IMI-Analyse 2021/26 - in: AUSDRUCK (Juni 2021)
Die Waffenschiffe im Netz der Friedenshäfen
von: Carlo Tombola und Andrea Bottalico | Veröffentlicht am: 8. Juni 2021
Häfen sind der Ort, wo sich die Wege aller Dinge kreuzen, und „Dinge“ sind im Kapitalismus der Dreh- und Angelpunkt allen Seins. Die Dinge sind die Waren und ihr Transit durch die Knotenpunkte des Seeverkehrs folgt der Logik eines Hütchenspiels. Dies gilt für den Transport von Waffen wie für den Transport von Schuhen gleichermaßen. In der undurchsichtigen Welt der Seeschifffahrt ist es möglich, ein aus einer koreanischen Werft stammendes Schiff mit griechischem Eigentümer zu finden, das von einem dänischen Betreiber gechartert wurde und worauf philippinische Seeleute über eine zypriotische Crewing Agency anheuern. Das Schiff, womöglich in Panama registriert und in Großbritannien versichert, könnte legale bzw. illegale Waren im Namen eines mehr oder minder offiziellen Spediteurs von einem niederländischen Hafen nach Argentinien befördern, und zwar über Containerterminals, deren Nutzungsrechte bei in Singapur oder Dubai ansässigen Hafenbetreibern liegen. Und diese Umstände liegen klar zutage, denn die Waren sind ausgemachterweise im globalen Raum unsichtbar.
Aus diesem Grund sind die Kämpfe entlang der Logistikkette des Güterverkehrs so einschneidend und bisweilen so erfolgreich. Der Kampf, den die Hafenarbeiter von Genua nunmehr seit einigen Jahren führen, erscheint allerdings noch ergiebiger und vielschichtiger, denn er legt den Finger in die Wunde eines uralten Widerspruchs, ist tief in der Tradition des Internationalismus und der Solidarität auf See verwurzelt, und verschließt nicht die Augen vor dem unmenschlichen Schauspiel, das sich tagtäglich vor den Häfen Süditaliens ereignet. Zudem stellt er den Zusammenhang her zwischen den Waffenlieferungen, den Kriegen in Nordafrika und im Nahen Osten und den Strömen verzweifelter Migranten, die den reichen Norden vom Meer aus belagern.
Die europäischen Sprachen mussten neue Ausdrücke einführen, um den Umstand zu beschreiben, dass Migranten innerhalb der europäischen Grenzen die Freizügigkeit verwehrt wird: refus d’entré, devolución de migrantes, refoulement of migrants … In Italien wurde in dem von Innenminister Matteo Salvini mutwillig geschaffenen polizeistaatlichen Rechtsklima das Wort „respingimento“ (Zurückweisung, Push-Back) geprägt, was auf See soviel bedeutet, wie dass die Boote mit Migranten hinter die Linie Melilla-Pantelleria-Lesbos zurückgedrängt werden, gleich ob die Boote sinken oder ob die Migranten sich bei ihrer erzwungenen Rückkehr den Misshandlungen der Schlepper ausgesetzt sehen.
Daran dachten auch die Camalli (wie Genuas Hafenarbeiter im Volksmund genannt werden), als sie im Frühjahr 2019 unter der Losung „Öffnet die Häfen für Migranten, nicht für Kriege“ zwar nicht das saudische Schiff „Bahri Yanbu“, wohl aber die für die saudischen Streitkräfte bestimmte Ausrüstung „zurückwiesen“. Für einen solchen Kampf – ohne absehbares Ende – braucht es jedoch einen langen Atem und nur wenige Lichtblicke erhellen diesen Weg, der mit dem heiligen Vorsatz beschritten wird, trotzdem zu kämpfen, im Namen eines unumstößlichen Prinzips. Die Gegenseite jedenfalls, sei es auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene, ist im wahrsten Wortsinn „bestens gerüstet“.
In Genua führte der Präsident der Region Ligurien (Mitte-Rechts) sogleich wieder die „Arbeitsplätze“ im Munde, der Anti-Saudi-Protest „schadet der Wettbewerbsfähigkeit unseres Hafens, er hilft den italienischen Arbeitsplätzen nicht, er hilft unserem Wachstum nicht“ und fügte dann etwas drohend hinzu, „niemand wird Genua in die Zeit der Armutsideologien gewisser Linker, Gewerkschaften, Kollektive zurückversetzen“. Der Seehafenspediteur Delta, der seit dreißig Jahren für die Beladung der Bahri-Schiffe in Italien zuständig ist, ließ seine Beschäftigten einen „offenen Brief“ an die Behörden verfassen, um sie daran zu erinnern, dass die Proteste „bei den saudischen Kunden (…) eine wachsende Besorgnis und Ungewissheit um die Sicherheit ihrer Besatzungen und Schiffe“ hervorrufen und dass „wir um unsere Arbeit fürchten, die es uns dank der regelmäßigen Ankunft saudischer Schiffe ermöglicht hat, unsere Familien zu ernähren“.
Einstweilen passieren die Bahri-Schiffe weiterhin etwa alle zwanzig Tage den Hafen von Genua, allein in den letzten zwei Jahren 32 Mal (wenn wir uns nicht verzählt haben) in östlicher Richtung, also entlang der Route, die Waffen aus der „freien Welt“ (Kanada, Vereinigte Staaten, Europäische Union) in die Diktatur der absoluten saudischen Monarchen bringt, jene Waffen, die – um Präsident Biden bei seinem ersten Besuch im Außenministerium am vergangenen 4. Februar zu zitieren – „eine humanitäre und strategische Katastrophe“ verursacht haben. Heute ist jedes Einlaufen der Bahri in den Hafen Genua von massiver, militarisierter Polizeipräsenz begleitet, um „die Sicherheit zu garantieren“ – und zwar die Sicherheit der Schiffe vor den Demonstranten, mitnichten die Sicherheit der Bewohner*innen des Hafengürtels, die im Falle eines Unfalls von der Explosion hunderter Bomben getroffen werden könnten, die bei jeder Fahrt in den Laderäumen der saudischen Schiffe mitgeführt werden – wie leider bereits im Libanon geschehen, und nicht nur dort. Die politische Polizei (DIGOS) übt Druck auf Hafenarbeiter aus, die protestieren könnten, und taucht – wenn die Schiffe im Hafen liegen – an den Arbeitsplätzen in den mehr oder weniger nahe gelegenen Terminals auf, um die Bewegungen zu „kontrollieren“. Es ist ersichtlich, wie hier die Logik auf den Kopf gestellt wird: Wer friedlich protestiert, ist eine Bedrohung für Ordnung und Sicherheit, während die gesamte Versorgungskette des Jemen-Krieges „Arbeit verschafft“ und Familien ernährt. Das Ganze ist sehr Brechtisch in dem Sinne wie es in Brechts letztem Buch, der Kriegsfibel (1955), nachzulesen steht.
Es ist nicht verwunderlich, dass einige Genueser Friedensaktivisten wegen „krimineller Vereinigung“ und „Vergehen gegen die Transportsicherheit“ bei der Justiz angezeigt wurden. Glücklicherweise erfuhren sie breite Unterstützung und Solidarität von pazifistischen Aktivisten, NGOs für Menschenrechte und religiösen Vereinigungen. Seit dem Amtsantritt von Draghis Regierung scheint sich das Klima geändert zu haben, die Logistik der Anti-COVID-Impfstoffe wurde einem General der Armee anvertraut (der stets Uniform und dazu den Hut der italienischen Gebirgsjäger trägt), der gesamte militärisch-industrielle Komplex bereitet sich darauf vor, einen wesentlichen Teil des riesigen Geldflusses aus dem Konjunkturprogramm abzuzweigen, die Streitkräfte wollen ihre Ausrüstung modernisieren, die großen Unternehmen ihre Produktion wieder auf Hochtouren bringen, „Cybersicherheit“ lautet das Mantra aller Experten, die der Geopolitik der Geheimdienste das Wort reden und der Rüstungskonzern Leonardo hat es geschafft, einen seiner Top-Manager auf einen Ministerposten zu hieven (Roberto Cingolani, Umweltminister)…
Mit Blick auf das internationale politische Geschehen bleibt abzuwarten, ob Biden seinen Worten auch Taten folgen lässt, aber im Grunde wissen alle, dass sich nicht viel ändern wird. In Italien schreit man also Zeter und Mordio über die häufigen Reisen des ehemaligen Premierministers Matteo Renzi nach Saudi-Arabien, wo er Mohammed bin Salman al-Saud berät, den saudischen Kronprinzen und Verteidigungsminister (Kashoggis Henker), und nebenbei, so unsere Vermutung, italienischen Unternehmen dabei „hilft“, den Petro-Monarchien am Golf ihr Geraffel zu verkaufen. Wir wissen zum Beispiel, dass die „Bahri Abha“ gegen Ende Mai, nachdem sie Genua passiert hat, wie im vorigen Jahr auch wieder im kleinen Hafen von Marina di Carrara anlanden wird, um die großen „Oil & Gas“-Fertigausrüstungen von Nuovo Pignone (Teil des US- Konzerns Baker Hughes) einzuladen, bestimmt für die saudischen Raffinerien, sowie den als Baumaterial begehrten Carrara-Marmor, eine Spezialität des toskanischen Hafens. Dieser liegt übrigens unweit entfernt von Häfen wie Le Spezia und Livorno, die stark in die Militärbewegungen von Camp Darby, dem größten US-Militärdepot außerhalb der USA, eingebunden sind.
Obwohl die Gegner mächtig sind und das politische Klima ungünstig erscheint, dürfen wir nicht die großen Schwachstellen der militärisch-industriellen Ausrichtung aus dem Blick verlieren. Es gibt derer mindestens drei: Zunächst einmal hat die Pandemie Italien und dem Rest der Welt vor Augen geführt, an welchen Stellen des Gemeinwesens – über den volkswirtschaftlichen Wohlstand und die Höhe des technischen Fortschritts hinaus – dringender struktureller und organisatorischer Nachholbedarf besteht, indem sie die vorrangige Bedeutung eines effizienten öffentlichen Gesundheitswesens und flexibler Bildungssysteme aufgezeigt hat. Armeen erweisen sich als das, was sie sind, nämlich große selbstreferenzielle Maschinen, die nach Steuergeldern gieren, um im Wesentlichen ein Klima des Notstands aufrechtzuerhalten, dank dem sie leichter ihre Rolle rechtfertigen können.
Zweite Bresche. Der amerikanische Rückzug aus dem zwanzigjährigen Krieg in Afghanistan, mit dem dieses 21. Jahrhundert begann, erinnert uns daran, dass die moderne Form des bewaffneten Konflikts vor allem die des „Bürgerkriegs“ ist, der zwar oft im Gewand eines ethnisch-religiöser Zwistigkeiten daherkommt, aber nackt besehen ein Wirtschafts- und Ressourcenkonflikt ist. Wenn es also Hoffnung auf mehr Frieden gibt, dann nur im Kampf gegen wirtschaftliche Diskriminierung, dieselbe Diskriminierung, die die industriellen und postindustriellen Gesellschaften krank macht und auf deren Grundlage die Globalisierung gedeiht. Eine Welt, ein Kampf.
Schließlich fällt das, was die Genuesischen Genossen verwirklichen wollen, im positiven Sinne aus dem Rahmen. Unter Hafenarbeiter*innen und Antimilitarist*innen entstand nämlich das Bedürfnis, einen „Beobachtungsposten“ zu schaffen, um den Waffenverkehr durch die logistischen Knotenpunkte der Häfen zu überwachen. Und zwar haben sie auf ein Instrument des Wissens zurückgegriffen, bei dem Erfahrung vor Ort, Analyse der Forschung und dialektische Auseinandersetzung zusammen die lokale oder regionale Dimension überwinden und zur europäischen und internationalen Dimension vorstoßen, die allein zu verstehen ermöglicht, warum der Krieg ein solchermaßen „strukturelles“ Problem ist, in Minneapolis ebenso wie in Benghazi, in Paris nicht weniger als in Donezk, Kivu-See und Tigray.