IMI-Standpunkt 2022/002 - in: Telepolis, 7.1.2022

Nukleare Aufrüstung

China baut sein Atomwaffenarsenal aus – verantwortlich dafür sind aber die USA

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 10. Januar 2022

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Am 4. Januar 2022 hätte eigentlich die 10. Überprüfungskonferenz des im März 1970 in Kraft getretenen Atomwaffensperrvertrags eröffnet werden sollen, die nun aber coronabedingt auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Kurz zuvor veröffentlichten die etablierten Atomwaffenstaaten – USA, Großbritannien, Frankreich, Russland und China – eine gemeinsame Erklärung, in der sie sich vollmundig und „fast ein wenig feierlich“ (Süddeutsche Zeitung) für eine nukleare Abrüstung aussprachen. Nur einen Tag später war es mit der Einigkeit allerdings gleich wieder vorbei und die gegenseitigen Beschuldigungen, eine atomare Rüstungsspirale zu verantworten zu haben, nahmen wieder ihren gewohnten Gang. Dies betrifft sowohl taktische Atomwaffen mit einer Reichweite unter 5.500km, wo seit Jahren Besorgnis erregende Aufrüstungsbemühungen zu beobachten sind (siehe Das Ende des INF-Vertrags und das neue Wettrüsten). Zuletzt ging es aber vor allem um die strategischen Arsenale mit einer Reichweite über 5.500km, wo sich nun vor allem die USA und China gegenseitig der Aufrüstung bezichtigen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich dabei, dass zwar beide Seiten derzeit ihr Arsenal „modernisieren“, die Ursache für diese Entwicklung aber entgegen der meisten Medienberichte in Washington und nicht in Peking zu suchen ist.

Ignoriertes Abrüstungsversprechen

Für die fünf etablierten Atommächte handelt es sich bei der alle fünf Jahre stattfindenden Überprüfungskonferenz um eine eher unangenehme Pflichtveranstaltung. Schließlich werden sie dort von den Nicht-Atomwaffenstaaten stets für ihr „Versäumnis“ kritisiert, ihrer zentralen Verpflichtung aus dem Atomwaffensperrvertrag nicht nachzukommen. Im Austausch dafür, dass alle Unterzeichner bis auf die fünf Atommächte auf derlei Waffen verzichteten, sagten die nämlich zu, sich ernsthaft für deren Abrüstung einzusetzen. Der entscheidende Passus dazu findet sich in Artikel VI des Vertrages:

„Jede Vertragspartei verpflichtet sich, in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle.“

Nun ist natürlich allen Beteiligten klar, dass derzeit keine Atommacht ernsthaft Anstrengungen in diese Richtung unternehmen möchte, was wohl auch die Grundlage für die nun veröffentlichte Erklärung gewesen sein dürfte, mit der der zu erwarteten Kritik augenscheinlich der Wind aus den Segeln genommen werden sollte.

Darin erklärten die fünf etablierten Atommächte:

 „Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie geführt werden. […] Wir wollen mit allen Staaten zusammenarbeiten, um das endgültige Ziel einer Welt ohne Atomwaffen zu erreichen und bekennen uns zu unserer Verpflichtung aus dem Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NPT), Verhandlungen über ein Ende des atomaren Rüstungswettlaufs und ein Abkommen zur vollständigen Abrüstung zu führen.“

Was auf den ersten Blick als eher müder Beschwichtigungsversuch daherkommt, führt durch die Aufnahme der Passage über die Führ- bzw. Unführbarkeit eines Atomkrieges dennoch schnell zur eigentlichen Triebfeder der aktuellen nuklearen Rüstungsspirale. Und die sitzt nicht in China, auch wenn Peking unmittelbar nach Veröffentlichung der Erklärung ins Zentrum der Medienkritik geriet. 

China: Atomare Aufrüstung

Zweifellos baut China sein strategisches Atomwaffenarsenal aus: absolut gesehen stieg die Zahl seiner Sprengköpfe von 200 (2006) auf 350 (2020) deutlich an. Allerdings relativieren sich diese Zahlen angesichts des US-Arsenals von rund 3,800 Sprengköpfen (berücksichtigt man auch ausgemusterte, aber noch nicht vernichtete Sprengköpfe, kommen noch einmal 1.750 hinzu).

Jedenfalls tauchten im Sommer letzten Jahres erste Berichte über neue Silos auf, die auf einen weiteren Ausbau des chinesischen Arsenals hindeuten würden:

„Vergangene Woche enthüllten Forscher des James Martin Center for Nonproliferation Studies im kalifornischen Monterey den Bau von 119 Silos für Interkontinentalraketen im Nordwesten Chinas. Diese hatten sie mit Hilfe von kommerziellen Satellitenbildern ausfindig gemacht.“ (Tagesspiegel, 13.07.2021)

Tatsächlich kursieren teils noch deutlich größere Zahlen von bis zu 300 im Bau befindlicher Silos, allerdings ist es völlig unklar, ob und mit wieviel Atomwaffen jedes davon bespielt werden soll. Dennoch ging das Pentagon dann im November 2021 öffentlichkeitswirksam mit seiner Einschätzung hausieren, China werde bis 2027 über 700 und bis 2030 über nicht weniger als 1.000 atomare Sprengköpfe verfügen.  

Diese Prognose wurde nun im Lichte der gemeinsamen Erklärung der Atomwaffenstaaten wieder hervorgekramt, woraufhin der Generaldirektor der Rüstungskontrollabteilung des chinesischen Außenamtes Fu Cong zu einem Briefing lud, in dem er angab, Peking beabsichtige keineswegs einen derart raschen Ausbau seines Arsenals: 

„‘Zu den Behauptungen von US-Beamten, China baue seine nuklearen Fähigkeiten dramatisch aus, möchte ich zunächst sagen, dass dies unwahr ist‘, sagte Generaldirektor Fu. Richtig sei vielmehr, dass China Schritte zur Modernisierung seiner Atomstreitkräfte unternommen habe, um die nukleare Abschreckung auf das für die Landesverteidigung erforderliche Mindestmaß zu bringen.“ (Süddeutsche Zeitung, 5.1.2022)

Die chinesische Nuklearpolitik fußt auf zwei Prinzipien: Dem erklärten Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen („no-first-use“) und dem der „minimalen Abschreckung“, nach dem das Arsenal den kleinstmöglichen für eine Abschreckungsfähigkeit für notwendig erachteten Umfang haben soll. Die Meldung über den Bau neuer Silos wurde schon im letzten Sommer teils als Signal für eine chinesische Bereitschaft gewertet, von der minimalen Abschreckung abrücken zu wollen. Und auch in der jüngsten Debatte wird in Medienberichten teils nahegelegt, China habe sich einfach so zu einer Aufrüstung seines Atomwaffenarsenals entschieden, ohne auf die möglichen Ursachen dieser Entscheidung einzugehen:

„Atomwaffen sollen sich nicht weiter verbreiten können, vereinbaren die UN-Vetomächte. Das lässt China allerdings kalt. Das Land kündigt an, sein Waffenarsenal weiter zu ‚modernisieren‘.“ (n-tv,4.1.2022)

Zweifellos baut China sein Arsenal aus, ob ihm aber die Verantwortung für die derzeitige Rüstungsspirale vor die Füße gelegt werden kann, ist mehr als fraglich. Denn die US-Nuklearpolitik macht es aus chinesische Sicht nahezu unumgänglich aufzurüsten, um seine Fähigkeit zur „nuklearen Abschreckung“ auf das „erforderliche Mindestmaß“ bringen zu können.

USA: Rüsten für den Erstschlag

Dass die USA den frühzeitigen Einsatz taktischer Atomwaffen zumindest ernsthaft in Erwägung ziehen, wurde zuletzt noch einmal mit der im Juni 2019 an die Öffentlichkeit gelangten Doktrin über den Einsatz von Atomwaffen (Joint Publication 3-72) deutlich (siehe Pentagon: (Erst)Einsatz von Atomwaffen kann hilfreich sein). Aber auch im strategischen Bereich strebt Washington eine nukleare Erstschlagsfähigkeit an. Dabei besteht das Ziel in der Fähigkeit, unter „akzeptablen“ Verlusten mit einem entwaffnenden Erstschlag das feindliche Arsenal auszuschalten und anschließend genügend Waffen in der Hinterhand zu behalten, um den Gegner erpressen zu können. Atomare Rüstungsspiralen kommen somit vor allem immer dann fast zwangsläufig in Gang, wenn eine Seite Anstrengungen in Richtung einer Erstschlagsfähigkeit unternimmt, da der Gegenüber sich dadurch gezwungen sieht, seinerseits aufzurüsten, um seine Zweitschlagfähigkeit („Abschreckung“) zu sichern. Dennoch wurde dies augenscheinlich billigend in Kauf genommen, das mit einer Erstschlagsfähigkeit einhergehende Machtpotenzial war für das Pentagon seit eh und je wohl zu verlockend, um nicht wenigstens den Versuch zu unternehmen, die in den 50ern verlorene atomare Vorherrschaft wiederzuerlangen.

Was dabei von führenden „Strategen“ im Übrigen noch unter „akzeptable Verluste“ verbucht wurde, offenbarte bereits ein Artikel aus dem Jahr 1980, der zuerst in der „Foreign Policy“ erschien. Der von Colin S. Gray und Keith Payne unter dem vielsagenden Titel „Sieg ist möglich“ verfasste Beitrag plädierte für die Option, einen atomaren Überraschungsangriff gegen die Sowjetunion initiieren und unter in Kauf zu nehmenden Verlusten von nicht mehr als 20 Millionen US-Opfern auch gewinnen zu können:

„Wenn die atomare Macht der USA dazu dienen soll, den außenpolitischen Zielen der USA zu dienen, dann müssen die Vereinigten Staaten in der Lage sein, rational Atomkrieg zu führen. […] Die Vereinigten Staaten sollten planen, die Sowjetunion zu besiegen und dies zu einem Preis, der eine Erholung der USA erlauben würde. Washington sollte Kriegsziele festlegen, die letztendlich die Zerstörung der politischen Macht der Sowjets und das Entstehen einer Nachkriegs-Weltordnung, die den westlichen Wertvorstellungen entspricht, in Betracht zu ziehen.“ (Gray, Colin S./Payne, Keith: Victory is possible, Foreign Policy, Nr. 39/1980, deutsch: Sieg ist möglich, Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 12/1980)

Nun liegt die Versuchung nahe, derlei Überlegungen als reichlich abstruse Relikte des Kalten Krieges abzutun, allerdings galt Colin S. Gray bis zu seinem Tod im Februar 2020 als einer der wichtigsten US-Nuklearstrategen. Und es war Keith Payne, der unter anderem als Staatssekretär im Pentagon unter George W. Bush maßgeblich für die Nuklearpolitik dieser Zeit verantwortlich war.

Insofern verwundert es auch nicht, dass bereits 2006 ein Beitrag in der elitennahen Foreign Affairs zu dem Ergebnis gelangte, die USA würden gezielt auf eine Erstschlagsfähigkeit hinarbeiten (siehe Das Ende des INF-Vertrags und das neue Wettrüsten). Seither wird das US-Arsenal immer weiter „modernisiert“ – das heißt es wird zielgenauer und durchschlagsfähiger gemacht, um bewegliche und gehärtete Ziele „besser“ zerstören zu können, was eigentlich nur im Falle atomarer Erstschlagambitionen Sinn macht. Jedenfalls lassen sich die USA dies einiges Kosten: Die geschätzten Ausgaben für die „Modernisierung“ schossen laut jüngsten Berechnungen des „Congressional Budget Office“ von $315 Mrd. (2015) über $494 Mrd. (2019) auf $634 Mrd. (2021) regelrecht durch die Decke.

Die „Modernisierung“ des US-Arsenals wurde bereits unter US-Präsident Brack Obama auf den Weg gebracht, sie wurde allerdings während der Amtszeit seines Nachfolgers Donald Trump noch einmal gründlich intensiviert und noch deutlicher in Richtung Einsatzfähigkeit getrimmt, wie der Journalist Jerry Sommer bei „Streitkräfte und Strategien“ betont: 

„Die Trump-Administration meinte, diese Systeme seien nötig für die USA, um gegen russische Angriffe vielleicht eben auch mit solchen kleineren Atomwaffen antworten zu können. Der Gedanke dahinter: Man könne einen Atomkrieg steuern, einen Atomwaffeneinsatz begrenzen – letztlich einen Sieg im Atomkrieg erreichen. So haben es auch die Autoren von Trumps ‚Nuclear Posture Review‘ von 2018 vorgesehen und geschrieben. Einer der Autoren ist der damalige Pentagon-Staatssekretär Elbridge Colby. Und der sagte, dass dies für die USA notwendig sei, um Russland und China vor jeglichem Krieg gegen die USA oder ihre Verbündeten abzuhalten. Jetzt kommt [es] – ‚die richtige Strategie und die Waffen zu besitzen, um einen begrenzten Nuklearkrieg führen und sich dabei durchsetzen zu können.‘“ (Jerry Sommer)

Rüstungsspirale: Aktion und Reaktion

Der Schlüssel, aus der atomaren Rüstungsspirale auszusteigen, liegt also in den USA, etwa indem auf eine Politik umgeschwenkt würde, die einen Verzicht auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen beinhaltet („no-first-use“). Insofern ließen Aussagen des heutigen Präsidenten Joseph Biden während des Wahlkampfes aufhorchen:

„Wie ich 2017 sagte, glaube ich, dass der einzige Zweck des US-Atomwaffenarsenals die Abschreckung – und, falls nötig, die Vergeltung – eines nuklearen Angriffs sein sollte. Als Präsident werde ich daran arbeiten, diese Überzeugung in die Praxis umzusetzen, in Absprache mit dem US-Militär und den US-Verbündeten.“ (Joseph Biden)

Doch wie so häufig scheint Biden nach seiner Wahl von derlei Aussagen nicht mehr viel wissen zu wollen, sodass sich unter Atomwaffenkritiker wie Tom Collina Ernüchterung breit macht: Auch unter Biden sei hier keine Kursänderung in Sicht, das Signal, das von ihm ausgehe, sei „volle Kraft voraus“, so Collina: „Das ist nicht die Botschaft, die Biden als Kandidat ausgesendet hat. Jetzt verschreibt sich Biden dem Nuklearplan von Donald Trump und geht in manchen Bereichen noch darüber hinaus.“

Allzu viel sollte man sich von der aktuell in Arbeit befindlichen Überprüfung der US-Nuklearstrategie („Nuclear Posture Review“), die in Kürze veröffentlicht werden soll, also nicht versprechen – man sollte dann aber auch vorsichtig sein, die Schuld an dem neuen Wettrüsten völlig einseitig Peking (oder Moskau) in die Schuhe zu schieben.

Die Aufrüstung des US-Arsenals und die – wenn auch nicht offiziell eingeräumten, so doch recht offensichtlichen – Versuche eine Erstschlagsfähigkeit zu erlangen, stellen den Hintergrund für chinesische Aussagen dar, man sehe sich gezwungen, Anpassungen zum Erhalt der Abschreckungsfähigkeit zu unternehmen – sprich: ebenfalls aufzurüsten. Angestoßen wurde diese Entwicklung aber in Washington, ein Umstand, der erstaunlicherweise auch in einem im Dezember 2021 bei der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“ erschienenen Papier recht deutlich benannt wird:

“Chinas Abschreckungspolitik basiert auf der Fähigkeit zum nuklearen Zweitschlag. Dieses Abschreckungspotenzial will Beijing gegenüber den USA erhalten, die ihrerseits in Aufklärung, Abwehr und Erstschlagsfähigkeiten investieren. […] Auf der einen Seite befürchte China tatsächlich einen Erstschlag oder präemptiven Schlag der USA. Auf der anderen Seite werde in chinesischen Meinungsbeiträgen vermehrt argumentiert, dass ein wirkungsmächtigeres Nuklearwaffenarsenal Washington überzeugen würde, Chinas Status als (Atom-)Macht zu akzeptieren und sich mit einem Zustand wechselseitiger Verwundbarkeit als Grundlage der gegenseitigen Abschreckung abzufinden.“