IMI-Standpunkt 2022/027
Herbeigesehnte Zeitenwende?
Rückblick auf ein EU-Strategiepapier vom September 2020
von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 13. Juli 2022
Unter dem Titel „Politik der Katastrophe“ hatte sich der IMI-Kongress im November 2020 vor dem Hintergrund der Covid19-Pandemie mit deren politischer Bearbeitung auseinandergesetzt. Die damals online gehaltenen Beiträge wurden im März 2021 im IMI-Magazin AUSDRUCK veröffentlicht. Ein Beitrag befasste sich damals auch mit der „(Tech-)Geopolitik in der Pandemie“ und stellte hierzu ein Papier vor, welches Autor*innen des EU Institute for Security Studies (EUISS) im Auftrag des Europäischen Parlaments erstellt hatten und das „die geopolitischen Implikationen der COVID-19-Pandemie“ untersucht. Bereits damals urteilte der Beitrag, dass „es sich bei den verschiedenen Bezugnahmen auf die Pandemie (auch) im vorgestellten Papier um Augenwischerei [handelt]. Wie schon bei den einleitend identifizierten ‚Trends‘ handelt es sich auch bei den vermeintlich aus den Szenarien abgeleiteten Imperativen um ohnehin dominante Diskurse und Strategien, die nun zusätzlich mit sich (vermeintlich) aus der Pandemie resultierenden Argumenten und mit den Corona-Konjunkturpaketen vorangetrieben werden“. Tatsächlich räumen auch die Autori*nnen der Studie ein, dass in vielerlei Hinsicht die Pandemie eher bestehende Trends beschleunige, während sie zugleich allerdings „Disruptionen“ hervorbrächte, welche – hier ist das Papier tw. erstaunlich optimistisch formuliert – neue „Möglichkeitsräume öffne“ bzw. „Räume für Handeln und Wandel“ hervorbringe.
Dass es in dem Strategiepapier nicht wirklich um die Pandemie geht, offenbaren v.a. die drei Szenarien, die darin entwickelt werden und die weitgehend unabhängig vom Verlauf der Pandemie vielmehr von dem Ausgang der Wahlen in den USA bestimmt sind. Zwei dieser Szenarien, die „Strategische Distanzierung“ und „Europa in der Selbstisolation“ gehen von einer Wiederwahl Trumps, das dritte Szenario, „Welt im Lockdown“, von der Wahl Bidens aus. Bei den Autor*innen scheint eine gewisse Präferenz für dieses letzte Szenario durchzuscheinen, wenngleich es zumindest für Europa als kriegerischste Option erscheint. Rückblickend könnte man fast sagen, dass weniger die Pandemie, als der vielmehr der russische Angriff auf die Ukraine jene Disruptionen hervorgerufen und Möglichkeitsfenster eröffnet hat, welche zumindest in Teilen zur Realisierung dieses Szenarios beigetragen haben.
Dieses Szenario wurde vom Autor in seinem Beitrag zum IMI-Kongress folgendermaßen zusammengefasst: „Das Szenario ‚Welt im Lockdown‘ hingegen ging davon aus, dass in den USA Biden zum Präsidenten gewählt werde. Europa und die USA gründen gemeinsam mit allen ‚konsolidierten Demokratien‘, nicht-staatlichen Akteuren und Unternehmen eine ‚Partnerschaft zur Verteidigung der Demokratie‘ – was die Welt in zwei Teile spaltet. Die Rüstungsausgaben in der EU steigen stark, weil sie für die Eindämmung Russlands zuständig ist, während die USA sich mit China beschäftigen. Zwischen den beiden Blöcken findet kaum Kooperation, Handel und Informationsaustausch statt, beide konkurrieren aber dabei, den Klimawandel zu bekämpfen“. Es soll hier nochmal etwas ausführlicher wiedergegeben werden, da es offensichtlich wesentliche Elemente dessen vorwegnimmt, was aktuell unter dem Begriff der „Zeitenwende“ umgesetzt wird.
So heißt es bereits im zweiten Satz zur Beschreibung des Lockdown-Szenarios, dass „die Außenpolitik zu einem vertrauten Zustand zurückgekehrt war – vertraut für diejenigen, die sich an die 1980er Jahre erinnern“: „In militärischer Hinsicht war diese in zwei Lager gespaltene Welt eine feindliche Welt. Europa sah sich in seiner Nachbarschaft, in Syrien, Libyen und der Ukraine mit Russland konfrontiert und hatte zunächst Mühe, die Mittel und den Willen aufzubringen, um mit dessen militärischer Macht Schritt zu halten. Bis 2025 kam es im Asowschen Meer regelmäßig zu kleineren Zusammenstößen zwischen europäischen und russischen Schiffen. In Afrika machte China, unterstützt von Russland, trotz des Widerstands der ‚Partnerschaft zur Verteidigung der Demokratien‘ Fortschritte […]. Die Wiederwahl von Joe Biden Ende 2024 bestätigte, dass die amerikanische Bevölkerung seinen außenpolitischen Kurs unterstützte, was zu einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben, insbesondere im Bereich der Marine, führte. Analysten waren sich sicher, dass es vor 2030 zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staaten und China kommen würde, aber wo, war ungewiss – Taiwan oder die Senkaku-Inseln schienen die Hauptbrennpunkte zu sein. Für Europa bedeutete diese amerikanische Konzentration auf Asien, dass es weiter in eine militärische Rolle in seiner östlichen und südlichen Nachbarschaft gedrängt wurde, mit der es anfangs nicht einverstanden war. Doch ein weiterer russischer Angriff, diesmal auf ein italienisches Schiff vor der Küste Libyens, wendete das Blatt: Die europäische Öffentlichkeit befürwortete zunehmend eine energischere Verteidigungshaltung, insbesondere in einem gemeinsamen europäischen Kontext“.
Einher geht die neue Blockkonfrontation demnach mit einer Reorganisation der Energieversorgung und der Wertschöpfungsketten: „Bis 2025 hatten sowohl Europa als auch die Vereinigten Staaten weitreichende Maßnahmen ergriffen, um die Versorgung in Richtung der Staaten zu diversifizieren, die dem demokratischen Lager angehörten […]. Umfangreiche Investitionen in Klimaschutzmaßnahmen, die im Pandemiepaket vorgesehen waren, beschleunigten beispielsweise die Energieeffizienz und förderten erneuerbare Energien – die Verringerung der Energieabhängigkeit war ein willkommener Nebeneffekt. Die Fortschritte bei der Ionisch-Adriatischen-Pipeline und dem LNG-Terminal in Klaipeda (Litauen) gaben der Diversifizierung einen weiteren Schub. In ähnlicher Weise trieb ein Technologiesprung und die Digitalisierung den 3D-Druck und die Robotik voran und verlagerte einen Teil der Produktion zurück nach Europa. Während alle drei digitalen Spitzenreiter – die EU, die USA und China – nach der Pandemie ihre Fortschritte in der digitalen Technologie beschleunigten, bedeutete die effektive Abschottung des technologischen Wettbewerbs, dass die digitale Kluft nun einen ideologischen Charakter annahm. Die Staaten mussten nun Technologie kaufen, wie sie früher Rüstungsgüter kauften: um ihre Solidarität auszudrücken“.
Zwei weitere Annahmen in diesem Szenario mögen demgegenüber überraschen. So wird ausgegangen, dass der Informationskrieg zwischen den Blöcken weitgehend zum erliegen käme, einerseits weil es zwischen diesen Blöcken kein zu überzeugendes Zielpublikum mehr gäbe, andererseits weil diese stärkere Maßnahmen ergriffen hätten – indem sie Nachrichtenplattformen und Medien gezielt verboten hätten. Noch erstaunlicher ist die Annahme, dass diese „feindliche Welt“ mit Hochrüstung, andauernden und eskalierenden militärischen Konfrontationen, zu konkurrierenden, damit aber erfolgreichen Maßnahmen gegen den Klimawandel führen würde: „Was den Klimawandel betrifft, so wurde er zum Mond des 21. Jahrhunderts: Der Wettlauf zur Kohlenstoffneutralität wurde zum Symbol für Fortschritt und systemische Fitness. Obwohl man befürchtet hatte, dass die bipolare Welt zu einer Verringerung der Klimaschutzmaßnahmen führen würde, wurde die inzwischen weltweit geteilte Sorge über steigende Temperaturen und Umweltzerstörung zu einem Lackmustest für die Überlegenheit des jeweiligen Systems“.
Alle drei Szenarien sind lesenswert. Auffällig ist, dass eine Reorganisation der Wertschöfpungsketten – v.a. im High-Tech-Bereich – und Diversifikation der Energieversorgung in allen dreien eine zentrale Rolle gespielt haben – sie unterscheiden sich v.a. dahingehend, welche Rolle darin jeweils der russische Einflussbereich und die USA spielen. Der russische Angriff auf die Ukraine und die daraufhin vom Westen verfügten Sanktionen haben nun allerdings als Katalysator gewirkt, diese Frage zugunsten der USA zu entscheiden und die vorgesehenen Prozesse enorm zu beschleunigen. Auch die massive Aufrüstung Europas, die im dritten Szenario noch durch maritime Zwischenfälle im Asowschen Meer (!) und vor der Küste Libyens – übrigens jeweils klar jenseits der Hoheitsgebiete der EU-Mitgliedsstaaten – begünstigt wurde, wurde durch den Krieg in der Ukraine deutlich schneller eingeleitet, als vorhergesehen. Was die Rolle der USA in Europa und im Konflikt mit Russland angeht, weicht die Realität bislang noch stark vom vorgestellten Szenario ab, weil die USA sich hier bislang am stärksten „engagiert“ und massiv zusätzliche Truppen nach Europa geschickt hat. Ob dies so bleibt, oder sich die USA wieder verstärkt Richtung China orientieren, wenn Europa seine „Hausaufgaben“ gemacht hat, wird abzuwarten sein. Dasselbe gilt für die nachlassende Intensität des Informationskrieges. Es ist tatsächlich denkbar, dass dieser angesichts einer sehr weitgehenden Entkopplung der Blöcke und der entsprechenden Informationsräume tatsächlich an Relevanz verliert und zugleich durch das Verbot von Medien und Plattformen in Teilen zum Erliegen kommt. Im Moment, wo viele europäische Öffentlichkeiten hinsichtlich Sanktionen und Waffenlieferungen gespaltener sind, als es den Anschein erweckt, ist jedoch auch das Gegenteil denkbar.
Als relativ ausgeschlossen erscheint allerdings die Annahme, dass der neue „Kalte Krieg“ Vorteile für die Bekämpfung des Klimawandels hervorbringt. Sie wirkt bereits im vorgestellten Szenario wenig plausibel und eher als argumentativer Trick, um die kriegerische, feindliche Welt in diesem hochgerüsteten Szenario halbwegs wünschenswert darzustellen. Zum Vergleich: Im Szenario „Europa in der Selbstisolation“, in dem sich die EU aus dem Wettbewerb konkurrierender Weltmächte verabschiedet hat, bleiben Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels auf globaler Ebene weitgehend aus: „Diese europäische Abwesenheit auf der Weltbühne hatte ihren Preis. Während sich Europa beispielsweise nach innen wandte und seine Maßnahmen zum Klimawandel verfeinerte, versiegten die Bemühungen der Klimadiplomatie und damit auch ein wichtiger Impuls zur Verringerung der Emissionen überall“. Spätestens hier wird offensichtlich, wie viel Ideologie in den Szenarien steckt.
Abgesehen davon bezeugt auch das hier vorgestellte Strategiepapier aus dem September 2020, dass viele der nun als „Zeitenwende“ diskutierten Transformationen bereits zuvor antizipiert und auf eine Art auch herbeigesehnt wurden. Als Katalysator hierfür wirkten jedoch weniger die Disruptionen im Zuge der Pandemie, als jene infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine. Das dürfte auch zumindest in Teilen für die russische Außenpolitik absehbar gewesen sein. Vermutlich bestanden auf beiden Seiten Interessen an einer neuen, hochgerüsteten Blockkonfrontation.