IMI-Analyse 2022/16 - in: AUSDRUCK (März 2022)

Vom Szenario zur Aufrüstung

Der Feind steht wieder im Osten

von: Martin Kirsch | Veröffentlicht am: 22. März 2022

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Manöver sind nicht bloß militärische Übungen. Sie sind immer auch außenpolitische Kommunikation gegenüber Verbündeten, potenziellen Gegnern und zudem politische Kommunikation in die eigene Truppe. Manöver beruhen auf strategischen Szenarien, die Aufschluss über aktuelle und künftige Einsatzoptionen des Militärs geben. Diese Szenarien finden wiederum in Rüstungsprojekten ihren Ausdruck.

Während des letzten Kalten Krieges waren die Fronten und damit die möglichen Mittel und Orte einer militärischen Konfrontation in Mitteleuropa weitestgehend klar. Auch wenn die übenden Fraktionen in Manövern der Bundeswehr nicht Warschauer Pakt und NATO hießen, wussten doch alle, wer und was gemeint war, wenn Team Rot aus dem Osten angreift und Team Blau aus dem Westen mit einem Gegenangriff reagiert. In den 1990er Jahren wurden diese Szenarien eingemottet und schrittweise mit Szenarien ersetzt, die – kaum verwunderlich – den Ausgangssituationen z.B. im Kosovo oder in Afghanistan glichen. In den letzten Jahren haben sich die Szenarien der Bundeswehr, die Manövertätigkeiten der NATO und die entsprechenden Rüstungsvorhaben erneut verschoben. Sie passen sich in eine Ausgangslage ein, die nicht erst mit der aktuellen Konfrontation in der und um die Ukraine als neuer Kalter Krieg bezeichnet wird.

Ein Thesenpapier der Heeresführung

Selten werden die Details der Szenarien, auf denen die Übungen der Bundeswehr beruhen, öffentlich. Eine Ausnahme bildet ein Thesenpapier des Amts für Heeresentwicklung aus dem Jahr 2017.[1] Aufgrund von Streitigkeiten zwischen dem Verteidigungsministerium unter Ursula von der Leyen und Teilen der Heeresführung wurde es vollständig veröffentlicht. In einem ungewohnt konkreten Szenario werden Abschnitte einzelner Kampfhandlungen durchgespielt. Ausgangspunkt des Szenarios von 2017 war es, dass die Bundeswehr unter den damaligen Bedingungen, laut Thesen aus der Heeresführung, nicht in der Lage gewesen wäre, eine Konfrontation mit Russland in der Region um Kaliningrad im Jahr 2026 zu gewinnen. Daher wurde das Szenario genutzt, um Strategien und Waffensysteme aufzuzeigen, die einen anderen Ausgang in der Zukunft ermöglichen würden.

Auch wenn Litauen, Polen und Russland nicht wörtlich benannt werden, sind die politischen und geographischen Anspielungen kaum anders zu interpretieren. Bereits 2017 spielte eine Arbeitsgruppe aus dem Kommando Heer einen Krieg um die Suwalki-Lücke durch.

Suwalki-Lücke

Suwalki ist ein Städtchen im äußersten Nordosten Polens, in unmittelbarer Nähe zur etwa 100 Kilometer langen Landgrenze zwischen Polen und Litauen. Diese 100 Kilometer Landgrenze sind die einzige Landverbindung zwischen dem Baltikum und dem restlichen NATO-Gebiet. Östlich dieser Grenze befindet sich Belarus und westlich, an der Ostsee, die russische Enklave Kaliningrad.

Sollte also Russland – so die Gedankenspiele der Militärstrateg*innen – gemeinsam mit Belarus durch einen militärischen Angriff einen Korridor zwischen Weißrussland und Kaliningrad schlagen, wäre das Baltikum vom Rest der NATO getrennt. Aufgrund der modernen Flugabwehrsysteme, Marschflugkörper und Raketenartilleriesysteme Russlands in Kaliningrad wäre das Baltikum dann von der NATO militärisch nicht mehr zu verteidigen. Die Suwalki-Lücke gilt damit als Achillesferse der NATO in Europa. Für alle militärischen Pläne der NATO in einer möglichen Konfrontation mit Russland spielt die Verteidigung der drei baltischen Staaten, die sich eine direkte Grenze mit Russland bzw. Belarus teilen, eine zentrale Rolle.

Ausgehend von dieser Annahme betreibt die NATO seit 2014 eine Aufrüstung der Bündnistruppen an der östlichen Bündnisgrenze. Bereits 2015 stellte die Bundeswehr die erste besonders schnelle Eingreiftruppe der NATO (VJTF). Nach einer weiteren Bereitschaftsphase im Jahr 2019 befinden sich deutsche Truppen aktuell in der unmittelbaren Vorbereitung auf eine erneute Übernahme der VJTF in 2023.[2]

Zudem wurden ab 2017 sogenannte NATO-Battlegroups in Polen, Litauen, Lettland und Estland stationiert. Die Bundeswehr stellt den Kern der Battlegroup in Litauen und damit direkt nördlich der Suwalki-Lücke. Diverse Übungen und Manöver, die die Bundeswehr aktuell durchführt, hängen mit den Überlegungen um die Suwalki-Lücke zusammen.

Szenario: „Wie kämpfen Landstreitkräfte künftig“

Laut dem Szenario aus dem besagten Thesenpapier von 2017 sind deutsche Landstreitkräfte im Jahr 2026 bereits seit Jahren Teil der „Maßnahmen zur Rückversicherung“ der NATO, die als Teil von „multinationalen Bemühungen zur Eingrenzung der drohenden Eskalation“ dargestellt werden.

Diese behaupteten Deeskalationsbemühungen der NATO fruchten allerdings nicht: „Der Beschluss zur Aktivierung und Verlegung der VJTF, bestehend im Kern aus dem [deutschen] Einsatzdispositiv, wurde aufgrund einer überraschenden Lageentwicklung notwendig.“ Bundeswehrsoldat*innen werden damit zentraler Teil von „bündnisweiten Operation zur Abwehr einer drohenden Landnahme“.

In einem ersten Schritt werden die „Kräfte der ersten Stunde“, also Einheiten der NATO unter deutscher Führung, in die Strukturen der Armee und der zivilen Verwaltung des Gastlandes (Litauen) integriert, was aufgrund gemeinsamer Vorbereitungen problemlos funktioniert. „Trotz fortgesetzter intensiver Bemühungen auf politischer und diplomatischer Ebene sowie in allen Bereichen des Informationsraumes, hält der technologisch gleichwertig ausgestattete Gegner [Russland] an seiner Absicht der gewaltsamen Landnahme und der Ausdehnung seines Einfluss- und Machtbereiches fest.“ Auf der strategischen Ebene werden eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen, um die Entscheidungsfindung des Gegners zu stören. „Dennoch kommt es nach einer Phase von Desinformation, separatistischen Aktivitäten, lokalen Angriffen von Separatisten und verdeckt operierenden Special Operation Forces zum Angriff der gegnerischen Hauptkräfte.“ Die einheimischen Streitkräfte können zwar die großen Städte vorerst verteidigen, sind aber nicht in der Lage, den Angriff gänzlich abzuwehren.

Ausgangspunkt der weiteren „ausgewählten Gefechtsabschnitte“, die in diesem Szenario durchgespielt werden, ist also ein Angriff Russlands auf das Baltikum mit dem Ziel, dort gewaltsam Territorium zu besetzen. Die Bundeswehr ist von Beginn an in Führungsfunktionen an den Kämpfen beteiligt.

Szenario Phase I: Verzögerung

Um Zeit für die Aktivierung und Verlegung weiterer NATO-Kräfte zu gewinnen, wird ein schnell verlegbarer Einsatzverband aus deutschen und niederländischen Hubschraubern und Fallschirmjägern in Stellung gebracht.

In einem kurzen Fenster der eigenen Luftüberlegenheit geht es los: Russische Panzerverbände werden von Aufklärungsdrohnen erspäht und dann mit Kampfhubschraubern angegriffen, um damit das Feld für die Landung von Transporthubschraubern mit Luftlandekräften vorzubereiten. Ab der Landungsphase werden die Soldat*innen von kleinen teilautonomen Fahrzeugen unterstützt.

In ihrer Operation arbeiten die NATO-Soldat*innen mit den lokalen „Home Defence Forces“ zusammen. Sie errichten Sperren, um die freie Bewegung des Gegners zu behindern, setzen Überwachungsdrohnen ein und koordinieren Angriffe der eigenen Panzerabwehrraketen, Kampfhubschrauber und Artillerie über digital vernetzte Systeme.

Szenario Phase II: Verteidigung

Im weiteren Verlauf des Szenarios kommt es zur „Verteidigung einer deutschen Brigade mit multinationalen Anteilen gegen einen raumgreifenden Angriff eines technologisch gleichwertigen, aber zahlenmäßig überlegenen und symmetrisch agierenden Gegners.“ Jetzt kommen die Panzerverbände der VJFT unter deutscher Führung zum Einsatz. Hier soll die Bundeswehr ihre Vorteile durch digitalisierte Kommunikation – die laut Thesenpapier bis 2026 erlangt werden sollen – voll ausspielen. Gleichzeitig werden auch die Kampftruppen der anderen Dimensionen (Luft, See, Cyber) aktiv einbezogen.

„Der Befehlsanteil Cyber, ggf. auch der Anteil Weltraum, enthält dabei die Forderung, die gegnerischen Führungsinformationssysteme in der entscheidenden Phase des Gefechtes zu lähmen.“ Auf dem Boden werden Minensperren verlegt, die im weiteren Verlauf von Kampftruppen mit Panzern und Panzerabwehrraketen, stationären Sensoren und Aufklärungsdrohnen überwacht werden. Die zu Beginn eingeflogenen Luftlandetruppen ziehen sich in Richtung der eigenen Panzertruppen zurück.

Weil eigene Kampfflugzeuge aufgrund der starken gegnerischen Luftverteidigung kaum eingesetzt werden können, um die weitreichende Artillerie des Feindes zu bekämpfen, werden eigene Raketenartillerie, Marschflugkörper von Schiffen und Drohnenschwärme als Waffen eingesetzt. Nachdem die feindliche Artillerie bekämpft ist, werden die gleichen Systeme zur Bekämpfung der gegnerischen Luftabwehr genutzt.

„Parallel werden zur Reduzierung der Wirksamkeit gegnerischer Systeme die Satellitennavigation gestört bzw. zugehörige Satelliten abgeschossen.“ Diese Aussagen lassen konkrete Zweifel an den Beteuerungen der Bundeswehr aufkommen, nach denen das im Sommer 2021 neu eingerichtete Weltraumkommando rein defensiven Zwecken diene.[3]

Feindliche Truppen werden, wenn sie die Wege zwischen den Minensperren erreichen, von Drohnen erfasst und dann – digital koordiniert – mit Kampfhubschraubern, Artillerie und Panzerabwehrraketen bekämpft und „zerschlagen“. Dank überlegener Technik und guter Koordination mit NATO-Partnern kann die Bundeswehr den gegnerischen Angriff abwehren.

Szenario Phase III: Angriff

Unmittelbar auf das gelungene Abwehrgefecht folgt der Gegenangriff. „Zur Vorbereitung des Gegenangriffs befiehlt der Brigadekommandeur das Auslösen des langfristig vorbereiteten Lähmens des gegnerischen [Führungs- und Informationssystems], um den gegnerischen Entscheidungsprozess zu verlangsamen.“ Hier sollen die seit 2017 im Zentrum Cyber-Operationen unter dem Dach des Kommando Cyber- und Informationsraum neu geschaffenen offensiven Cyberkräfte (Hacker*innen) der Bundeswehr ins Spiel kommen.

Parallel werden in „offenen Quellen“ (soziale Netzwerke, Messenger, Nachrichtenkommentare etc.) eine Vielzahl von Meldungen platziert, die auf ein Ausweichen der NATO-Kräfte hindeuten und so „die eigene Absicht verschleiern helfen.“ Neben Hackerangriffen wird auch eine massive Desinformationskampagne als selbstverständlicher Teil der Vorbereitung für eigene Operationen benannt.

Der anschließende Gegenangriff erfolgt durch eine Stadt, weil nur dort eine nötige Brücke vorhanden ist. In der Stadt werden „Human Terrain Mapping, Gesichtsidentifizierungstools und Simultanübersetzung“ auf digitaler Basis eingesetzt, um sich mit dem lokalen Bürgermeister und dortigen „Home Defence Forces“ in Verbindung setzen zu können. Diese identifizieren Feindstellungen, die im Anschluss von Mikro-Drohnen aufgeklärt und virtuell markiert werden. Die darauf folgenden Kämpfe in der Stadt übernehmen deutsche Panzergrenadiere.

„Nachdem sich der Erfolg des Gegenangriffs abzeichnet, befiehlt der Brigadekommandeur eine offensive und mehrsprachige Informationskampagne, die durch Bilder, Text, Videos etc. die Erfolge der NATO-Truppen herausstreicht und zeigt, dass Kollateralschäden vermieden werden, aber auch eigene Verluste nicht verschweigt. Zeitgleich werden ausgesuchte Angehörige des Gegners und deren Angehörige adressiert.“ Neben den Kämpfen auf dem realen und virtuellen Schlachtfeld wird zum Abschluss der Offensive erneut im sogenannten Informationsraum angegriffen. „Durch diese zeitnahe ehrliche und offene Berichterstattung wird gegnerischer Propaganda entgegengewirkt, die öffentliche Meinung sowohl in den NATO-Staaten als auch beim Gegner beeinflusst und die Informationshoheit umstritten oder gewonnen.“ Im offenen Widerspruch zu vorherigen Aussagen werden Medien im In- und Ausland so zum integralen Teil des Schlachtfeldes, auf dem Wahrheit und gezielt verbreitete Fake-News nicht mehr zu unterscheiden sind.

Zur Rüstung

Um die Fähigkeiten der Bundeswehr an das beschriebene Szenario anzupassen, wurden mit der Einrichtung neuer Kommandostrukturen für den Cyber- und Informationsraum (2017) und dem Weltraumkommando (2021) bereits entsprechende Aufrüstungsschritte eingeleitet. Implizit enthält das Szenario aber auch eine Art Wunschliste für die Erprobung und Beschaffung neuer Technik und Waffensysteme. So wimmelt es in den Beschreibungen beispielsweise nur von Aufklärungsdrohnen, Kommunikationsdrohnen und Minendrohnen zum schnellen Schließen von Minensperren bis hin zu Drohnenschwärmen als Angriffswaffen gegen feindliche Stellungen. Davon ist die Bundeswehr glücklicherweise noch relativ weit entfernt.

Sehr konkret wird es mit der Aufrüstung aber mit Blick auf die von Deutschland gestellte NATO-Speerspitze (VJTF) 2023, für die sich die Panzergrenadierbrigade 37 aus dem sächsischen Frankenberg bereits seit Ende 2020 vorbereitet. Als eine Art kleiner Rüstungszyklus wurden bereits frühzeitig Ziele für die jeweils nächste deutsche VJTF-Brigade im Vierjahrestakt gesteckt, um eine permanente Aufrüstung auf den neuesten Stand zu gewährleisten. So flossen im letzten Jahr neben neuer Kleidung und Schutzausrüstung für die Soldat*innen flächendeckend neue LKW[4] sowie Kampf- und Schützenpanzer der neusten Generation[5] in die entsprechenden Truppenteile. Alle Fahrzeuge der VJTF-Brigade werden mit Bildschirmen und Software ausgerüstet und die Fußsoldat*innen der Kampftruppe werden mithilfe von digitalen Systemen[6] mit ihren Schützenpanzern vernetzt.

Zudem ist die Panzergrenadierbrigade 37 die erste von acht Brigaden der Bundeswehr, die mit einem sogenannten Battle Management System, einem zentralen Baustein der „Digitalisierung landbasierter Operationen“ ausgerüstet wurde.[7] Diese Software ermöglicht die digitale Verknüpfung, Informationsübertragung und Befehlsübermittlung von der Ebene der Generäle in der Kommandozentrale bis hin zu den einzelnen Fahrzeugen auf dem Gefechtsfeld. Sie bildet das Rückgrat für die im Szenario beschriebene Vollvernetzung und die künftige Einbindung von autonomen Fahrzeugen und Drohnenschwärmen.

Die gesteckten Ziele für die Aufrüstung der VJTF-Brigade werden nicht vollständig erreicht. Was allerdings bis 2023 nicht umgesetzt wird, kann in der Zwischenzeit nachgeholt werden, bis die Wunschliste für den nächsten Rüstungszyklus 2027 fällig ist. So werden aktuell beispielsweise unbemannte/teilautomome leichte Transportfahrzeuge, die im Szenario zur Unterstützung der Fallschirmjäger im Einsatz waren, von der Bundeswehr erprobt.[8]

Während die VJTF 2023 also noch in der Trainings- und Vorbereitungsphase steckt, werden in der Heeresführung und im Rüstungsbereich der Bundeswehr bereits die Pläne für den nächsten Rüstungszyklus bis 2027 geschmiedet. Die im Szenario beschriebenen Drohnenschwärme und die tatsächliche Vollvernetzung werden bis dahin wohl nicht umsetzbar sein. Die Zielrichtung scheint aber klar – (digitale) Aufrüstung für einen potenziellen Krieg der NATO mit Russland.


[1] Kommando Heer, Autorenteam, Thesenpapier I – Wie kämpfen Landstreitkräfte künftig?, S.5, 2017, abrufbar über: augengeradeaus.net.

[2] Bundeswehr: Vorbereitung auf die Very High Readiness Joint Task Force 2023, o.D., bundeswehr.de.

[3] Spiegel: Für Defensivoperationen – Die Bundeswehr hat jetzt ein Weltraumkommando, 13.7.2021, spiegel.de.

[4] Bundesministerium der Verteidigung: Bundeswehr erhält neue LKW, 16.5.2019, bmvg.de.

[5] Behörden Spiegel: Leopard 2 A7V an Truppe übergeben, 24.9.2021., behoerden-spiegel.de und Bundeswehr: Schützenpanzer Puma Very High Readiness Joint Task Force – neues Zeitalter für die Grenadiere, o.D., bundeswehr.de.

[6] Rheinmetall: Deutsches Heer erklärt System Panzergrenadier für gefechtstauglich, 19.3.2021, rheinmetall.com.

[7] BWI: Bundeswehr stellt neues Battle Management System der deutschen Streitkräfte vor, 27.5.2020, bwi.de.

[8] Soldat&Technik: Cargo Mule – unbemannte Bodenfahrzeuge für die Infanterie, 8.1.2021, soldat-und-technik.de.