IMI-Analyse 2022/19

Und wer spricht noch von Jemen?

Inkohärenz einer kriegsverurteilenden Außenpolitik und der Krieg in Jemen

von: Jacqueline Andres | Veröffentlicht am: 30. März 2022

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Nur wenige Tage vor dem siebten Jahrestag des Beginns des verheerenden Kriegs in Jemen tourte der deutsche Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck durch die Golfstaaten Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate. Ziel der Reise sei es gewesen, erste Gespräche mit Katar zur Lieferung von Flüssiggas zu führen und die Wasserstoffversorgung durch Kooperation mit den Emiraten voranzutreiben. Wasserstoff soll an einem späteren Zeitpunkt die Nutzung von Flüssiggas ablösen. Beide Vorhaben seien Teil der Bemühungen, angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine die Abhängigkeit der BRD von russischem Gas zu reduzieren, welches im Jahr 2020 noch 65,2% der gesamten Gasimporte nach Deutschland ausmachte. Habeck verteidigte seine Bemühungen in den Golfstaaten mit der Aussage, dass es zwischen einem nicht demokratischen Staat, bei dem die Situation der Menschenrechte problematisch ist, und einem autoritären Staat, der einen aggressiven, völkerrechtswidrigen Krieg vor „unserer“ Tür führe, allerdings einen Unterschied gebe.[1] Robert Habeck blendet damit den verheerenden Krieg in Jemen aus, oder er ist ihm egal, weil er eben nicht vor „seiner“ Türe stattfindet – die VAE sind im blutigen Krieg in Jemen aktive Kriegspartei und Katar war es von 2015 bis 2017 auch. Der Krieg in Jemen verursachte die größte humanitäre Katastrophe weltweit und die Aussichten sind düster, weil die Kampfhandlungen zunehmen und die internationale Gemeinschaft – Habeck und die Bundesregierung eingeschlossen – keinen Druck zur Beendigung des Krieges aufbaut, sondern ganz im Gegenteil die Zusammenarbeit mit den Golfstaaten intensiviert und damit die Monarchen, ihren Krieg und den Tod der Menschen in Jemen legitimiert.

Krieg in Jemen – aktueller Stand der Kampfhandlungen …

Im Laufe der letzten sieben Jahre führte die von Saudi-Arabien angeführte Militärkoalition mehr als 24.876[2] Luftschläge durch. Die Kampfhandlungen nahmen in den ersten Monaten des Jahres 2022 zu. Erst am Freitag, den 25. März 2022, setzten die Ansar Allah, inoffiziell auch als Houthis bezeichnet, durch einen Raketenangriff einen Ölspeicher des saudischen Ölkonzerns Aramco in Jeddah in Brand. In unmittelbarer Nähe des brennenden Speichers liegt die Formel 1 Rennstrecke, wo zum gleichen Zeitpunkt Trainings für das Rennen am vergangenen Sonntag stattfanden. Ein Rennfahrer fragte sein Team via Funk, ob es sein Auto sei, das verbrannt rieche. Für weitaus weniger Berichterstattung sorgten die nur wenige Stunden später – weitab von internationalen Großevents – erfolgten Vergeltungsschläge der Militärkoalition auf zivile Infrastruktur in Jemen. Nach Angaben der Ansar Allah trafen die Luftangriffe der von Saudi Arabien angeführten Koalition ein Kraftwerk, eine Treibstoffversorgungsstation und das staatliche Sozialversicherungsbüro in der Hauptstadt Sanaa. Bei den Angriffen starben acht Menschen. Auch Öleinrichtungen in der Hafenstadt Hodeida, in der 70% der kommerziellen und humanitären Importe des Landes abgewickelt werden, wurden zum Ziel der Angriffe.[3]

Die Kampfhandlungen intensivieren sich wieder und können mit denen des Jahres 2018 verglichen werden: Laut Angaben der Vereinten Nationen führte die von Saudi Arabien angeführte Militärkoalition im Jahr 2021 monatlich im Schnitt 600 Luftangriffe aus – Ansar Allah verübten im gleichen Zeitraum 340 Raketen- und Drohnenangriffe auf Saudi-Arabien. Allein in den ersten vier Wochen dieses Jahres stiegen Zahl und Ausmaß der Angriffe stark an – die Koalition führte mehr als 1.400 Luftangriffe aus und Ansar Allah 39 Angriffe in Saudi-Arbien und neuerdings auch auf die VAE.[4] Die Luftwaffe der VAE griff daraufhin Ziele in Jemen an und es bleibt fraglich, ob die VAE zukünftig wieder eine größere Rolle in den Kampfhandlungen spielen werden, nachdem sie im Jahr 2019 einen Großteil der eigenen Truppen aus dem Jemen abgezogen hatten und sich u.a. auf die Unterstützung von Proxies im Land konzentrierten.[5] Unklar ist auch, welche Rolle Katar in den kommenden Monaten einnehmen wird. Die Beziehungen zu Saudi Arabien und den VAE verbessern sich, darauf deutet u.a. die Verhaftung des jemenitischen Journalisten Saleh Al Jarmouzi in Doha vor wenigen Wochen hin, nachdem dieser die militärischen Aktivitäten der von Saudi Arabien angeführten Militärkoalition in Jemen kritisierte.[6] Unter anderem kritisierte er die drei Luftangriffe auf ein Gefängnis in der nordjemenitischen Stadt Sa‘ada, durch die am 21. Januar 2022 mehr als 90 Menschen starben und mehr als 200 verletzt wurden. Die Militärkoalition verwendete dabei eine Bombe des US-amerikanischen Rüstungskonzerns Raytheon. Es wird davon ausgegangen, dass zu dem Zeitpunkt rund 1.300 Menschen in Untersuchungshaft und etwa 700 Migrant*innen dort inhaftiert waren.[7] Wenige Tage zuvor, am 17. Januar 2022, hatten Ansar Allah Öleinrichtungen beim Flughafen von Abu Dhabi angegriffen und dabei drei Menschen getötet. Während der UN-Sicherheitsrat wenige Tage später einstimmig den Angriff der Ansar Allah verurteilten, bezogen sie keine gemeinsame Stellung zur Bombardierung des Gefängnisses durch die Militärkoalition. Bislang hat die Militärkoalition immer wieder zivile Infrastruktur angegriffen: Schulen, Krankenhäuser, Märkte, Hochzeiten, Beerdigungen und Fabriken. Die Ansar Allah zielt bei ihren Drohnen- und Raketenangriffen hingegen immer wieder auf Öleinrichtungen und hat Landminen in Jemen gelegt.

Der Krieg kostet viele Menschenleben: Im Jahr 2021 starben nach Angaben des  Armed Conflict Location & Event Data Project mehr als 17.800 Menschen in Kampfhandlungen.[8] Nach Angaben von UNICEF wurden seit 2015 mehr als 10.200 Kinder durch die Kriegshandlungen in Jemen getötet oder verletzt – alleine 47 in den ersten zwei Monaten diesen Jahres.[9] Insgesamt starben laut eines Berichts des UNDP seit Kriegsbeginn im März 2015 etwa 380.000 Menschen an den direkten und indirekten Folgen des desaströsen Krieges – Schätzungen nach könnte die Zahl der Kriegstoten bis 2030 auf 1,3 Millionen ansteigen. Diese Berechnungen stammen jedoch aus dem vergangenen Dezember, d. h. vor der aktuellen Eskalation und vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine, der sich auch auf den Jemen auswirkt.[10]

…und die humanitäre Katastrophe

In Jemen herrscht seit Jahren die schlimmste humanitäre Krise der Welt – und immer, wenn der Tiefpunkt erreicht scheint, bricht die nächste Katastrophe über den Jemen herein. Auf den Kriegsausbruch am 26. März 2015 folgte eine bis heute anhaltende, durch die Koalition auferlegte See-, Land- und Luftblockade, durch die Hunger in Jemen ausbrach und die Wirtschaft einbrach. Ein Jahr später brach Cholera aus und die zerstörte Wasserinfrastruktur und der klimabedingte Wassermangel verschlimmerten die Lage. Im Jahr 2020 kam die Pandemie hinzu, die von den Überresten der bis dahin durch den Krieg wiederholt angegriffenen Gesundheitseinrichtungen schlecht aufgefangen werden konnte. Im Jahr 2022 sind diese zu 50% zerstört. Nun herrscht in der Ukraine Krieg und der Weizenpreis in Jemen, der 30% der Weizenimporte aus der Ukraine bezieht, stieg von ursprünglichen umgerechnet 20€ pro 50 kg auf 28€ an.[11] Abdulrahman Abadeli, der in einem provisorischen Geflüchtetenlager in Mokka lebt, zeigt sich besorgt: „Dieser Krieg in der Ukraine hat uns dazu gebracht, über die Zukunft nachzudenken und anstatt Gott zu bitten, den Krieg im Jemen zu beenden, bitte ich Gott auch, den Krieg in der Ukraine zu beenden, damit wenigstens Lebensmittel in den Jemen kommen können.“[12]

Seit Jahren warnen Hilfsorganisationen, dass das humanitäre Desaster in Jemen zu einer Hungerkatastrophe auswächst – nie sah es schlimmer aus als jetzt und die Prognosen sind düster.

Laut dem Bericht des Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen zu Jemen vom Februar 2022 sind aktuell 17,4 Millionen Menschen – also 54 % der Bevölkerung – auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Diese Zahl kann bis Dezember 2022 auf 19 Millionen anwachsen. Rund 31.000 Menschen leiden an Hunger katastrophalen Ausmaßes – bis Dezember könnte dieses harte Schicksal 161.000 Menschen betreffen.[13] Doch kaum ein Blick richtet sich noch auf Jemen. Die von den UN, Schweden und der Schweiz organisierte Geberkonferenz in Genf lief schlecht: Von den benötigten 4,27 Milliarden $ konnte nur ein Drittel erzielt werden. Auch die vorangegangene Geberkonferenz 2021 enttäuschte: Nur 1,7 Milliarden von erhofften 3,85 Milliarden US$ wurden zugesagt.[14] Blicken wir auf die aktuell ins Unermessliche steigenden Militärausgaben zahlreicher Staaten, ist dieses klaffende Finanzierungsloch zur Bekämpfung einer augenscheinlich anrollenden Hungerkatastrophe beschämend.

Was es für den Frieden braucht

Die Wissenschaftlerin Helen Lackner, die selbst lange in Jemen lebte und forschte, betonte in einem Interview, dass eine Einigung zwischen den Ansar Allah und ihren Gegnern möglich sei – vorausgesetzt, die Resolution 2216 des UN-Sicherheitsrats aus dem Jahr 2015, auf die sich die Verhandlungen bis jetzt beziehen, würde geändert, denn diese fordere die vollständige Kapitulation der Ansar Allah. Seit dem ersten Kriegsjahr weiteten die Ansar Allah ihr Einflussgebiet aus und kontrollieren mittlerweile 70% der Bevölkerung. Eine Forderung nach Kapitulation ist nicht realistisch. Gleichzeitig erklärt Lackner, dass ein Friedensabkommen zumindest zu einem Ende der Kampfhandlungen zwischen den Ansar Allah und der Militärkoalition führen könnte, die weiteren Problemen blieben weiter bestehen und der Wiederaufbau würde höchstwahrscheinlich auf einer neoliberalen Logik basieren, die nicht förderlich ist für den sozialen Frieden.[15] Doch keine Seite wird einen militärischen Sieg erringen, beide verlieren durch die andauernden Kampfhandlungen – und am meisten verliert die Bevölkerung.

Ein weiterer wichtiger Schritt besteht im Ende von Waffenlieferungen an die Kriegsparteien. Zwar beschloss die letzte Bundesregierung nach der Ermordung des Journalisten Khashoggi in der saudischen Botschaft in Istanbul einen löchrigen Exportstopp an die am Jemenkrieg beteiligten Staaten (dies wären Ägypten, Bahrein, Jordanien, Kuwait, Saudi Arabien und die VAE), doch die Lieferungen gingen weiter.[16] Erst im Jahr 2020 wurden Rüstungsausfuhren an Ägypten im Wert von 752 Millionen Euro erlaubt sowie in die Vereinigten Arabischen Emirate (51,3 Millionen Euro), nach Kuwait (23,4 Millionen Euro), nach Jordanien (1,7 Millionen Euro) und Bahrain (1,5 Millionen Euro) .[17] Die letzte Bundesregierung zeigte sich in den letzten neun Tagen ihrer Amtszeit besonders großzügig und genehmigte einen Großteil aller 2021 erstellten Lizenzen, als nichts mehr zu verlieren war und sie eigentlich keine politisch relevanten Entscheidungen mehr treffen sollte. Dazu zählen zwei umstrittene Ausfuhrlizenzen für Fregatten und Luftabwehrsysteme an Ägypten, obwohl dieser Staat in die Kriege in Jemen und in Libyen verwickelt ist.[18] Die Waffenlieferungen aus weiteren westlichen Staaten, wie UK, Frankreich, Spanien und Italien laufen ebenfalls weiter. Obwohl Präsident Biden bei Amtsantritt versprach, sich für ein Ende des Krieges und der Waffenlieferungen in das Kriegsgebiet einzusetzen, befeuerte er ihn Ende 2021 mit der Genehmigung für den Verkauf von Raketen in Höhe von etwa 650 Millionen US$.[19] Anfang dieses Jahres, nach den Angriffen auf Ziele in den VAE, schickten die USA zur Unterstützung das Kriegsschiff USS Cole und mehrere Kampfjets – die militärische Zusammenarbeit wächst – das ist kein Schritt zur Deeskalation.[20]

Die staatlichen Amtsträger*innen schauen nicht mehr auf den Jemen, aber die Kriegsgegner*innen fordern ein Stopp der Rüstungsexporte und eine Politik der Deeskalation und der Abrüstung. Am siebten Jahrestag des Krieges fanden zwar nur Demonstrationen in Kanada und Irland statt, aber die italienische Basisgewerkschaft USB und die Hafenarbeiter*innen in Genua bereiten sich auf den nächsten Streik am 31. März 2022 vor, wenn der saudische Frachter der Transportschifflinie Bahri einläuft. Wiederholt nutzte das saudische Königreich diese Transportschifflinie für den Waffenhandel, den die Hafenarbeiter*innen ebenfalls wiederholt erfolgreich gestört und verhindert haben.[21] Aktiv stellen sie sich gegen die Waffenlieferungen in Kriegsgebiete weltweit – kohärent blieben sie bei ihrer antimilitaristischen Haltung, denn die Verlier*innen aller Kriege seien am Ende immer wie sie die Arbeiter*innen. Das ist es wohl auch, was es für den Frieden braucht: Eine mangelnde Bereitschaft durch Waffenherstellung und -lieferungen zu Kompliz*innen der Kriege in Jemen, in Syrien, in Äthiopien oder auch in der Ukraine zu werden: Ein Aufbegehren gegen die allgemeine Aufrüstungseuphorie und ein Aufzeigen der verwendeten zivilen Logistikinfrastruktur und der profitierenden Unternehmen. Im Sommer finden antimilitaristische Aktionstage vom 30. August bis 4. September während der Documenta in Kassel statt – auch hier bietet sich eine gute Gelegenheit, um die Verantwortung des auch in Kassel sitzenden Rüstungskonzerns im Jemenkrieg aufzuzeigen – denn die Militärkoalition bombardiert Jemen auch mit Bomben von Rheinmetall.


[1] Robert Habecks Mission am Golf – Die heikle Suche nach neuen Energiequellen, zdf.de, 19.3.2022

[2] https://yemendataproject.org/

[3] Ahmed al Haj und Samy Magdy:Saudi airstrikes hit Yemen’s Houthis after Jiddah attack, apnews.com, 26.3.2022

[4] UN warns of escalation of conflict in Yemen and its effects on civilians after Saudi bombing of a detention center, cfjustice.org, 30.1.2022

[5] Georg Mader: Brisant: Raketen aus dem Jemen auf Abu Dhabi, militaeraktuell.at, 10.2.2022

[6] Why Did Qatar Arrest Yemeni Activist Critical of Saudi-Led Coalition?, albawaba.com, 8.2.2022

[7] Yemen: Call for independent probe into deadly prison airstrikes, news.un.org, 28.1.2022

[8] Dozens of children killed, maimed in Yemen in two months: UNICEF, aljazeera.com, 12.3.2022

[9] Ebd.

[10] Hanna, T.L., Bohl, D.K. and Moyer, J.D. (2021). “Assessing the Impact of War in Yemen: Pathways for Recovery.” Frederick S. Pardee Center for International Futures. Josef Korbel School of International Studies. Denver: Report for UNDP.

[11] United Nations to Hold Pledge Conference to Support Yemen Humanitarian Efforts, voanews.com, 16.3.2022

[12] Russia-Ukraine war: Conflict leaves displaced Yemenis fighting for survival, middleeasteye.net, 26.3.2022

[13] WFP Yemen Situation Report #02, February 2022, reliefweb.int, 22.3.2022; Brutal War on Yemen: Dire Hunger Crisis Teetering on the Edge of Catastrophe, reliefweb.int, 19.3.2022

[14] UN aid drive to avert Yemen catastrophe falls far short, aljazeera.com, 16.3.2022

[15] Yemen Could Have Peace — If the Saudis Stop Demanding Victory, jacobinmag.com, 24.1.2022

[16] Lisa Klie: Deutsche Waffen töten im Jemen-Krieg, Was sagt die Bundesregierung?, IMI-Analyse 2019/11, imi-online.de, 28.3.2019

[17] Rüstungsexporte in Milliardenhöhe Deutsche Waffen für Krisenregion, tagesschau.de, 3.1.2021

[18] Kurz vor Amtsende: Alte Regierung genehmigte heikle Rüstungsexporte, tagesschau.de, 16.12.2021

[19] Jemen: US-Waffenlieferung, IMI-Aktuell 2021/709, imi-online.de, 29.11.2021

[20] Georg Mader: Brisant: Raketen aus dem Jemen auf Abu Dhabi, militaeraktuell.at, 10.2.2022

[21] Dai lavoratori voci contro la guerra, weaponwatch.net, 21.3.2022