IMI-Analyse 2022/54 - in: Ausdruck September 2022
Ungesehene Akteure
Rüstungsindustrie abseits von Rheinmetall und KMW
von: Andreas Seifert | Veröffentlicht am: 26. September 2022
Wenn von Rüstungsindustrie in Deutschland die Rede ist, so endet fast jede oberflächliche Auflistung hinter Rheinmetall, KMW, Heckler & Koch, Diehl und Airbus. Die Rüstungsindustrie und der „wehrtechnische Mittelstand“1 umfassen aber weit mehr Unternehmen – zuletzt zählte die Bundeswehr selbst rund 1350 Unternehmen im Mittelstand dazu, der fast 70 % aller von der Bundeswehr vergebenen Aufträge erfüllte. Schwerpunkte sind hierbei vor allem Aufträge für den laufenden Betrieb, den Unterhalt und auch die Wartung, wohingegen die Quote bei den investiven Ausgaben deutlich geringer ausfällt. Es ist nichtsdestoweniger sinnvoll, sich auch über diesen Teil der Rüstung Klarheit zu verschaffen, falls ein realistisches Bild von Rüstung in Deutschland angestrebt wird.
Der Informationsdienst des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) lieferte pünktlich zu Beginn des Ukrainekriegs und dem Aufrüstungsreflex des Kanzlers ein Branchenportrait zur deutschen Rüstungsindustrie ab.2 Darin wurde von einer Rüstungsindustrie berichtet, deren volkswirtschaftliche Relevanz gering ist, die aber nun auf massive Förderung zurückgreifen kann. Das IW errechnet rund 55.500 Beschäftigte bundesweit und einen Gesamtumsatz von etwa 11,28 Mrd. €. Insgesamt ist das gerade rund 0,3 % des deutschen BIP. Der eine oder die andere mag sich noch an die Zahlenspiele des Bundesverbandes der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) von 2013 erinnern – damals wurde die Industrie noch um Diverses aus dem Bereich der Sicherheit erweitert und die Zahl der Beschäftigten noch knapp an die Grenze von 100.000 hochgerechnet.3
Dual-Use als Klammer und Schleier
Eines der Probleme damals wie heute ist die Zuordnung von Umsätzen und Beschäftigtenzahlen zu einer Branche, die immer mehr in der Gesamtwirtschaft aufgeht und deren Akteure (Unternehmen) nicht mehr allein in einer Branche tätig, sondern in zivilen und militärischen Feldern gleichermaßen aktiv sind. Die große Zahl der Mittelständler ist in beiden Bereichen tätig und produziert auch Güter, die in beiden Bereichen verwendbar sind. Die Übergänge von ziviler zu militärischer Produktion sind also fließender geworden. Gerade bei Unternehmen, die mehr oder minder nur noch in einer Zulieferrolle engagiert sind, wird kaum noch zwischen einer Produktion von Vorprodukten für beispielsweise einen Automobilhersteller oder der Vorproduktion für den Panzerbauer unterschieden – dies geschieht nur dort, wo mit der Produktion oder der Entwicklung spezifische Zwänge zur Geheimhaltung oder spezifische Technologien zum Einsatz kommen. Verschiedene Aspekte dieser Problematik werden mit dem Begriff des Dual-Use verdeckt – was den Mythos nährt, die Rüstung sei eine der wesentlichen Triebfedern von technologischen Innovationen. Oftmals, und dies ließe sich letztlich besonders an der Entwicklung digitaler Technologien zeigen, ist es umgekehrt: Zivile Unternehmen und Mitarbeiter*innen entwickeln neue innovative Wege, die dann bei nächster Gelegenheit ins Militärische zweckentfremdet werde. Dieser, aus pazifistischer Sicht, Missbrauch ziviler Ressourcen und Entwicklungsleistung fürs das Militär ist dabei keineswegs zufällig, sondern erfolgt gezielt und systematisch – an die Debatten z.B. rund um das Cyber Valley in Tübingen sei an dieser Stelle nur erinnert.4 Von der Bundeswehr finanzierte Institutionen wie das Fraunhofer Institut für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen (INT) verfolgen beispielsweise genau dieses Ziel, identifizieren aktuelle Forschungstrends und bereiten einen Transfer nicht nur in die militärische Sphäre, sondern auch gleich in die Rüstungsindustrie vor. Sichtbar wird dies an universitären Ausgründungen, die mehr oder minder offen aufgefordert werden, das Militärische bei der Weiterentwicklung nicht außer Acht zu lassen – hier kann es dann helfen, dass eine Firma wie beispielsweise Diehl nicht nur ein reines Rüstungsunternehmen ist, sondern einer potenziell zivilen Verwendung eine Brücke baut.
Neuer Stolz – Neue Perspektiven
Die Branche ist im Umbruch, beschreibt der oben genannte Informationsdienst, und meint damit eine Trendwende hin zu mehr Investitionen in das Material der Bundeswehr. Folglich ist die Presse bemüht, die Zuwächse an Panzern, Schiffen und Flugzeugen zahlenmäßig zu hinterlegen: F35, K130, F 126, U 212, Puma, Marder, Fuchs, … Dabei entfallen auch hier große, wenn nicht sogar die größeren Summen auf Material, was man hinterher nicht einmal sehen wird. Der Bereich „Führung“ (siehe Grafik) umfasst mit knapp 20 Mrd. € ein Fünftel aller zu vergebenden Gelder des 100 Mrd. Aufrüstungspakets und wird in Unternehmen fließen, deren Namen und Produkte man heute in einer Aufstellung von „Rüstungsunternehmen“ vergeblich sucht. Die tatsächlichen Auftragnehmer*innen der elektronischen Systeme stehen meist im Hintergrund und werden von den Systemanbietern wie Airbus, KMW oder Rheinmetall verdeckt. Der schon länger vorhandene Trend einer Verschiebung der Gewichte weg von der Hardware (Panzer, Kanonenboot, Jagdflugzeug) hin zu den elektronischen und digitalen Systemen setzt sich fort. Wer sich mit dem Branchenverband AFCEA Bonn e.V. (Anwenderforum für Fernmeldetechnik, Computer, Elektronik und Automatisierung e.V.) auseinandersetzt, stößt auf viele zivile Unternehmen, die bemüht sind, dem Militär, aber auch anderen Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS), moderne elektronische Technik und digitale Produkte zu verkaufen, die die Kampfkraft erhöhen sollen.
Dies ist das Ergebnis einer tendenziell wahrnehmbaren oder auch nur unterstellten „neuen Gefährdungsanalyse“ mit der die Regierung versucht, der digitalen Verletzlichkeit unserer Gesellschaft Rechnung zu tragen. Der angenommenen Gefährdung der Gesellschaft durch Cyberangriffe oder Desinformation wird u.a. dadurch begegnet, dass das Militär in die Lage versetzt wird, „uns“ dagegen zu schützen und selbst Angriffe ausüben zu können. Die Implikationen dieses Politikansatzes wurden schon vom Chaos Computer Club (CCC) und vom Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) und anderen angesprochen. Hier ist in den letzten 20 Jahren ein „Markt“ entstanden, den eine ganze Reihe von Unternehmen zu bedienen versucht – ein Markt wohlgemerkt, der mit der Herstellung von Sicherheit wirbt, aber letztlich aus Geschäftsgründen kein Interesse an mehr Sicherheit haben kann. Statt auf sichere Softwarearchitektur und sichere Hardwarekomponenten zu setzen, wird das Zusatzprodukt verkauft – Otto-Normalverbraucher*in bleibt vulnerabel. Dass hier zudem ein weiterer Übergang von einer zivilen Industrie in eine militärische Verwendung geschaffen wird und wir ggf. eine Militarisierung unserer schönen digitalen Welt erleben, bleibt dabei auf der Strecke.
Überblick verschaffen
Die IMI hat schon mit dem Rüstungsatlas von 2007 versucht, den Schnittstellen von Militär-Gesellschaft-Industrie-Forschung auf die Schliche zu kommen. Damals stand Baden-Württemberg im Fokus, was den Vorteil hatte, die Masse ein wenig zu reduzieren und die Komplexität zu erhalten. Mit dem nun herausgebrachten Handbuch Rüstung5 sind wir einen anderen Weg gegangen. Wir haben der Dynamik der Veränderung der Industrie Rechnung getragen und die Verbandsverzeichnisse des BDSV und AFCEA nach den relevanten Firmen durchforstet und mit zusätzlichen Informationen versehen. Der nun vorhandene Überblick soll die kritischen Geister dazu anregen, sich fundiert in Diskussionen über eine vielfältige Branche einzubringen – Rüstung ist nicht auf die Großen der Branche beschränkt, die kleinen Firmen müssen sichtbarer werden.
1 Nach einer Definition des BMVg aus „Konzept des Bundesministeriums der Verteidigung zur Stärkung des wehrtechnischen Mittelstandes“, www.bmvg.de, 20.4.2016.
2 Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft, Deutsche Rüstungsindustrie: Eine Branche im Umbruch, www.iwd.de, 29.3.2022.
3 Andreas Seifert, Im Dreisprung in den Wirtschaftsolymp, IMI-Analyse 2013/4, www.imi-online.de, 8.3.2013.
4 Christoph Marischka, Cyber Valley, MPI und US-Geheimdienste, IMI-Studie 2020/3, www.imi-online.de, 15.5.2020.
5 Das Handbuch Rüstung des selben Autors ist online einsehbar und bestellbar unter: www.imi-online.de