten Volkes“ anzuheizen, ähnlich der Stellung als einziges ständiges Mitglied des Völkerbundrats aus Asien oder, noch rassistischer, als „Ehrenweiße“ in Südafrika unter der Apartheid.

Solch ein Japan wird von Björn Höcke gelobt. Beim Kyffhäusertreffen am 6. Juli 2019 empfahl er, den „japanischen Weg“ zu gehen. Als Stärke Japan nannte er wörtlich: „Funktionierendes Gastarbeitersystem, nur 20 Asylanten pro Jahr, Rationalisierung und Robotertechnik statt Einwanderung, Die drei-Kind-Familie, Keine Vergangenheitsbewältigung trotz der Niederlage, Geringer Ausländeranteil, eins der sichersten Länder der Welt, staatspolitisch, wirtschaftspolitisch, identitätspolitisch sehr klug und hochmoralisch: 180 Grad Wende in der Einwanderungspolitik“.[13]

Ob Japan ein wirklich demokratisches Land wird, wo die Menschen nicht mehr von gottgleicher Autorität abhängen, wird sich zeigen. In Deutschland und Europa sollte man kein falsches Japan-Bild nach der einfachen Dichotomie „Demokratie vs. Autokratie“ haben. Das würde nur Ultranationalist:innen und Militarist:innen in Japan ermutigen und die ohnehin gefährlichen Verhältnisse in Ostasien noch gefährlicher machen. Die Zusammenarbeit beider Zivilgesellschaften ist dringend notwendig.

Anmerkungen


[1] Eiichi Kido: Japan auf dem Weg zur Wiederbelebung des Militarismus, in: Ausdruck (Oktober 5/2014), vgl. https://www.imi-online.de/2014/10/13/japan-auf-dem-weg-zur-wiederbelebung-des-militarismus.

[2] Allerdings betrachten nicht wenige Verfassungsrechtler:innen auch diese Interpretation als eine Umgehung.

[3] Science Council of Japan: Statement on Research for Military Security, URL: https://www.scj.go.jp/ja/info/kohyo/pdf/kohyo-23-s243-en.pdf.

[4] Die Moon-Sekte hat mehr als 200 Tarnorganisationen und -firmen wie Federation for World Peace (FWP), Womens Federation for World Peace Japan (WFWP), International Association of Parliamentarians for Peace (IAPP), Professors World Peace Academy (PWPA). Sie hat sogar eine scheinbuddistische Zweigstelle in Hokkaidô „Tenchi Seikyô“ (Richtige Lehre für Himmel und Erde).

[5] Auf Deutsch dokumentiert bei der Botschaft von Japan in Deutschland: Präsentation von Premierminister Shinzo Abe zur Kandidatur Tokyos als Austragungsort der Olympischen und Paralympischen Spiele 2020 im Rahmen der 125. Vollversammlung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) in Buenos Aires am 07. 09. 2013, URL:https://www.de.emb-japan.go.jp/aktuelles/130909olympiade2020.html.

[6] Address by the Prime Minister at the 5th Eastern Economic Forum Plenary Session, URL: https://japan.kantei.go.jp/98_abe/statement/201909/_00001.html.

[7] Human Rights Now: The UN Special Rapporteur on Freedom of Expression, David Kaye, releases his report on Japan for the 35th Human Rights Council session, URL: https://hrn.or.jp/eng/news/2017/05/31/david-kaye-report/.

[8] Siehe z.B.: David McNeill: Best frenemies: Japan vs. the UN, URL:https://www.fccj.or.jp/number-1-shimbun-article/best-frenemies-japan-vs-un.

[9] Diese Überheblichkeit erinnert an die Pressemeldung in Japan über seinen Austritt aus dem Völkerbund am 27. März 1933. Nach dem von Japan inszenierten Zwischenfall von Mukden am 18. September 1931 errichtete Japan am 1. März 1932 den Marionettenstaat Mandschukuo. Aufgrund des Berichts der am 21. November 1931 eingesetzten Lytton-Kommission erklärte der Völkerbund, dass Mandschukuo ein Teil der Republik China sei. Als der Bericht am 24. Februar 1933 bei der Vollversammlung des Völkerbundes mit großer Mehrheit (42 Staaten waren dafür, nur Japan dagegen, Thailand enthielt sich) angenommen wurde, verließ der japanische Gesandte beim Völkerbund, Yôsuke Matsuoka, den Saal.

Die Presse jubelte. Die Schlagzeile der Asahi-Zeitung am nächsten Tag lautete: „Adieu, Völkerbund! Kein Weg mehr für Zusammenarbeit. Unser Vertreter verlässt aufrecht den Saal.“ Die Nationalkonservativen, die im „Großjapanischen Kaiserreich“ das Idealbild Japans sahen, konnten für diese aufrechte Haltung schwärmen.

[10] https://business.nikkei.com/atcl/NBD/19/00150/121700013/

[11] Masao Maruyama, Freiheit und Nation in Japan, München: iudicium, 2007, S.134.

[12] Von 465 Unterhausabgeordneten, die 2021 gewählt wurden, sind 108 (23,2%) Erbpolitiker:innen, allein bei der LDP 87 (33,6%). Sech von neun Premierministern, die in vergangenen 20 Jahren im Amt waren, Erpabgeordnete.

[13] Der Wortlaut stand in der Webseite des völkisch-nationalistischen Gruppe „Der Flügel“ innerhalb der AfD. Nachdem „Der Flügel“ im März 2020 als „rechtsextremistisch“ eingestuft wurde, ist die Webseite gelöscht worden.