IMI-Standpunkt 2020/060 - in: AUSDRUCK (Dezember 2020)

Unbewusst Reserve

Warum uns der Krieg fern ist

von: Andreas Seifert | Veröffentlicht am: 1. Dezember 2020

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Qua Definition kann ein Staat im Falle eines Krieges einen Großteil der Bevölkerung in einem bestimmten Altersschnitt zum Dienst an der Waffe ziehen – entsprechendes wird in einer Wehrverfassung festgelegt. In Deutschland sind derzeit alle Männer ab 18 Jahren wehrpflichtig und können bis zu ihrem 45. Lebensjahr in den Militärdienst berufen werden: Sie sind die „Reserve“! 

Je nach Land unterscheidet sich der Umfang der tatsächlichen Heranziehung und auch die unmittelbare historische Erfahrung lässt Staaten dazu tendieren, mehr oder weniger Menschen in ihre potentielle Reserve aufzunehmen – und selbstverständlich ist es auch denkbar, keine Reserve zu haben. In Deutschland ist die Wehrpflicht derzeit ausgesetzt – es wird kein Mann aufgefordert, sich zur Musterung zu melden.

Auch gibt es ebenso selbstverständlich eine Differenz in der Wahrnehmung, ob die „Reserve“ vor allem eine theoretische Größe ist, oder eine aktive Beorderung zu Wehrübungen in größerem Umfang stattfindet. Insofern ist das „Gefühl“, einer (potentiellen) „Reserve“ anzugehören heute nicht sonderlich ausgeprägt in den modernen Gesellschaften Europas – bei allen Konflikten und Kriegen in die Europa und seine Mitgliedstaaten verwickelt sind. In Milizsystemen wie der Schweiz, dem Einzigen in Europa, ist dies ein bisschen anders – das Gewehr im Schrank, die Uniform auf dem Haken erinnern an die Verpflichtung, im Zweifel für den Staat in einen Krieg zu müssen. Aber: Müssen wir im Krieg gewesen sein, um dagegen zu sein?

Historisch berührte die Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht in den 1950er-Jahren in der jungen BRD auch diesen Punkt sehr schmerzhaft. Die Mobilisierung eines „letzten Aufgebots“ am Ende des II. Weltkriegs erfasste auch die letzten Reste der Bevölkerung, die dem Kriegseinsatz bis dahin entgangen waren. Die Erfahrung des „totalen Krieges“ war noch frisch, als die Neuaufstellung einer Armee genau auch diese Option erneut ins Spiel brachte. Der Widerstand gegen die Wiederbewaffnung war somit auch die pazifistische Einsicht aus realer Kriegserfahrung.

Dieser Widerstand, so führt es Wolfram Wette aus, fußte aber auch auf durchaus unterschiedlichen und anderen Motivationslagen: grundsätzlicher Pazifismus; antimilitaristische Position; antikapitalistische Position; deutschlandpolitische Bedenken; kriegskritische Einstellung, die Aufrüstung als potentiell bedrohlich, kriegsförderlich begreift; bis hin zum Widerstand der nationalen und nationalsozialistischen Eliten, der sich unter Einhaltung von „Vorbedingungen“ in Zustimmung wandelte.[1] Und es ist genau diese Heterogenität, die eine einheitliche Position, eine einheitliche Strategie gegen die Neuaufstellung einer deutschen Armee erschwerte und letztlich auch verhinderte.[2] Das Adenauersche Konzept einer „Erlangung der Souveränität“ mittels Wiederbewaffnung war ab 1950 publik und gewann mit verschwiegenen Maßnahmen, wie der Etablierung kasernierter Polizeitruppen oder der Ausplanung von Details der Wiederbewaffnung zusehends an Kontur.[3] Analog ließ sich ähnliches im Osten beobachten – auch hier mit dem Ziel, die einmal getroffene Blockbindung zu festigen.

Dass dies angesichts der unmittelbaren „Erfahrungen“ und „Erinnerung“ an den Krieg geschehen konnte, zeigt auf, wie tiefgreifend die deutsche Gesellschaft erschüttert und fragmentiert vom Krieg zurückblieb. Im Rahmen des aufziehenden Kalten Krieges entstand eine ideologisch geprägte Erinnerungskultur, die den Rahmen der öffentlichen Erinnerung auf Chiffren reduzierte und individuell erlebte Gewalt kontextualisierte.[4] Der Konstruktion eines Erinnerungsraumes, der aktiv und kollektiv gestaltet wird, nimmt sich auch Patrick Krassnitzer an, der die Aussagekraft autobiographischer Quellen mit Bezug zu den Weltkriegserinnerungen des nationalsozialistischen Milieus untersucht.[5] Mit Verweis auf die Gedächtnispsychologie führt er an, dass das autobiographische Gedächtnis assoziativ verfährt und sozial und kulturell geprägt ist. „Aufgrund seines assoziativen Charakters sampelt das Gedächtnis wie ein moderner DJ alles zusammen, was in der jeweiligen Erinnerungsgegenwart als passend und stimmig erscheint.“[6]

Die konsequente Diffamierung des pazifistischen Lagers durch die Regierung Adenauer in der Gleichsetzung von Pazifismus, Antimilitarismus und Kommunismus und der Aufbau eines Drohgespenstes in Form der Sowjetunion sicherte ihm 1953 die Wiederwahl – Grundbedingung für die Durchführung der Wiederbewaffnung 1955/56 und die Zementierung der West-Bindung an die USA.[7] „[…S]o trug in den Gründerjahren der Bonner Republik der Antikommunismus, der sich vor allem als eine gegen den Stalinismus gerichtete Speerspitze verstand, nicht unerheblich dazu bei, sich zumindest vorübergehend von der nationalsozialistischen Vergangenheit teilweise zu entlasten.“[8]

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Für die gesellschaftliche Debatte um die Wiederbewaffnung bedeutete dieser Befund, das es zwar der konservativen Politik in den 1950er Jahren gelang, die offizielle Rückschau auf den Krieg, Gewalt und Opfer so zu gestalten, dass die harten Widerstände gegen die Reaktivierung der militärischen Option an den Rand gedrängt wurden, andererseits die Wiederbewaffnung immer noch als ein „Bruch“ mit der deutschen militärischen Tradition ausgestaltet werden musste, um eine Mehrheit im Wahlvolk zu finden. Dazu gehört die offen vorgetragene defensive Ausrichtung der neuen Bundeswehr als alleinige „Verteidigungsarmee“ und die Konstruktion eines Armeeangehörigen als „Bürger in Uniform“ in Abgrenzung zum Kadavergehorsam der Wehrmacht. Ob man nun so weit geht und dies als ein Resultat und Kennzeichen einer (lang anhaltenden) „Diskreditierung des Militärischen“ konstatiert, wie dies beispielsweise Schaarschmidt und seine Koautoren[9] tun, oder einfach festhält, dass die bundesdeutsche Debatte lange vorsichtig war, militärische Gewalt als „Problemlösung“ ins Spiel zu bringen, ist dabei mehr als nur eine Geschmacksfrage. Die Bevölkerung, die zu Friedensdemonstrationen und Ostermärschen ging, verstand sich nicht als Teil einer wie auch immer gearteten Reserve. Eine pazifistische Position war deutlich markiert und zeitigte Konsequenzen z.B. auch in der Etablierung des Wehrersatzdienstes.

Die Beendigung des Kalten Krieges und die Suche nach einer neuen Existenzberechtigung für Armee und NATO-Bindung Anfang der 1990er-Jahre haben aber genau diese militärische Zurückhaltung in Frage gestellt. Mit den „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ von 1992 erhielt das Bild einer Bundeswehr als „territoriale Verteidigungsarmee“ deutliche Risse: Interessen, deutsche Interessen, konnten als Rechtfertigung militärischer Einsätze herangezogen werden. Die weltweiten Einsätze deutscher Truppen eskalieren seither zu immer größeren, immer weniger nachzuvollziehenden Alltäglichkeit. Schon 2005 beschrieb Norbert Meyerhöfer die ausbleibende öffentliche Entrüstung und unsere Gewöhnung an den Kriegseinsatz deutscher Truppen als Ergebnis einer konsequenten Militarisierung der öffentlichen Debatte mithilfe medialer Berieselung.[10] Diese Berieselung bewirkt, dass wir das Bild, welches wir uns von den Auslandseinsätzen machen, für die Realität halten, statt für das Narrativ, das uns vorgesetzt wird. Dieses „Bild“ erhält seine Gültigkeit durch die Akzeptanz in unserem öffentlichen Diskurs.

Die (erneute?) „Normalisierung des Militärischen“ findet dabei in einem, vorsichtig formuliert, Vakuum persönlich erlebter Erfahrungen statt: Am Beginn des 21. Jahrhundert ist die deutsche Gesellschaft als Ganzes weit entfernt von einer unmittelbar lebenden Kriegserfahrung. Die breite deutsche Bevölkerung kennt nur die weichgespülte Form von Krieg mit Bildern zerschossener Kampfzonen als Resultat von realen Kampfhandlungen, die sich hinter Rauchsäulen am Horizont verstecken, kennt abstrakte Drohnenaufnahmen platzender, hochpräziser, „smarter“ Bomben auf scheinbar virtuellen Gefechtsfeldern, kennt dahinjagende Kampfflugzeuge und effektive „Wirksysteme“ als Resultat deutscher Ingenieurskunst, als Exportschlager. Medial entrückt, ist der Krieg ein abstrakter Dauergast in Nachrichtensendungen.

Es gibt Ausnahmen zu dieser Feststellung – das sind die eingesetzten Soldaten und das sind die Menschen, die vor genau diesen Kriegen fliehen und Zuflucht suchen. Aber anders als beispielsweise in den USA spielen Kriegsrückkehrer hierzulande aktuell nicht einmal in der Literatur eine ausgeprägte Rolle.[11] Diese Leerstelle ist dabei kein wirklicher Zufall. Die Debatte über Posttraumatische Belastungsstörungen und ihre „Behebung“ durch die Psychologie vor wenigen Jahren zeigt vielmehr auf, dass dies – als innermilitärisches Problem begriffen – vor der Zivilgesellschaft abgeschottet behandelt werden sollte. Geht es hier letztlich auch darum, die Bereitschaft in der Bevölkerung, immer neue militärische Interventionen der Politik zu akzeptieren, nicht weiter sinken zu lassen? Die Betonung der „Verantwortung“ Deutschlands, die inzwischen nicht selten und selektiv in einem militärischen Engagement mündet, blendet die menschlichen Folgen für die Gesellschaft hier aus. Neben allen sonstigen guten Argumenten, die gegen diese Unternehmungen sprechen, sind es eben auch die toten, verletzten und seelisch beschädigten Soldaten, die auf diese Gemeinschaft zurückfallen. Die Versuche der Minimierung von eigenen Verlusten – augenfällig an der Materialschlacht zum „Schutz“ der Soldaten, die selbst offensive, tödliche Waffensysteme (z.B. bewaffnete Drohnen) als Schutzmechanismen kennzeichnen – senken bewusst die Hemmschwelle zu Kriegseinsätzen. Dabei ist diese Hemmschwelle keinesfalls nur für die Politik und das Militär gesenkt, sie ist es auch für die Diskussion in der breiten Öffentlichkeit und den Medien: Wir sind so gut ausgerüstet … UNS passiert nichts.

Die Dysfunktionalität unseres Kriegsbilds ist dabei nicht nur ein Mangel an spezifisch persönlicher Erfahrung, einer durch persönliches Erleben hinterlegten Empathie, es ist die Kombination mit dem überheblichen Selbstbild, tatsächlich zu wissen, warum und wofür dieser oder jener Krieg ist. Die Reproduktion des kriegsfördernden Narrativs und seine permanente Bestätigung blenden aus, dass auch wir (Männer) Bestandteil des Konzepts sind, das sich „Armee“ nennt: Reserve. 

Anmerkungen


[1] Wolfram Wette, „Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges (1945-1955)“, in: Detlef Bald/Wolfram Wette (Hg.): Alternativen zur Wiederbewaffnung, Essen 2008, S. 7-23, S.14.

[2] Ebenda, S.15

[3] Ebenda, S.27f.

[4] Claudia Kemper, „Wann ist der Krieg vorbei? – Gewalterfahrungen im Übergang vom Nachkrieg zum Frieden“, in: Zeithistorische Forschungen, 15/2018, S.340-357, S.352

[5] Patrick Krassnitzer, „Historische Forschung zwischen ‚importierten Erinnerungen‘ und Quellenamnesie“, in: Michael Epkenhans/Stig Förster/Karen Hagemann (Hg.), Militärische Erinnerungskultur, Paderborn 2006, S. 212-222.

[6] Ebenda, S.213.

[7] Ebenda, S.35.

[8] Stefan Creuzberger/Dierk Hoffmann, „Antikommunismus und politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland“, in: Creuzberger/Hoffmann (Hg.), „Geistige Gefahr“ und „Immunisierung der Gesellschaft“, München 2014, S.1-13, S.3.

[9] Thomas Schaarschmidt/Winfried Süß/Peter Ulrich Weiß, „Gewaltabkehr als gesellschaftliches Projekt – Leitbilder und Ambivalenzen in der Geschichte der Bundesrepublik“, in: Zeithistorische Forschungen, 15/2018, S. 203-221, S.206.

[10] Norbert Meyerhöfer, „Kriegserzählungen – Alltäglicher Militarismus für Herz und Verstand“, in: Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung (Hg.), Am Hindukusch und anderswo, Köln 2005, S. 94-105. 

[11] Jonas Nesselhauf, Der ewige Albtraum, Zur Figur des Kriegsheimkehrers in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Paderborn 2018, S. 251f.