IMI-Analyse 2021/48 - in: AUSDRUCK (Dezember 2021)
Perspektiven der afghanischen Frauenbewegungen
von: Mechthild Exo | Veröffentlicht am: 14. Dezember 2021
Artikel im IMI-Magazin AUSDRUCK (Dezember 2021)
Mir geht es um die Perspektive basispolitischer, demokratischer Selbstorganisierung in Afghanistan auf die Taliban-Machtübernahme zu Beginn, während und nun nach dem Ende des längsten, zwanzig Jahre währenden US-Militäreinsatzes. Der Krieg in Afghanistan, der am 7. Oktober 2001 als Reaktion auf die Anschläge von Al-Qaida am 11. September in New York City und Washington begann, wurde „War on Terror“ genannt und als Befreiung der afghanischen Frauen und zur Verwirklichung von Demokratie, Frieden und Menschenrechten legitimiert. Doch von Beginn im Oktober 2001 an hatte die afghanische feministische Organisation RAWA in Stellungnahmen gewarnt, dass diese Intervention demokratische Entwicklungen im Land verhindern, den Islamismus in der Region stärken und in einer humanitären Katastrophe enden wird.[1] Diese Verbindungslinie zeichnet eine RAWA-Vertreterin auch in einem Interview von Ende August 2021: „Von den ersten Tagen an, als die Plünderer und Mörder der Nordallianz 2002 wieder an die Macht kamen, bis zu den letzten so genannten Friedensgesprächen, Abmachungen und Vereinbarungen in Doha und der Freilassung von 5000 Terroristen aus den Gefängnissen in den Jahren 2020/21 war es ganz offensichtlich, dass auch der Rückzug kein gutes Ende nehmen würde“.[2]
Mit dem Beginn des Krieges gegen die Taliban-Regierung wurden die (überwiegend) islamistischen Mujaheddin-Gruppen der Nordallianz zu den lokalen Verbündeten der westlichen Besatzungstruppen gemacht. Das geschah trotz des Wissens über die schweren, gegen die eigene Bevölkerung gerichteten Kriegsverbrechen, die in der Verantwortung dieser Gruppen liegen. Noch bevor die Taliban-Regierung entmachtet war, kritisierte und verurteilte RAWA in öffentlichen Stellungnahmen diese Kooperation der USA mit der Nordallianz als großen Fehler und Schrecken für die Menschen in Afghanistan. „Die fortgesetzte und zunehmende ausländische Unterstützung für die verachtete Nordallianz hat unser Volk in schreckliche Angst und Furcht versetzt, die schrecklichen Jahre des ‚Emirats‘ der Jehadis in den 1990er Jahren erneut zu erleben“.[3] Sowohl die Taliban wie auch die Taliban-Opposition der Nordallianz werden von RAWA als Kriminelle beschrieben, die statt Nahrung und Häuser zwei Jahrzehnte lang der afghanischen Bevölkerung nur Gewehrkugeln und Gräber bereithielten. Keiner davon sollte Afghanistan regieren (ebd.).
Die Nordallianz-Vertreter wurden hoch aufgerüstet und zu verbündeten Bodentruppen während der ersten Invasionswochen gemacht. In der Folge dominierten die Vertreter der Nordallianz Ende November 2001 die Verhandlungen zur Bildung der Übergangsregierung und zur Festlegung der Schritte im Staatsaufbau. Zu diesem Zeitpunkt kontrollierte die Nordallianz bereits die Hauptstadt Kabul und spielte ihre Macht mit positiver Resonanz der USA und weiterer westlicher Beteiligter aus. Sie setzten durch, dass angereiste Vertreter der Menschenrechtsarbeit und der feministischen Organisation RAWA[4] vom Gipfeltreffen auf dem Petersberg bei Bonn wieder ausgeschlossen wurden. Nordallianzführer bekamen die Mehrzahl aller Ministerien und alle Schlüsselpositionen zugesprochen. Eine Entwaffnung wurde nicht vereinbart und das in solchen Abkommen übliche und bereits vorformulierte Verbot eines generellen Amnestiegesetzes für schwere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde auf Druck der Nordallianz herausgestrichen.
Eine Demonstration von Frauen in Kabul hatte zuvor den UN-Vertretern, die dieses Gipfeltreffen in Afghanistan vorbereiteten und dabei jedoch nur die Stimmen von Männern einholten, eine Resolution mit ihren Forderungen überreichen wollen. Doch diese Demonstration wurde von den Milizen der Nordallianz gewaltsam auseinandergetrieben. Die UN-Vertreter unternahmen auch in den Tagen nach der gescheiterten Resolutionsübergabe keine Versuche, die Erklärung der Frauen zu erhalten.
In dieser entscheidenden ersten Phase, wo bereits grundlegende Rahmenbedingungen festgeschrieben wurden, wurden weder die politischen Analysen der Frauenorganisation RAWA ernst genommen noch den Stimmen der Frauen eine Chance gegeben, in die Entscheidungen für die Schritte zum Neuaufbau des Landes einzugehen. RAWA verfügte zu diesem Zeitpunkt über eine 24-jährige Organisationserfahrung mit umfassenden Strukturen und Rückhalt in der Bevölkerung.Stattdessen wurden Feinde der Frauenrechte, Kriegsverbrecher und Anti-Demokraten zu den Protagonisten des Demokratieaufbaus gemacht. Diese hatten fortan viel Geld und Einfluss. Da keine Entwaffnung der Milizen stattfand und keine Maßnahmen zur Verhinderung der Kandidatur von Kriegsverbrechern geschaffen wurden, konnten diese schnell umfassende Regionalkontrolle und Abhängigkeitsstrukturen aufbauen, um so auch die verfassungsgebende Versammlung zu dominieren und um langfristig ihre politischen Ämter zu sichern. Die Frauenrechtlerinnen von RAWA konnten fortan erneut, wie zuvor die meiste Zeit seit dem Bestehen dieser Organisation, nur verdeckt im Untergrund arbeiten. Gerade weil sie sich für Frauenrechte und Demokratie einsetzen, stellten die Frauen von RAWA ein rotes Tuch für die neue Regierung dar.[5] Ihr Leben war bedroht, denn sie nannten die Kriegsverbrecher in der Regierung beim Namen.
RAWA wie auch weitere afghanische basispolitische Organisationen wiesen immer wieder darauf hin, dass weder Demokratie noch die Befreiung von Frauen aus Unterdrückungsverhältnissen extern intervenierend implementiert oder „geschenkt“ werden können. Stattdessen müssen diese von der organisierten Gesellschaft selbst, von den organisierten Frauen im Land, in einem langen Prozess erkämpft werden. Die militärische Intervention wurde als kolonial, imperial, menschenverachtend und anti-demokratisch zurückgewiesen. Die Frauen hingegen, die in den zwei Jahrzehnten der Intervention als Ansprechpersonen für internationale Organisationen und die Interventionsstaaten zur Verfügung standen, um das Bild eines gelingenden Staatsaufbaus zu bekräftigen, wurden von afghanischen Frauenrechtlerinnen wie Malalai Joya als „Vorzeigedamen“ und von der Organisation RAWA als „dolled-up showpiece women“ bezeichnet, die sich nicht für die Probleme der Mehrheit der afghanischen Frauen interessieren und diese auch nicht repräsentieren. „Sie verstecken sich hinter ihren Karrieren und Privilegien und reden nicht mit den Opfern von Gewalt und brutaler Unterdrückung, die außerhalb der bewachten Villenviertel keine Rechte haben“.[6]
Geschichte demokratischer und feministischer Organisierung in Afghanistan
Es wäre möglich auch weiter zurückzugehen in der Geschichte Afghanistans, doch sehr direkte Bezüge zum Verständnis der aktuellen Situation liegen in den letzten etwas mehr als 50 Jahren. In Afghanistan gab es wie in vielen anderen Teilen der Welt eine starke, freiheitliche 1968er-Bewegung. Studierendenstreiks setzten Mitbestimmung an den Universitäten durch und bewirkten eine Neubesetzung des Bildungsministeriums und der Leitung der Kabuler Universität. Es wurden intensive politische Debatten geführten, Kämpfe der Arbeiter:innen und Bäuer:innen unterstützt und zahlreiche linke Gruppen und Organisationen gegründet. Mädchen und Frauen verwirklichten Freiheiten in ihrem Alltag, gingen im Minirock zur Hochschule oder trugen enge Jeans, spielten Basketball, gingen in Kinos, ins Theater, auf Partys und Rockfestivals. Frauen qualifizierten sich durch ein Universitätsstudium und gingen in alle Berufe. Zunehmend setzten sie sich explizit für Frauenrechte ein und organisierten Demonstrationen zum 8. März sowie gegen den Versuch, das Auslandsstudium für Frauen zu unterbinden.
Um sich nicht in männerdominierte revolutionär-sozialistische Organisationen einfügen zu müssen, gründeten im Jahr 1977 junge Frauen eine unabhängige, revolutionäre Frauenorganisation, die Revolutionary Association of Women of Afghanistan – RAWA – als eigenständige Organisation, die Frauenrechte an die erste Stelle stellt. RAWA hat heute eine 44-jährige Geschichte und konnte trotz beinahe permanenter Notwendigkeit sich verdeckt zu organisieren weitreichende Strukturen aufbauen, die Schulen, Alphabetisierungs- und Bildungsprogramme, Waisenhäuser, Nothilfe, zeitweilig ein Krankenhaus, eine Zeitung, Wirtschaftskooperativen, internationale Außendiplomatie und Medienarbeit umfassen. Bildungsarbeit wird von RAWA als revolutionäre Methode auf dem Weg zur Frauenbefreiung und umfassenden Gesellschaftsveränderung verstanden. Denn nicht eine Machtübernahme oder Regierungswechsel könnten das Ziel sein, die Veränderungen können nicht von oben gesteuert stattfinden, sondern müssen von der gesellschaftlichen Basis getragen werden.
Die Gründerinnen von RAWA hatten bereits aus den Auseinandersetzungen während der bewegten Zeit der Studierendenkämpfe Ende 1960er/Anfang 1970er viel Erfahrung mit islamistischen Gruppen. Letztere konstituierten sich vor allem als Reaktion auf die linken, feministischen und insgesamt freiheitlichen Entwicklungen und ihr Anliegen war es, diese ideologisch und gewaltvoll, beispielsweise durch Säureangriffe auf Studentinnen, zurückzudrängen. Als nach der militärischen Intervention durch die Sowjetunion ab Ende 1979 die USA ein geheimes CIA-Programm zur massiven Aufrüstung und Finanzierung der islamistischen Gruppen, insbesondere auch der reaktionärsten und frauenfeindlichsten Organisationen, starteten, warnte RAWA auf einer Europareise vor den Folgen. RAWA verdeutlichte, dass eine Unterstützung des Westens für die islamistischen Organisationen anstatt der demokratischen Opposition eine Bedrohung für Frauenrechte und Menschenrechte bedeutet. Es werde ein Problem für die Menschen und speziell für die Frauen Afghanistan geschaffen.
Unter allen repressiven und kriegerischen Herrschaftsphasen – der sowjetischen Besatzung, der „Zeit der Jihadis“ von 1992 bis 1996, also die Phase der äußerst brutal und gewaltvoll geführten Machtkämpfe zwischen den verschiedenen, westlich finanzierten Mujaheddin-Milizen um die Kontrolle von Kabul nach dem Rückzug der Sowjetunion, und schließlich der Talibanherrschaft von 1996 bis 2001 – gelang es demokratischen und feministischen Organisationen Widerstand, Lebens- und Bildungsräume zu gestalten.
(Kein) Frieden mit den Taliban
„Eines muss man sich vor Augen halten: Wenn sie mit den Taliban in Afghanistan Frieden schließen, wirst du niemals Frieden erleben.“ So äußerte sich Weeda Ahmad, die Direktorin der Social Association of Afghan Justice Seekers (SAAJS), in einem Interview im Juli 2010 in Kabul.[7] Frieden kann nicht ohne die Aushandlung von Gerechtigkeit für die Opfer der Verbrechen hergestellt werden; Kriegsverbrecher dürfen keine Regierungsämter erhalten. Das gilt für die Verbrechen aus allen Phasen der afghanischen Geschichte.
Doch nachdem ein Aktionsplan für Transitional Justice (TJ) zur Aufarbeitung der Kriegsverbrechen auf der Basis einer umfangreichen Bevölkerungsbefragung der Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) entwickelt und 2006 beschlossen worden war, wurde mit großer Schnelligkeit durch die Kriegsverbrecher in der Regierung ein allgemeines Amnestiegesetz initiiert, durch alle Gremien gebracht und beschlossen – obwohl ein solches Gesetz mit internationalem Recht nicht vereinbar ist. Der TJ-Aktionsplan hatte unter anderem auch die Strafverfolgung vorgesehen. Beinahe keine der Maßnahmen des Aktionsplans wurden umgesetzt und die Veröffentlichung eines 900-seitigen Berichts der Menschenrechtskommission zur Dokumentation von Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen wurde durch die Regierung unterbunden. International wurde die Unrechtmäßigkeit des ab 2009 gültigen Amnestiegesetzes innerhalb des gesteuerten Staatsaufbaus nicht thematisiert. Ganz im Gegenteil wurde das Amnestiegesetz, das ohne zeitliche Befristung Straffreiheit zusicherte, zur Grundlage für die sogenannten Friedensverhandlungen mit den Taliban und anderen außerhalb des Staates agierenden Gewaltakteuren in Afghanistan.
Seit etwa 2010 wurde international offiziell an der Integration der Taliban in politische Machtpositionen im afghanischen Staat gearbeitet. Als im Juni 2010 der erste Versuch einer offiziellen Friedensverhandlung zur Integration der Taliban und weiterer Gruppen stattfand, wurden die Taliban vom afghanischen Präsidenten Karzai als „unzufriedene Brüder“ zur Teilnahme an der Regierungsmacht eingeladen. Um die Taliban an den Verhandlungstisch zu bringen, wurden seither immer wieder zahlreiche, umfangreiche Zugeständnisse gemacht: Hunderte inhaftierte Taliban wurden 2010/11 aus der Haft entlassen, Namen von führenden Taliban wurden von UN-Listen gesuchter Terroristen gestrichen und damit auch deren Konten wieder freigegeben. In Doha wurde eine offizielle Vertretung der Taliban mit Büroräumen ermöglicht, einschließlich Finanzierung und Reisemöglichkeiten.
Ein Reintegrationsprogramm, das beschlossen wurde, versprach neben Amnestie für Verbrechen auch Jobs, Bildungsmöglichkeiten, Pensionen und Land – Dinge, die für die meisten Afghan:innen unerreichbar waren. Zahlreiche Taliban wurden in Polizei, Militär und Verwaltung integriert, Ranghöheren wurden Regierungsämter angeboten. Es war ein schleichender Prozess der Integration der Taliban. Beispielsweise wurde schon 2006 Abdul Hakim Munib, ein früherer Taliban-Vizeminister, zum Gouverneur von Uruzgan ernannt. Ab 2009 wurde Munib Vizeminister für Religionsangelegenheiten. Der seit 2010 die Gespräche für „Frieden und Versöhnung“ leitende Hohe Friedensrat wurde neben anderen kriegserfahrenen Islamisten, Verbrechern und Frauenfeinden verschiedener Facetten auch mit bereits in den Staat integrierten Taliban besetzt.
Die Taliban nutzten die zugesicherte Straffreiheit, um ihre militärische Macht und ihren Einfluss immer weiter auszuweiten. Die Anschlagsaktivitäten wurden massiv ausgeweitet. Die Taliban töteten tausende Zivilist:innen wie auch Staatsvertreter:innen, eroberten weitere Gebiete und richteten Andersdenkende hin. Mit zunehmender militärischer Macht setzten sie die Bedingungen für ihre politische Integration immer höher. Schließlich vereinbarten sie in Verhandlungen mit den USA im Februar 2020 den vollständigen Abzug des US-Militärs und die Freilassung von 5000 Taliban-Gefangenen. Unter diesen Bedingungen haben die Taliban keine weiteren Verhandlungen mit der Regierung Afghanistans abgewartet, sondern sich die ganze Macht über das Land angeeignet.
RAWA beschreibt das Verhältnis der Interventionsstaaten zu den Taliban als das zu einem schwierigen Familienmitglied, das wieder neu geordnet werden muss.[8] Die brutalen Taliban seien in den letzten 10 Jahren mit einem Zuckerüberzug versehen worden,[9] deren Mentalität ist jedoch die gleiche geblieben: frauenverachtend, unmenschlich, barbarisch, reaktionär, anti-demokratisch und gegen fortschrittliches Denken gerichtet. Die Taliban sollten demnach nie als Feinde vernichtet werden, weil sie eine Kreation der USA sind (ebd.). Mahmouda, Aktivistin aus Afghanistan, empört sich in einem Interview darüber, dass alle Länder nun bereitwillig und eifrig die Taliban zu Verhandlungen einladen: „Erste Länder haben sich bereits zu freundlichen Beziehungen mit den Taliban bereiterklärt“.[10]
Es gab in den letzten 10 Jahren in Afghanistan regelmäßig Proteste dagegen, dass den Taliban im Zuge des Verhandlungsprozesses zahlreiche Zugeständnisse gemacht, sie verharmlost und gestärkt wurden. Ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisation kritisiert, dass der eingeschlagenen Friedens- und Versöhnungsprozess am Willen der Bevölkerung vorbei handelt und diese auch nicht einbeziehe. Nach der Bekanntgabe der Entlassung von mehr als 5000 Taliban-Gefangenen demonstrierten Menschen in Kabul im März 2020 auf einer Kundgebung der Solidaritätspartei Afghanistan. Die Solidaritätspartei arbeitet als außerparlamentarische Organisation, die eine basispolitische, demokratische, Frauenrechte stärkenden Bewegung über alle ethnischen und anderen Spaltungen hinweg organisiert.
Der Friedensprozess ist eines von vielen möglichen Beispielen, die zeigen, wie die 20 Jahre Afghanistan-Intervention eine Demokratie verhindert und reaktionärste Islamisten und Frauenfeinde mit Macht und Einfluss versehen haben. Das Land Ende August 2021 mit dem Abzug des internationalen Militärs den Taliban zu überlassen, war keine Wendung der Entwicklungsprozesse der letzten 20 Jahre, sondern deren logische Konsequenz.
Das System loswerden, das uns vernichtet
Es ist wichtig, Afghanistan nun nicht alleinig als einen Ort zu betrachten, von dem nur noch geflohen werden kann – so wichtig wie es ist, sich für sichere Fluchtwege einzusetzen. In Afghanistan finden weiter sozialen Bewegungen für gesellschaftliche Veränderungen und Frauenorganisierung statt – „mit intelligenten Wegen, um sicher zu bleiben“ wie eine RAWA-Sprecherin im August 2021 sagte – und diese brauchen unsere Aufmerksamkeit und Unterstützung.
Nicht erst jetzt nach der Machtübernahme der Taliban sind es vor allem die Frauen, die die Entschlossenheit und den Mut aufbringen für Protest auf der Straße. In der ersten Nacht nach der Machtübernahme durch die Taliban schrieben Frauen in großen Graffitis ihren Anti-Taliban-Protest an Wände. Zwei Tage nach dem Abzug des internationalen Militärs demonstrierten Frauen in Herat, am Tag darauf in Kabul. Es folgten weitere Frauenproteste in Masar-e Scharif und anderen afghanischen Städten. Sie erklärten, dass sie nicht stillsitzen werden, wie die Taliban es von ihnen wollen und einen Ausschluss aus Bildung, Politik, Verwaltung, Medien, Wirtschaftsleben und dem öffentlichen Raum nicht hinnehmen werden. Bei den Demonstrationen rufen die Frauen mutig und selbstbewusst: „Lange leben die Frauen Afghanistans“ und „Ich werde Freiheit singen, immer und immer wieder“, auf einem Plakat steht „Ein Kabinett ohne Frauen ist ein Verlierer, ein Verlierer.“
In Italien demonstrierten Ende September tausende Frauen, um zu zeigen, dass sie ihre afghanischen Schwestern nicht allein und im Stich lassen, #Nonlasciamolesole. Sie forderten von der UN eine ständige Überwachung der Frauenrechte in Afghanistan. Auch die kurdische Frauenbewegung hat ihre Verbundenheit mit den Frauen Afghanistans ausgedrückt. Die Dachorganisation der Kurdischen Frauen KJK (Gemeinschaften der Frauen Kurdistans) ruft anlässlich des Rückzugs der USA aus Afghanistan, mit dem diese das Land den Taliban überlassen haben, alle Frauen auf, „sich mit unseren Schwestern in Afghanistan zu solidarisieren, ihre Stimme zu erheben und deren Leben, Errungenschaften und Träume zu verteidigen“.[11] In ihren jeweiligen Kämpfen gegen radikal-islamistische Organisationen beziehen sich die kurdischen und afghanischen Frauen seit einigen Jahren aufeinander.
Eine Sprecherin von RAWA im September 2021:
„Wir verlassen uns nicht auf die Regierungen, wir verlassen uns nicht auf Gremien wie die Vereinten Nationen, die immer – direkt oder indirekt – die fundamentalistischen Regime unterstützt haben, aber wir verlassen uns unbedingt auf die Menschen, die den Krieg ablehnen. Auch heute brauchen wir diese Solidarität in der ganzen Welt. Ohne Gerechtigkeit wird es keinen Frieden geben.“[12]
Anmerkungen
[1] RAWA (31.10.2001): Testimony of Tahmeena Faryal representative of RAWA before the Subcommittee of the US House of International Operations and Human Rights on the hearing Afghan People vs. The Taliban: The Struggle for Freedom Intensifies, www.rawa.org/testiomny.htm.
[2] RAWA/Kolhatkar, Sonali: RAWA Responds to the Taliban Takeover. Interview, Afghan Women’s Mission News, www.afghanwomensmission.org (20.8.2021).
[3] RAWA, 31.10.2001.
[4] Eine politische Analystin der RAND National Security Research Division (NSRD), Cheryl Benard, hatte RAWA im Jahr 2001 als fähig für die Regierung und den Aufbau Afghanistans eingeschätzt (Benard/Schlaffer, 25.11.2001).
[5] Schahla: „Auch in der heutigen Regierung sitzen Kriegsverbrecher“. Interview mit Schahla von RAWA, Neue Luzerner Zeitung (25.05.2002).
[6] Joya, Malalai: Ich erhebe meine Stimme. Eine Frau kämpft gegen den Krieg in Afghanistan. München 2009, S. 238.
[7] Exo, Mechthild: Das übergangene Wissen – eine dekoloniale Kritik des liberalen Peacebuilding durch basispolitische Organisationen in Afghanistan. Bielefeld 2017, S. 148.
[8] RAWA: Peace with Criminals, War with People! www.rawa.org (1.6.2010).
[9] RAWA/Kolhatkar, Sonali: RAWA Responds to the Taliban Takeover, www.afghanwomensmission.org/ (20.8.2021).
[10] „Afghanische Aktivistin: Für uns ist noch nicht alles vorbei“, ANF (21.8.2021).
[11] Besê Erzincan: Keine Erwartungen an die USA, ANF (02.09.2021).
[12] Rawi/ Wardak, Madina/ Alizada, Sonita: Afghan Women Are Doing What They’ve Always Done: Resist, novaramedia.com (08.09.2021), Übersetzung: M.E.